Verfahrensgang
LG Göttingen (Urteil vom 23.06.2011) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Göttingen vom 23. Juni 2011 gemäß § 349 Abs. 4 StPO
- im Schuldspruch dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte des zweifachen versuchten Totschlags in Tateinheit mit zweifacher gefährlicher Körperverletzung und mit schwerer Körperverletzung sowie der gefährlichen Körperverletzung schuldig ist,
- im gesamten Strafausspruch mit den zugehörigen Fest-stellungen aufgehoben.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchtem Totschlag, schwerer Körperverletzung und gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen” und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt und die in Mazedonien erlittene Freiheitsentziehung im Verhältnis 1: 2 auf die verhängte Freiheitsstrafe angerechnet. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Rz. 2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts stach der zur Tatzeit „fast 21 Jahre alte” Angeklagte die Nebenklägerin W., mit der ihn eine intime Beziehung verband, im Rahmen eines nächtlichen Streits zunächst in den Oberarm. Als der sechsjährige Sohn J. der Nebenklägerin aus dem Schlaf erwachte und sofort in die Auseinandersetzung eingriff, stach der Angeklagte zweimal „mit Wucht” in den Rücken des Jungen. Unmittelbar darauf wandte sich der Angeklagte wieder der Nebenklägerin zu und stach auf sie ein. Die Nebenklägerin und ihr Sohn erlitten akut lebensbedrohliche Verletzungen; das Kind ist seit dem Angriff querschnittsgelähmt.
Rz. 3
2. Die auf die Sachrüge und Verfahrensrügen gestützte Revision des Angeklagten führt zur Abänderung des Schuldspruchs. Die Würdigung des Landgerichts, der Angeklagte habe bei dem Einstechen auf J. heimtückisch im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB gehandelt, hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Rz. 4
a) Die Annahme des Mordmerkmals der Heimtücke setzt voraus, dass der Täter die von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 4. Mai 2011 – 5 StR 65/11, NStZ 2011, 634 Rn. 9, vom 26. November 2011 – 3 StR 326/11, Rn. 4, jeweils mwN). Dafür ist erforderlich, dass er die Umstände, welche die Tötung zu einer heimtückischen machen, nicht nur in einer äußerlichen Weise wahrgenommen, sondern in dem Sinne in ihrer Bedeutung für die Tatbegehung erfasst hat, dass ihm bewusst geworden ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen. Wenn auch nicht jede affektive Erregung oder heftige Gemütsbewegung einen Täter daran hindert, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tatbegehung zu erkennen, so kann doch insbesondere die Spontanität des Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Tat und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein, dass ihm das Ausnutzungsbewusstsein fehlte. Deshalb bedarf es in solchen Fällen in aller Regel der Darlegung von Beweisanzeichen aus denen das Tatgericht folgert, dass der Täter trotz seiner Erregung die für die Heimtücke maßgebenden Gesichtspunkte in sein Bewusstsein aufgenommen hat (BGH aaO).
Rz. 5
b) Den sich hieraus ergebenden Anforderungen an eine umfassende Beweiswürdigung genügen die Urteilsgründe nicht. Dabei kann dahinstehen, ob das Kind im Zeitpunkt des Angriffs überhaupt arglos war. Das Landgericht kehrt bei der Prüfung des Ausnutzungsbewusstseins die oben dargelegte Begründungslast gleichsam um, indem es angesichts der Erregung und Alkoholisierung des Angeklagten und der Spontanität seiner ohne feststellbares Motiv begangenen Tat zusätzlich positive Anzeichen dafür verlangt, dass er die für die Heimtücke maßgeblichen Umstände nicht in sein Bewusstsein aufgenommen habe. Es setzt sich dabei auch nicht mit der über eine bloße Spontanität hinausgehenden irrationalen Reflexartigkeit der Reaktion des Angeklagten auf das gegen ihn gerichtete Verhalten des Kindes auseinander: Die Tat erfolgte entsprechend den Feststellungen aufgrund eines vom vorgestellten Tatplan abweichenden, innerhalb weniger Augenblicke gefassten und sofort umgesetzten Entschlusses gegen ein Opfer, das an der vorausgegangenen Auseinandersetzung nicht beteiligt war und für das der Angeklagte in der Vergangenheit im Rahmen seines Zusammenlebens mit der Nebenklägerin Verantwortung übernommen hatte. Angesichts dessen spricht nichts dafür, dass der Angeklagte die etwa gegebene Arglosigkeit des Kindes bewusst ausnutzte, um einen tödlichen Angriff zu führen. Das festgestellte rasche Verbergen des Messers vor dem aufwachenden Kind ist vom Landgericht zu Recht nicht bei der Feststellung des Ausnutzungsbewusstseins verwertet worden; es war naheliegend nicht davon motiviert, das Kind in Sicherheit zu wiegen, um diese für einen tödlichen Angriff auszunutzen.
Rz. 6
3. Der Senat ändert den Schuldspruch entsprechend ab. Er schließt aus, dass in einer neuen Hauptverhandlung Feststellungen getroffen werden könnten, die das Tatbestandsmerkmal der Heimtücke oder andere Mordmerkmale tragen würden, wie sie das Landgericht bislang rechtsfehlerfrei ausgeschlossen hat. Von dem zum Tatzeitpunkt erst sechsjährigen, durch die Tat schwer verletzten Nebenkläger ist keine weitere Aufklärung des mittlerweile drei Jahre zurückliegenden Tatgeschehens zu erwarten. Dasselbe gilt, nicht zuletzt angesichts ihres psychischen Zustands im Zeitpunkt der Hauptverhandlung, auch für die Nebenklägerin. Der Angeklagte selbst hat sich dahingehend eingelassen, sich an das eigentliche Tatgeschehen nicht erinnern zu können. Weitere Beweismittel sind nicht ersichtlich.
Rz. 7
4. Die Änderung des Schuldspruchs hat – ungeachtet des gleichwohl außerordentlich schweren Gewichts der Tat – die Aufhebung des gesamten Strafausspruchs zur Folge. Der Senat gibt dem neuen Tatgericht damit die Möglichkeit einer erneuten umfassenden Überprüfung der Anwendbarkeit von Jugendstrafrecht (§ 105 JGG) auf die Taten des heranwachsenden Angeklagten. In diesem Zusammenhang weist er auf Folgendes hin: Das Landgericht hat sich – was der Senat aufgrund einer entsprechenden zulässigen Aufklärungsrüge zu überprüfen hatte – bei der Feststellung der Reife des Angeklagten nicht mit dem der Beurteilung durch den Sachverständigen in der Hauptverhandlung entgegenstehenden schriftlich erstellten Gutachten vom 12. Oktober 2010 desselben Sachverständigen auseinandergesetzt; dies wäre indes erforderlich gewesen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Dezember 1989 – 4 StR 630/89, NStZ 1990, 244). Auch die Frage uneingeschränkter Schuldfähigkeit bedarf erneuter tatgerichtlicher Überprüfung.
Rz. 8
5. Über den Hilfsbeweisantrag durfte das Landgericht erst im Urteil entscheiden (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 244 Rn. 44a mwN).
Unterschriften
Basdorf, Raum, Schaal, Schneider, Bellay
Fundstellen
Haufe-Index 2968014 |
NStZ 2012, 6 |
NStZ 2012, 693 |