Leitsatz (amtlich)
Eine Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist kann den Anspruch des Antragstellers auf rechtliches Gehör verletzen und die Zulassung der Rechtsbeschwerde begründen.
Normenkette
ZPO § 234
Verfahrensgang
OLG Hamburg (Beschluss vom 08.11.2017; Aktenzeichen 14 U 114/17) |
LG Hamburg (Entscheidung vom 13.07.2017; Aktenzeichen 319 O 75/17) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des 14. Zivilsenats des OLG Hamburg vom 8.11.2017 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 14.122,43 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Ersatz des Schadens aus einem Verkehrsunfall in Anspruch. Das LG hat die Klage abgewiesen. Gegen das am 22.8.2017 zugestellte Urteil hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin rechtzeitig Berufung eingelegt. Nach Hinweis des Vorsitzenden des Berufungsgerichts, dass eine Berufungsbegründung nicht eingegangen sei und die Berufung als unzulässig verworfen werden müsste, hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz vom 2.11.2017 zunächst Fristverlängerung um einen Monat, mit Schriftsatz vom 3.11.2017 dann wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
Rz. 2
Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin ausgeführt, er sei spätestens seit dem 17.10.2017 wegen einer akuten Lumboischialgie derart arbeitsunfähig gewesen, dass er nur noch unter starken Schmerzen und Einnahme von Schmerzmitteln täglich maximal zwei bis drei Stunden seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt habe nachgehen können. Er sei daher nicht in der Lage gewesen, sich sachgemäß in den Sach- und Rechtsstand der Berufungsangelegenheit einzuarbeiten und eine zweckmäßige Berufungsbegründung anzufertigen. Erst ab dem 2.11.2017 sei er wieder in der Lage gewesen, sich der Angelegenheit zu widmen.
Rz. 3
Mit Beschluss vom 8.11.2017 hat das Berufungsgericht die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt und die Berufung wegen nicht rechtzeitiger Berufungsbegründung als unzulässig verworfen. Zur Begründung der Ablehnung der Wiedereinsetzung hat es ausgeführt, die Darlegung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin reiche für eine Wiedereinsetzung nicht aus. Es könne zwar sein, dass der Prozessbevollmächtigte nicht in der Lage gewesen sei, konzentriert an einer Berufungsbegründung zu arbeiten. Erforderlich und ausreichend wäre aber gewesen, rechtzeitig einen Fristverlängerungsantrag zu stellen, um so das Verstreichen der Berufungsbegründungsfrist zu verhindern. Die zur Verfügung stehende Arbeitszeit habe der Prozessbevollmächtigte vornehmlich für eine Fristenkontrolle und zur Abwendung nicht reparabler Fristversäumnisse aufwenden müssen.
Rz. 4
Gegen diesen Beschluss wendet sich die Klägerin mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Rz. 5
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Indem das Berufungsgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen hat, hat es den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung i.S.v. § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO erfordert eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts.
Rz. 6
1. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinn gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung jedes Schriftsatzes, der innerhalb einer gesetzlichen oder richterlich bestimmten Frist bei Gericht eingeht (BVerfGE 53, 219, 222). Danach darf das Gericht über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden; dabei ist unerheblich, ob es die Sache für entscheidungsreif hält, weil der Antragssteller innerhalb der Frist zu den Wiedereinsetzungsgründen ergänzend vortragen kann und darf (vgl. BGH v. 29.11.2016 - VI ZB 27/15, NJW 2017, 1111 Rz. 5; BGH, Beschl. v. 17.2.2011 - V ZB 310/10, NJW 2011, 1363 Rz. 4).
Rz. 7
2. Gegen diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verstoßen. Das Berufungsgericht hat sich in zivilprozessual unzulässiger Weise der Möglichkeit begeben, Vortrag zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen, da es vor Fristablauf einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beschieden hat. Die Frist zur Beantragung der Wiedereinsetzung beträgt nach § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO einen Monat, wenn die Partei verhindert ist, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten. Sie beginnt mit dem Tag, an dem das Hindernis behoben ist (§ 234 Abs. 2 ZPO). Dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist die Verfügung des Berufungsgerichts am 2.11.2017 zugestellt worden. Erst ab diesem Tag war er nach seinen Angaben wieder in der Lage, sich der Angelegenheit zu widmen. Damit war am 8.11.2017 die Monatsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO noch nicht abgelaufen. Die Bescheidung des Wiedereinsetzungsantrags war mithin verfrüht.
Rz. 8
Der Verstoß war entscheidungserheblich, denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Vortrag zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags bis zum Fristablauf hinreichend ergänzt und gem. § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO die versäumte Prozesshandlung durch Einreichen der Berufungsbegründung nachgeholt hätte. Dass er tatsächlich erst in der Rechtsbeschwerdebegründung Weiteres zu dem Wiedereinsetzungsgrund vorgetragen und die Berufungsbegründung erst im Februar 2018 eingereicht hat, ist unschädlich. Beides ist darauf zurückzuführen, dass das Berufungsgericht die Wiedereinsetzung bereits abgelehnt und die Berufung als unzulässig verworfen und damit zu erkennen gegeben hat, dass es etwaiges weiteres Vorbringen zum Wiedereinsetzungsgrund und eine nachgeholte Berufungsbegründung nicht mehr berücksichtigen wird.
Rz. 9
3. Danach kann der angefochtene Beschluss keinen Bestand haben. Die Sache ist gem. § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO zur erneuten Entscheidung unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens der Klägerin im Rechtsbeschwerdeverfahren an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Für das weitere Verfahren wird zu berücksichtigen sein, dass ein Einzelanwalt ohne eigenes Personal ihm zumutbare Vorkehrungen für einen Verhinderungsfall, z.B. durch Absprache mit einem vertretungsbereiten Kollegen, zu treffen hat und dass es zu den möglichen und zumutbaren Maßnahmen, die ein unvorhergesehen erkrankter Rechtsanwalt zu treffen hat, auch gehören kann, den Vertreter zu benachrichtigen und diesen zu bitten, einen Fristverlängerungsantrag zu stellen (vgl. BGH, Beschl. v. 26.9.2013 - V ZB 94/13, NJW 2014, 228 Rz. 7, 10, 11 m.w.N.).
Fundstellen
Haufe-Index 11772138 |
NJW 2018, 3258 |
NJW 2018, 9 |
FamRZ 2018, 1250 |
NJW-RR 2018, 1149 |
FA 2018, 260 |
AnwBl 2018, 682 |
JZ 2018, 470 |
MDR 2018, 1106 |
MDR 2018, 1426 |
MDR 2018, 883 |
VRS 2018, 124 |
VersR 2018, 1212 |
ErbR 2018, 542 |
FF 2018, 332 |
RENOpraxis 2019, 36 |
Mitt. 2018, 524 |
RENO 2018, 11 |