Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Mißbrauch von Kindern
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mosbach vom 13. September 1999 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes zu der Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.
I.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte im Sommer 1996 in zwei Fällen sexuelle Handlungen an seiner zur Tatzeit 13 Jahre alten Nichte L. B. vorgenommen. Der erste Vorfall spielte sich in einem im Garten aufgestellten Zelt ab. Dort übernachteten L. B. und die zwei Jahre jüngere Tochter des Angeklagten S.. Die Kinder entdeckten eine Spinne und riefen ängstlich den Angeklagten herbei, der die Spinne beseitigte. Da die Kinder weiter Angst hatten, blieb der Angeklagte über Nacht bei ihnen im Zelt; er legte sich zwischen die Mädchen. In der Folgezeit faßte er L. B. mit der Hand unter dem Schlafanzug an die Scheide. Der zweite Vorfall ereignete sich einige Tage später im Schlafzimmer des Angeklagten, wo dieser – bekleidet mit einer kurzen Hose und einem T-Shirt – auf dem Bett liegend fernsah. L. B. und S. kamen hinzu und legten sich links und rechts neben den Angeklagten aufs Bett. Nach einiger Zeit schickte der Angeklagte S. weg; sie sollte Zigaretten holen. Als der Angeklagte mit L. – die mit einer Unterhose und einem T-Shirt bekleidet war – allein war, zog er das Mädchen auf sich und bewegte es mehrfach mit beischlafähnlichen Bewegungen auf und ab.
2. Der Angeklagte hat die sexuellen Handlungen bestritten. Das Landgericht stützt sich bei seiner Überzeugungsbildung im wesentlichen auf die belastenden Bekundungen L. s. Es hält – in Übereinstimmung mit der Glaubwürdigkeitsgutachterin – die Aussage der Zeugin für glaubhaft.
L. habe zwar das Tatgeschehen nur knapp geschildert; das sei aber auf das in sich gekehrte und ängstliche Wesen der Zeugin zurückzuführen. Für eine zuverlässige Aussageanalyse liege gleichwohl ein hinreichend guter quantitativer Detailreichtum vor. Auch seien die Aussagen der Zeugin seit ihrer Erstaussage gegenüber dem Zeugen B. B., einem weiteren Onkel der Zeugin, konstant geblieben.
Bei der Aussageentstehung sei das ängstliche Wesen der Zeugin zu bedenken. So erkläre sich auch, warum sie die Vorfälle für eine lange Zeit zunächst für sich behalten habe. Erst der Aufruhr, welcher durch den von der Zeugin verübten Diebstahl der Geldbeutel der Töchter des Angeklagten entstanden sei, habe ihr Anlaß und Gelegenheit gegeben, sich über die sexuellen Handlungen zu offenbaren. Den Diebstahl habe sie verübt, um zu erreichen, daß sich ihre Familie und die des Angeklagten entzweien; so habe sie zukünftige Begegnungen mit dem Angeklagten verhindern wollen. Die Aufdeckung des Diebstahls scheide mithin als Motiv für eine Falschbelastung aus. Die sexuellen Handlungen habe die Zeugin nicht deshalb offenbart, um den Diebstahl zu rechtfertigen.
Eine Beeinflussung der Zeugin durch Verwandte schließt die Kammer aus. Dies gelte insbesondere für ihre Tante E., die ihrerseits dem Angeklagten vorwarf, er habe sich vor über 20 Jahren an ihr sexuell vergangen. Auch die Aussagesituation – die starke emotionale Beteiligung der Zeugin in der Hauptverhandlung – spreche für ihre Glaubwürdigkeit. Schließlich sei die Zeugin hinreichend aussagetüchtig, und es sei höchst unwahrscheinlich, daß sie derartige Angaben erfinden könne.
Der Entlastungsaussage von S. glaubt das Landgericht nicht. Diese hatte bekundet, der Angeklagte habe in beiden Fällen nicht in der Mitte, sondern neben ihr gelegen. Von sexuellen Handlungen habe sie nichts bemerkt, auch sei sie nicht aus dem Schlafzimmer zum Zigarettenholen gegangen. Zwar habe S. auch B. B. gegenüber, der sie auf die Übernachtungen angesprochen hatte, die Vorgänge so geschildert. Diese „Aussagekonstanz” führe indes nicht zur Glaubhaftigkeit ihrer Aussage, denn S. habe sich schon vor der ersten Befragung durch B. B. mit den Vorwürfen auseinandersetzen können. Aufgrund einer Frage L. s an sie nach der Übernachtung im Zelt, was es mit der Berührung der Scheide auf sich habe, hätte S. geahnt, was in jener Nacht vor sich gegangen sein mußte.
II.
1. Anklage und Eröffnungsbeschluß sind wirksam; insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in der Antragsschrift Bezug genommen.
2. Das angefochtene Urteil enthält durchgreifende Beweiswürdigungsfehler. In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung im wesentlichen davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, daß der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr., vgl. nur BGH NStZ-RR 1999, 108).
a) So ist es in Fällen der vorliegenden Art in aller Regel erforderlich, die Entstehung und Entwicklung der Aussage aufzuklären (BGH, Urteil vom 17. August 1999 – 1 StR 293/99 -; BGHSt 45, 164; BGH NStZ 1995, 558; NStZ 1996, 295; StV 1998, 250; StV 1999, 307; NStZ-RR 1999, 108). Das gilt vor allem dann, wenn ein Zusammenhang mit familiären Auseinandersetzungen nicht von vornherein auszuschließen ist (BGH NStZ 1999, 45). Wenn zudem – was hier ersichtlich der Fall ist – vor Beginn der strafrechtlichen Ermittlungen „private Befragungen” zu den Tatvorwürfen erfolgt sind, so ist der Beweiswert belastender Angaben – insbesondere vor dem Hintergrund familiärer Auseinandersetzungen und bei dem Kind möglicherweise geweckter Erwartungen zum Inhalt seiner Aussage – besonders kritisch zu prüfen. Zur erforderlichen Gesamtwürdigung aller Umstände, die die Entscheidung zu beeinflussen geeignet sind, sind die Erkenntnisquellen zur Aussageentstehung auszuschöpfen (vgl. BGH NStZ 1995, 558). In solchen Fällen ist auch die Aussagemotivation kritisch zu prüfen (vgl. BGHSt 45, 164).
b) Diesen erhöhten Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
aa) Die Aussageentstehung ist nur sehr knapp geschildert, wenn es heißt, erst der Aufruhr, welcher durch das Verschwinden der Geldbeutel entstanden war, habe L. Anlaß und Gelegenheit gegeben, sich zu offenbaren. Der Zeitpunkt des „Aufruhrs” und die Umstände der Strafanzeige werden nicht mitgeteilt. Eher beiläufig erfährt man, daß die Zeugin die „Erstaussage” gegenüber ihrem Onkel B. B. gemacht hat. Wie es zu der Erstaussage – vor allem im Zusammenhang mit dem Anlaß „Diebstahlsvorwurf innerhalb der Familie” – gekommen ist, wird pauschal damit wiedergegeben, daß B. B. den Hintergrund der ersten Äußerungen beschrieben habe (UA S. 8). Der Inhalt jener Erstaussage – auf deren Konstanz mit späteren Aussagen das Landgericht abhebt – wird nicht einmal im Aussagekern wiedergegeben.
Das Landgericht begründet nicht näher, warum die Schilderung der Zeugin glaubhaft sei, sie habe mittels des Diebstahls die Familien entzweien und dadurch weitere sexuelle Übergriffe verhindern wollen. Die Revision beanstandet zu Recht, daß das Zwietrachtmotiv schon deshalb nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist, weil die Zeugin den Diebstahl ersichtlich erst nach dem „Aufruhr” zwischen den Familien offenbart hat. Schon deshalb konnte der Ausschluß des Falschbelastungsmotivs „Rechtfertigung für den Diebstahl” nicht allein mit der Persönlichkeit der Zeugin begründet werden.
bb) Da der wesentliche Inhalt der – hier entscheidungserheblichen – Erstaussage nicht mitgeteilt wird, ist auch die Begründung der Glaubhaftigkeit mit der Aussagekonstanz (im Kerngeschehen, vgl. BGH NStZ 2000, 217) einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht zugänglich. Zudem waren die rechtsfehlerfrei festgestellten (siehe unten) Bekundungen der Zeugin zum Kerngeschehen offenbar nicht so detailliert, daß die angenommene Widerspruchsfreiheit (UA S. 9) hinreichend aussagekräftig ist. In diesem Zusammenhang wäre zudem zu erörtern gewesen, inwieweit die Aussage der Zeugin zum Kern des Geschehens durch intensive „private Befragungen” im Familienkreis beeinflußt und die „Erinnerung” der Zeugin durch nachfolgende Informationen „überschrieben” wurde.
cc) In diesem Fall wäre auch eine Aussageanalyse anhand von Realitätskriterien wenig aussagekräftig (BGHSt 45, 164). Hinzu kommt, daß die Zeugin das (sexuelle) Kerngeschehen – jedenfalls nach der Darstellung im Urteil – keineswegs signifikant detailreich geschildert hat. Die Erwähnung der Spinne ist zwar ein außerordentlich originelles Detail, auch im Zusammenhang mit dem Anlaß für das Übernachten des Angeklagten, allerdings ist es nicht untrennbar mit dem sexuellen Kerngeschehen verflochten. Dem Urteil lassen sich als einzige tatbezogene Glaubwürdigkeitskriterien „eigene psychische Vorgänge” und „vermutete psychische Vorgänge des Angeklagten während des Tatgeschehens” entnehmen; diese werden aber nicht näher beschrieben. Ob das geschilderte Gespräch zwischen der Zeugin und S. nach der Nacht im Zelt (UA S. 4) – ein signifikantes Gesprächskennzeichen – tatsächlich und auch mit diesem Inhalt stattgefunden hat, wird keiner Beweiswürdigung unterzogen (UA S. 8 einerseits und UA S. 10 andererseits).
dd) Da schon diese Erörterungs- und Begründungsmängel zur Aufhebung des Urteils führen müssen, kommt es nicht mehr darauf an, ob die Beanstandung der Revision zutrifft – was auch der Generalbundesanwalt annimmt –, bei der Würdigung der Aussage S. s im Zusammenhang mit diesem Gespräch liege ein Zirkelschluß vor.
Unterschriften
Maul, Granderath, Nack, Boetticher, Schluckebier
Fundstellen
Haufe-Index 539982 |
NStZ 2000, 496 |
StV 2001, 551 |