Entscheidungsstichwort (Thema)
Verdacht des sexuellen Mißbrauchs von Gefangenen
Tenor
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 15. Juni 1998 aufgehoben.
Die Angeklagte wird freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen sexuellen Mißbrauchs von Gefangenen in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt.
Die Revision der Angeklagten, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt und das Verfahren beanstandet, hat mit der Sachrüge Erfolg, so daß es auf die Verfahrensrügen nicht ankommt.
Nach dem rechtsfehlerfrei festgestellten Sachverhalt hat sich die Angeklagte weder des sexuellen Mißbrauchs von Gefangenen noch einer anderen Straftat schuldig gemacht.
Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der Gefangene B. der Angeklagten im Sinne des § 174a Abs. 1 StGB (in der zur Tatzeit geltenden alten Fassung) zur Betreuung anvertraut war (vgl. dazu BGH NStZ 1999, 29), wie es das Landgericht angenommen hat. Die ihr vorgeworfenen sexuellen Handlungen hat die Angeklagte nämlich jedenfalls nicht „unter Mißbrauch ihrer Stellung” mit dem Gefangenen vorgenommen.
Allerdings setzt dieses Tatbestandsmerkmal – wie ein Vergleich mit dem Merkmal „Mißbrauch der Abhängigkeit” in § 174 Abs. 1 Nr. 2 und 74b Abs. 1 StGB zeigt – keine (konkret festzustellende) Abhängigkeit des Gefangenen von dem Täter voraus. Umgekehrt genügt es, soll die Voraussetzung des „Mißbrauchs der Stellung” nicht jede Bedeutung verlieren, für die Verwirklichung des Tatbestandes aber nicht, wenn Täter und Opfer in einem von § 174a StGB beschriebenen Obhutsverhältnis stehen und es zwischen ihnen zu sexuellen Handlungen kommt. Ob der Täter sexuelle Handlungen in tatbestandsmäßiger Weise „unter Mißbrauch seiner Stellung” vorgenommen hat, läßt sich nur unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls beurteilen.
Bei dieser Würdigung kommt den Eigenarten des konkreten Abhängigkeitsverhältnisses regelmäßig eine gewichtige Bedeutung zu (vgl. näher BGH NStZ 1999, 29). Je ausgeprägter das Abhängigkeitsverhältnis ist, je mehr Befugnisse und Weisungsrecht dem Täter gegenüber dem Gefangenen zustehen, um so näher wird im allgemeinen die Annahme tatbestandsmäßigen Verhaltens liegen, wenn es zu sexuellen Handlungen kommt. Umgekehrt sind, je geringer und schwächer die Befugnisse des Verantwortlichen gegenüber dem Gefangenen sind, je weniger deren Beziehungen durch ein Über- und Unterordnungsverhältnis geprägt sind, um so eher Fälle denkbar, in denen die Stellung des Täters für die Mitwirkung des Gefangenen an den sexuellen Handlungen ohne Bedeutung ist oder in ihrer Bedeutung in den Hintergrund tritt, mit der Folge, daß die Annahme eines Mißbrauchs dieser Stellung ausscheidet. Gleiches kann – unabhängig von der Intensität des Abhängigkeitsverhältnisses – gelten, wenn die sexuellen Handlungen im Rahmen einer echten Liebesbeziehung zwischen der oder dem Gefangenen und der zur Betreuung eingesetzten Person stattfinden (vgl. Lenckner in Schönke/Schröder StGB 25. Aufl. § 174a Rdn. 6).
Jedenfalls unter diesem Gesichtspunkt scheidet nach den getroffenen Feststellungen hier die Annahme aus, in den fünf angeklagten Fällen sei es zum Geschlechtsverkehr zwischen der Angeklagten und dem Gefangenen B. dadurch gekommen, daß sie ihm gegenüber ihre Stellung als Leiterin der Arbeitstherapiegruppe mißbraucht hat. Wie das Urteil im einzelnen schildert, entwickelte sich zwischen der Angeklagten und dem Gefangenen B., bevor es zu den angeklagten Taten kam, eine Liebesbeziehung. Diese, nicht das Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen der Angeklagten als Leiterin der Arbeitstherapiegruppe und dem Angeklagten als dieser Gruppe zugeteiltem Häftling, bildet den Hintergrund und den Rahmen für die der Angeklagten vorgeworfenen sexuellen Handlungen. Für den Gefangenen B. war die Angeklagte, wie er als Zeuge aussagte, „Partnerin einer Liebesbeziehung”, nicht „übergeordnete Justizvollzugsbeamtin”. Die Sexualkontakte waren für ihn von nachrangiger Bedeutung; im Vordergrund standen ihm die „emotionale Seite der Beziehung zur Angeklagten” und die „menschliche Nähe”. Unter diesen Umständen kann von tatbestandsmäßigen sexuellen Handlungen unter Mißbrauch der von der Angeklagten wahrgenommenen Aufsichts- oder Betreuungsfunktion keine Rede sein.
Daß die Angeklagte sich mithin durch das ihr vorgeworfene Verhalten nicht strafbar gemacht hat, bedeutet keineswegs, daß dieses sanktionslos bleiben müßte und es keine Handhabe gäbe, den Strafvollzug von Liebesbeziehungen zwischen Vollzugsbeamten und Gefangenen freizuhalten. Über die Möglichkeit (und gegebenenfalls die Notwendigkeit) beamtenrechtlicher Maßnahmen, insbesondere auch disziplinarrechtlicher Ahndung, hat der Senat jedoch nicht zu befinden.
Unterschriften
Meyer-Goßner, Tolksdorf, Athing, Solin-Stojanovi[cacute], Ernemann
Fundstellen
Haufe-Index 540757 |
NStZ 1999, 349 |
StV 1999, 369 |