Verfahrensgang
LG Ravensburg (Urteil vom 25.01.2017) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 25. Januar 2017 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist.
2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren und zehn Monaten verurteilt und von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es gemäß § 349 Abs. 2 StPO unbegründet.
Rz. 2
Die Nichtanordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil zu besorgen ist, dass das Landgericht rechtsfehlerhaft von einem zu engen Verständnis eines Hanges im Sinne des § 64 StGB ausgegangen ist.
Rz. 3
1. Der vom Landgericht beauftragte Sachverständige hat bei dem Angeklagten einen Missbrauch im Sinne eines schädlichen Gebrauchs von Alkohol diagnostiziert, der die Schwelle zum Abhängigkeitssyndrom (noch) nicht erreiche. Im Falle des Aufstauens unverarbeiteter Eindrücke bewirke der Alkohol bei ihm eine Mobilisierung der Gefühle. Dies begründe eine hohe Affinität des Angeklagten zu Alkohol. Unter Alkoholeinfluss zeigten sich bei ihm wesensfremde aggressive Verhaltensweisen, über die er sich auch durchaus im Klaren sei. Der Angeklagte konsumiere regelmäßig an den Wochenenden Alkohol. Bei ihm bestehe bereits eine deutliche Toleranzentwicklung bezüglich alkoholbedingter Auswirkungen; diese setze sich allerdings nicht bis in höchste Konsumbereiche fort, sondern verbleibe im Bereich einer Alkoholisierung zwischen 1,5 und 2 Promille. Es fehle außerdem an einem überdauernden starken Suchtdruck und einer ausgeprägten Einengung des eigenen Interessenbereichs. Die zentralen Lebensbereiche des Angeklagten – Arbeit, Fußball und Führerschein – würden nicht von seinem Alkoholkonsum dominiert. Bemerkenswert sei auch seine Fähigkeit, den Alkoholkonsum in diesen Bereichen zu begrenzen und so auch über längere Zeiträume hinweg abstinent zu bleiben. Dennoch spiele der Alkohol im Leben des Angeklagten eine wichtige Rolle. Eine Grundbereitschaft zur Abstinenz bestehe trotz negativer Erfahrungen und aggressiver Verhaltensweisen nicht. Zu Abstinenzphasen komme es nur dann, wenn der Angeklagte bestimmte Ziele verfolge, die ihm wichtiger als der Alkoholkonsum seien (UA S. 17-18). Zwar habe der Alkoholkonsum keinerlei Auswirkungen auf die Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Angeklagten gehabt. Allerdings sei die Tat ohne die Alkoholisierung des Angeklagten nicht vorstellbar und widerspreche seinem übrigen bürgerlichen Lebensentwurf. Vor dem Hintergrund seiner Persönlichkeit, seiner hohen Affinität zu Alkohol, der Wirkung von Alkohol auf ihn und seiner Weigerung, dauerhaft auf Alkohol verzichten zu wollen, insbesondere trotz bürgerlicher Sozialisation, sozialer Ächtung und strafrechtlicher Konsequenzen, lägen die Voraussetzungen einer sozialen Gefährlichkeit vor (UA S. 45).
Rz. 4
2. Gleichwohl hat das Landgericht – entgegen der Einschätzung des Sachverständigen – von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB abgesehen, weil es einen übermäßigen Konsum von alkoholischen Getränken durch den Angeklagten nicht festzustellen vermochte. Insbesondere sei der Angeklagte in Anbetracht der konkreten Umstände weder sozial gefährdet noch gefährlich. Seine Neigung zu wesensfremdem und aggressivem Verhalten unter Alkoholeinfluss begründe seine soziale Gefährlichkeit nicht. Er sei auch im alkoholisierten Zustand in der Lage gewesen, „seine Aggressionen gezielt zu steuern” und habe zu keinem Zeitpunkt Freunde oder Mannschaftsmitglieder attackiert und daher nicht haltlos und vollkommen unberechenbar agiert (UA S. 48).
Rz. 5
3. Diese Ausführungen sind infolge eines zu engen Verständnisses eines Hanges im Sinne des § 64 StGB nicht frei von Rechtsfehlern.
Rz. 6
a) Für einen Hang ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln im Sinne des § 64 StGB ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betreffende auf Grund seiner psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2015 – 1 StR 415/15; Urteile vom 10. November 2004 – 2 StR 329/04, NStZ 2005, 210 und vom 15. Mai 2014 – 3 StR 386/13, NStZ-RR 2014, 271). Insoweit kann dem Umstand, dass durch den Rauschmittelkonsum bereits die Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betreffenden erheblich beeinträchtigt ist, zwar indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hanges zukommen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. April 2008 – 4 StR 56/08, NStZ-RR 2008, 198 und vom 14. Dezember 2005 – 1 StR 420/05, NStZ-RR 2006, 103). Wenngleich solche Beeinträchtigungen in der Regel mit übermäßigem Rauschmittelkonsum einhergehen werden, schließt deren Fehlen jedoch nicht notwendigerweise die Annahme eines Hanges aus (BGH, Beschlüsse vom 1. April 2008 – 4 StR 56/08, NStZ-RR 2008, 198; vom 2. April 2015 – 3 StR 103/15; vom 12. Januar 2017 – 1 StR 604/16, NStZ-RR 2017, 198 und vom 26. Januar 2017 – 1 StR 646/16, NStZ-RR 2017, 239).
Rz. 7
b) Die Ausführungen des Landgerichts zum Hang begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat hier die Anforderungen an das Vorliegen einer sozialen Gefährlichkeit des Angeklagten überspannt. Soziale Gefährlichkeit liegt typischerweise im Falle von Beschaffungskriminalität vor, ist hierauf jedoch nicht beschränkt. Denn es kommen auch andere Delikte als solche der Beschaffungskriminalität als Hangtaten in Betracht, wenn sich in ihnen die hangbedingte besondere Gefährlichkeit des Täters zeigt (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 10. November 2015 – 1 StR 482/15, NStZ-RR 2016, 113 mwN). Vor diesem Hintergrund hätte die hohe Alkoholaffinität des Angeklagten und seine signifikant gesteigerte Aggressionsbereitschaft schon bei mittleren Alkoholmengen berücksichtigt werden müssen und zwar auch dann, wenn der Angeklagte zu längeren Abstinenzintervallen in der Lage ist. Er ist ausweislich der landgerichtlichen Feststellungen unter Alkoholeinfluss bereits zweimal strafrechtlich in Erscheinung getreten und hat darüber hinaus mehrere tätliche Übergriffe unter anderem zum Nachteil seiner Eltern begangen.
Rz. 8
4. Den getroffenen Feststellungen ist auch nicht zu entnehmen, dass die übrigen Voraussetzungen für die Anordnung der Maßregel nicht gegeben sind. Insoweit ist der Sachverständige vielmehr zu dem Ergebnis gekommen, dass die übrigen Voraussetzungen des § 64 StGB aus forensisch-psychiatrischer Sicht zweifelsfrei vorlägen (UA S. 45).
Rz. 9
5. Die im Hinblick auf die Nichtanordnung der Maßregel getroffenen Feststellungen waren mit aufzuheben (§ 353 Abs. 2 StPO), denn infolge des rechtsfehlerhaften Verständnisses zum Hangbegriff sind die dazu getroffenen Feststellungen ihrerseits nicht tragfähig.
Rz. 10
6. Das Verschlechterungsverbot steht einer Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht entgegen (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; BGH, Beschlüsse vom 26. Januar 2017 – 1 StR 646/16, NStZ-RR 2017, 239 und vom 25. November 2015 – 1 StR 379/15, NStZ-RR 2016, 113; Urteil vom 10. April 1990 – 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5, 9).
Unterschriften
Raum, Graf, Radtke, Bär, Hohoff
Fundstellen
Haufe-Index 11273098 |
NStZ-RR 2017, 370 |
StV 2019, 261 |