Verfahrensgang
LG Karlsruhe (Urteil vom 29.01.2003) |
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 29. Januar 2003 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Tatbestand
Der Angeklagte wurde wegen Vergewaltigung in vier Fällen, gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt.
Seine auf eine Verfahrensrüge und die zum Strafausspruch näher ausgeführte Sachrüge gestützte Revision bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).
I.
Folgendes ist festgestellt:
Opfer sämtlicher Taten ist die Ehefrau des Angeklagten. Sie hat 1978 mit 14 Jahren den damals 18jährigen Angeklagten geheiratet. Sie war schon mit acht Jahren als Waise in die Familie des Angeklagten gekommen, die damals in einem Dorf an der türkisch/syrischen Grenze lebte. Seit sie etwa neun Jahre alt war, übte der Angeklagte gegen ihren Willen häufig und in für sie schmerzhafter Weise Geschlechtsverkehr mit ihr aus. Weder die Eheschließung noch die 1992 erfolgte Übersiedlung in die Bundesrepublik änderten etwas; sexuelle Handlungen machten ihm „mehr Spaß, wenn er dabei Gewalt ausüben mußte”. Die ehelichen Beziehungen waren nicht nur dementsprechend von sexueller Gewalt, sondern darüber hinaus auch von sonstigen gewalttätigen Mißhandlungen – z.B. Schlägen, auch mit gefährlichen Werkzeugen oder Tritten – und schwerwiegenden Bedrohungen, z.B. sie umzubringen, gekennzeichnet. Auch seine Kinder wurden häufig von ihm mißhandelt. Die ganze Familie „lebte in einem Klima ständiger Angst und Einschüchterung”. Zuletzt flüchtete die Ehefrau in eine andere Stadt, wo ihr der Angeklagte auf offener Straße mit einem Messer zahlreiche, vielfach tiefe, Schnittverletzungen zufügte, im Gesicht in der Nähe der Augen ebenso wie am übrigen Körper.
Entscheidungsgründe
II.
Zur Verfahrensrüge:
1. Auf dieser Grundlage erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen einiger besonders markanter Vorfälle und stellte im übrigen das Verfahren hinsichtlich sämtlicher weiterer Delikte – hauptsächlich Sexualdelikte und Mißhandlungen zum Nachteil der Ehefrau, aber auch wegen Vergewaltigung einer Tochter, sowie wegen Verletzungen und Mißhandlungen der (offenbar fünf) Kinder – ein. Gestützt ist dies hinsichtlich solcher Taten, die vor bestimmten, näher dargelegten Zeitpunkten liegen, auf Verjährung, im übrigen auf § 154 Abs. 1 StPO.
2. Die Revision macht geltend, die Strafkammer hätte, ohne auf diese Möglichkeit zuvor hinzuweisen, die gemäß § 154 Abs. 1 StPO eingestellten Taten bei der Beweiswürdigung und bei der Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt.
Sie konkretisiert dies damit, daß die Strafkammer von einem Klima der Angst und Einschüchterung in der Familie ausgegangen sei (vgl. oben I). Außerdem habe sie eine Bestätigung der Glaubwürdigkeit der Aussage der Ehefrau unter anderem auch darin gesehen, daß ein Sohn deren in diesem Punkt nicht zum Gegenstand der Anklage gewordenen Schilderung bestätigt habe, der Angeklagte habe einmal versucht, sie mit kochendem Wasser zu begießen.
3. Die Rüge bleibt erfolglos:
a) Hinsichtlich des Vorfalls mit dem kochenden Wasser ist schon entgegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht mitgeteilt, wann er stattgefunden hat oder haben soll. Wie dargelegt (II 1), sind nämlich weite Teile des innerfamiliären Geschehens wegen Verjährung nicht verfolgt worden. Eine Notwendigkeit, auf die Verwertbarkeit prozeßordnungsgemäß festgestellten, wegen Verjährung aber nicht verfolgbaren Geschehens hinzuweisen, besteht nicht:
Soweit ein Hinweis zur Verwertung von gemäß §§ 154, 154a StPO eingestellten Geschehens erforderlich ist, beruht dies darauf, daß anderenfalls das Verhalten der Justiz widersprüchlich und daher mißverständlich erscheinen kann (vgl. zusammenfassend Beulke in Löwe/Rosenberg StPO 24. Aufl. § 154 Rdn. 56 ff., 61 m.w.N.). Einerseits wird der insoweit bestehende weite Beurteilungsspielraum (vgl. hierzu Schoreit in KK 5. Aufl. § 154 Rdn. 19, 25 m.N.) dahin genutzt, bestimmte Vorgänge oder rechtliche Gesichtspunkte nicht abzuurteilen, obwohl dies an sich möglich wäre, andererseits werden diese Gesichtspunkte oder Vorgänge in anderem Zusammenhang dann aber doch berücksichtigt. Demgegenüber folgt zwingend aus dem Gesetz, daß eine Bestrafung wegen verjährten Geschehens nicht möglich ist; ein Beurteilungsspielraum besteht insoweit nicht. Anders als bei einem Vergehen gemäß §§ 154, 154a StPO kann eine Einstellung wegen Verjährung nicht Grundlage eines nur durch einen Hinweis zu beseitigenden Mißverständnisses sein, verjährte Taten blieben in jeder Hinsicht unberücksichtigt (im Ergebnis ebenso Eisenberg, Beweisrecht der StPO 4. Aufl. Rdn. 412 f., 416).
b) Ob ein Klima von Angst und Einschüchterung nur auf der Grundlage der Feststellung von konkreten Straftaten bejaht werden kann – und hier bejaht worden ist – ist schon im Ansatz zweifelhaft. Der Senat braucht dem aber nicht näher nachzugehen. Schon allein die abgeurteilten, sich über mehrere Jahre hinziehenden rohen und zum Teil vor Zeugen begangenen Taten (z.B. schlug der Angeklagte einmal seine Frau mit einer Mineralwasserflasche zu Boden, einmal schlug und trat er auf dem Balkon so lange auf sie ein, bis Nachbarn mit der Polizei drohten) tragen ohne weiteres die Annahme eines Klimas von Angst und Einschüchterung.
c) Von alledem abgesehen war hier der von der Revision vermißte Hinweis aber auch sonst nicht geboten. Ein Hinweis auf die Verwertbarkeit von Feststellungen der in Rede stehenden Art ist entbehrlich, wenn die Gefahr eines Mißverständnisses (II 3a) – ein „Vertrauenstatbestand” – nicht besteht. Ein Vertrauen kann nur verletzt sein, wo es zuvor geschaffen wurde, wo also der Angeklagte in eine Lage versetzt wurde, die sein Verteidigungsverhalten beeinflußt hat und bei verständiger Einschätzung der Verfahrenslage auch beeinflussen konnte (st. Rspr., vgl. nur BGHR StPO § 154 Abs. 1 Hinweispflicht 1, StPO § 154 Abs. 2 Hinweispflicht 2, 3, 4 m. zahlr. N.). Es lassen sich insoweit keine starren Regeln aufstellen, maßgeblich sind die Umstände des jeweiligen Verfahrens (vgl. BGHR StPO § 154 Abs. 1 Hinweispflicht 1).
(1) Eine rein isolierte Betrachtung der einzelnen Geschehnisse würde offensichtlich weder den Taten noch dem Angeklagten gerecht. Dem entspricht im übrigen auch, daß auch die Revision – in ihren Ausführungen zum Strafausspruch – die nach ihrer Auffassung gebotene Bewertung des Eheverlaufs („kein jahrelanges Martyrium”) und der Situation des Angeklagten innerhalb der Familie („Machtstellung als Familienoberhaupt sichern”) im einzelnen darlegt. Jedenfalls wäre ein Vertrauen darauf, daß das Gericht mit einer isolierten Bewertung einen erkennbar unzulänglichen Maßstab anlegt, selbst dann, wenn es bestanden haben sollte, nicht geschützt.
(2) Hinzu kommt, daß sowohl die Ehefrau als auch fünf Kinder als Zeugen zu den innerfamiliären Verhältnissen und Geschehnissen – auch über die angeklagten Taten hinaus – angehört wurden, wie auch die Revision ausführt.
Schon durch diesen Umfang der Beweisaufnahme war daher für jeden Verfahrensbeteiligten offenkundig, daß die in Rede stehenden Gesichtspunkte von erheblichem Gewicht gerade auch für die Bewertung des Tatgeschehens selbst waren. (Auch) deshalb kann keine Rede davon sein, die Strafkammer habe einen entgegenstehenden Vertrauenstatbestand geschaffen (BGH aaO).
(3) Hinzu kommt das Verteidigungsverhalten des Angeklagten: Der Verteidiger hat eine in den Urteilsgründen wiedergegebene schriftliche Erklärung abgegeben, die in der Hauptverhandlung verlesen wurde und die der Angeklagte „ausdrücklich als eigene Erklärung genehmigt hat”. Sie befaßt sich näher mit der Messerattacke auf der Straße (vgl. I) und führt im übrigen eher pauschal aus, der Angeklagte habe „auch wegen Kleinigkeiten oft viel zu heftig reagiert” und es sei „eine sehr unzufriedene Situation in der ganzen Familie” gewesen. Weitere Angaben hat der Angeklagte nicht gemacht.
Mit dem Vorbringen der Revision, wenn erkennbar gewesen sei, daß das Gericht von einem Klima der Angst und Einschüchterung ausgehen könnte, wären zahlreiche (nicht näher genannte) Zeugen für das Gegenteil benannt worden, wird unter diesen Umständen nicht aufgezeigt, daß „bei verständiger Einschätzung” (BGH aaO) im Hinblick auf die Nichtverfolgung einzelner Taten das Verteidigungsverhalten beeinflußt gewesen sein könnte.
Auch das Vorbringen der Revision, im Falle des von ihr vermißten Hinweises wäre eine Zustimmung zur Verlesung (nicht näher dargelegter) ärztlicher Atteste nicht erteilt worden, sondern es wäre auf dem Erscheinen der Ärzte bestanden worden, vermag die Möglichkeit einer erfolgversprechenden anderweitigen Verteidigung ebenfalls nicht zu verdeutlichen.
Die genannte Erklärung des Angeklagten ist überwiegend pauschal gehalten. Ein Bestreiten der Vorwürfe – mit Ausnahme des dem Angeklagten zur Last gelegten Vorwurfs eines versuchten Tötungsverbrechens bei der Messerattacke – und insbesondere die Behauptung, die Ehefrau (oder die Kinder) hätten in irgendeinem Punkt die Unwahrheit gesagt, kann ihr aber nicht einmal ansatzweise entnommen werden.
Auch deshalb ist nicht erkennbar, daß der Angeklagte darauf vertraut und sein Verteidigungsverhalten darauf eingerichtet haben könnte, daß das Gericht bei der Bewertung der Aussage speziell den Vorgang mit dem kochenden Wasser (oder irgendein anderes strafbares, aber nicht abgeurteiltes Geschehen) außer Betracht läßt.
d) Ob die Urteilsgründe, wie die Revision meint, überhaupt ergeben, daß die in Rede stehenden Gesichtspunkte auch bei der Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt wurden – ausdrücklich ist dies jedenfalls nicht der Fall – kann offen bleiben, da dies aus den genannten Gründen ebenfalls rechtlich unbedenklich wäre.
e) Die Revision, die ausdrücklich rügt, daß hinsichtlich der gemäß § 154 Abs. 1 StPO eingestellten Vorgänge kein Hinweis erteilt worden sei, schildert auch, daß hinsichtlich weiterer Sexualdelikte und Mißhandlungen der Ehefrau der Verfahrensstoff in der Hauptverhandlung gemäß § 154 Abs. 2 StPO und § 154a Abs. 2 StPO beschränkt wurde. Sie führt aus, daß auch in solchen Fällen ein – hier unterbliebener – Hinweis Voraussetzung für eine Verwertbarkeit sei, im Vergleich mit dem von ihr vermißten Hinweis sei er „aber nicht so wichtig”. Ob damit auch im Zusammenhang mit den Vorgängen in der Hauptverhandlung eine Verfahrensrüge erhoben sein soll, erscheint fraglich, mag aber dahinstehen, da auch sie aus den bereits genannten Gründen erfolglos bliebe.
III.
Zur Sachrüge:
1. Der Schuldspruch ist ohne den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler.
2. Hinsichtlich des Strafausspruchs nimmt der Senat auf die durch die Revisionserwiderung (§ 349 Abs. 3 Satz 2 StPO) nicht entkräfteten Ausführungen des Generalbundesanwalts Bezug und bemerkt ergänzend:
Die Strafkammer war aus Rechtsgründen nicht gehalten, die – im übrigen nicht näher mit Tatsachen belegte – Auffassung des zur Schuldfähigkeit des Angeklagten gehörten Sachverständigen, im „Herkunftsmilieu des Angeklagten (gebe es eine) weit verbreitete Geringschätzung gegenüber weiblichen Personen” als erörterungsbedürftigen Strafmilderungsgrund anzusehen (vgl. BGH, Beschluß vom 22. Dezember 1998 – 3 StR 587/98; Tröndle/Fischer StGB 51. Aufl. § 46 Rdn. 43a; in vergleichbarem Sinne ders. aaO § 211 Rdn. 14 jew. m.w.N.). Für den Gesichtspunkt, daß der Angeklagte gewaltsam seine „Machtstellung als Familienoberhaupt” aufrecht erhalten wollte, gilt nichts anderes (vgl. Tröndle/Fischer aaO m.w.N.).
Unterschriften
Nack, Wahl, Boetticher, Kolz, Elf
Fundstellen
Haufe-Index 2558519 |
NStZ 2004, 277 |
ZAP 2004, 114 |