Leitsatz (amtlich)
Bei der Entscheidung über die Zustimmung zu einer ärztlichen Zwangsmaßnahme ist nach § 11 Abs. 2 des Gesetzes zur Durchführung strafrechtsbezogener Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus und einer Entziehungsanstalt in Nordrhein-Westfalen (StrUG NRW) eine Patientenverfügung gemäß § 1827 BGB auch im Falle einer gegenwärtigen schwerwiegenden Gefahr für die Gesundheit anderer Personen zu beachten (in Abgrenzung zum Senatsbeschluss vom 15. März 2023 - XII ZB 232/21, FamRZ 2023, 1059).
Normenkette
StrUG NRW § 11 Abs. 2; BGB § 1827
Verfahrensgang
LG Düsseldorf (Entscheidung vom 05.04.2024; Aktenzeichen 25 T 122/24) |
AG Langenfeld (Entscheidung vom 05.01.2024; Aktenzeichen 7 XIV (L) 5426/23) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Langenfeld vom 5. Januar 2024 und der Beschluss der 25. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 5. April 2024 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Die außergerichtlichen Kosten des Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt (§ 337 Abs. 1 FamFG).
Eine Wertfestsetzung (§ 36 Abs. 3 GNotKG) ist nicht veranlasst.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Betroffene wendet sich gegen die durch Zeitablauf erledigte gerichtliche Zustimmung zu einer ärztlichen Zwangsmaßnahme.
Rz. 2
Der 36-jährige Betroffene ist gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Auf Antrag der Leiterin der Einrichtung, in welcher der Betroffene lebt, hat das Amtsgericht nach Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens und persönlicher Anhörung des Betroffenen einer (weiteren) medikamentösen Zwangsbehandlung bis zum 5. April 2024 zugestimmt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen.
Rz. 3
Mit seiner Rechtsbeschwerde erstrebt der Betroffene die Feststellung, dass die Beschlüsse der Vorinstanzen ihn in seinen Rechten verletzt haben.
II.
Rz. 4
Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlüsse des Amts- und des Landgerichts.
Rz. 5
1. Die Zustimmung zur Zwangsbehandlung des Betroffenen ist vorliegend gemäß § 10 Abs. 5 des Gesetzes zur Durchführung strafrechtsbezogener Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus und einer Entziehungsanstalt in Nordrhein-Westfalen (StrUG NRW) erteilt worden. Dabei handelt es sich nach §§ 138 Abs. 4, 121 b Abs. 1 Satz 2 StVollzG iVm § 312 Satz 1 Nr. 4 FamFG um eine Unterbringungssache. Die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde ergibt sich auch im Falle der - hier aufgrund Zeitablaufs eingetretenen - Erledigung der Unterbringungsmaßnahme aus § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FamFG (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Dezember 2022 - XII ZB 417/22 - FamRZ 2023, 474 Rn. 5 mwN).
Rz. 6
2. Die Entscheidungen des Amts- und des Landgerichts haben den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, was nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Dezember 2022 - XII ZB 417/22 - FamRZ 2023, 474 Rn. 6 mwN) iVm § 10 Abs. 5 Satz 2 StrUG NRW, §§ 138 Abs. 4, 121 a, 121 b Abs. 1 StVollzG festzustellen ist.
Rz. 7
a) Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde, dass das landgerichtliche Verfahren schon deshalb unter einem durchgreifenden Verfahrensmangel leidet, weil das Beschwerdegericht seine Entscheidung (auch) auf zwei erst nach Erlass des amtsgerichtlichen Beschlusses ausgestellte Zeugnisse der behandelnden Ärzte gestützt hat, ohne den Betroffenen persönlich anzuhören.
Rz. 8
aa) Zwar eröffnet § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Unterbringungsverfahren die Möglichkeit, von der Durchführung der gemäß § 319 FamFG vorgesehenen persönlichen Anhörung des Betroffenen abzusehen. Doch scheidet dies aus, wenn neue Erkenntnisse zu erwarten sind. Das ist dann der Fall, wenn das Beschwerdegericht für seine Entscheidung eine neue Tatsachengrundlage heranzieht, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Juni 2024 - XII ZB 197/24 - NJW 2024, 2541 Rn. 7 mwN).
Rz. 9
bb) Nach diesen Maßstäben hätte das Beschwerdegericht nicht von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen absehen dürfen.
Rz. 10
Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung (auch) auf die Stellungnahmen der behandelnden Ärzte vom 19. Februar 2024 und 25. März 2024 gestützt. Diese sind zwar im Zusammenhang mit einem Antrag auf Zustimmung zur Zwangsbehandlung über den 5. April 2024 hinaus gegenüber dem Amtsgericht abgegeben worden. Aber das Beschwerdegericht hat diese ärztlichen Zeugnisse auch herangezogen, um das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Zustimmung zur Zwangsbehandlung bis zum 5. April 2024 zu begründen. Denn es hat ausgeführt, dass der Zustand des Betroffenen ausweislich der beiden Atteste weiterhin fortbestehe. Aus diesen ergebe sich insbesondere, dass sich der Betroffene momentan in einem luziden Intervall mit vordergründiger Behandlungsbereitschaft befinde, die allerdings nicht tragfähig sei. Eine Krankheitseinsicht und Selbstbestimmungsfähigkeit bestehe weiterhin nicht. So habe der Betroffene vor Kurzem die Medikation komplett absetzen wollen, um zu überprüfen, ob diese notwendig sei.
Rz. 11
Die beiden ärztlichen Zeugnisse waren somit für die Entscheidung des Beschwerdegerichts von nicht unerheblicher Bedeutung, weil sie Grundlage seiner rechtlichen Würdigung waren, dass auch zum Zeitpunkt der zweitinstanzlichen Entscheidung die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 bis 3 StrUG NRW vorlagen. Damit hat sich das Beschwerdegericht auf ein anderes Ermittlungsergebnis gestützt als das Amtsgericht, also eine neue Tatsachengrundlage herangezogen, weshalb es den Betroffenen hätte persönlich anhören müssen.
Rz. 12
b) Auch in der Sache hält die Beschwerdeentscheidung einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Gleiches gilt für den Beschluss des Amtsgerichts.
Rz. 13
aa) Beide Vorinstanzen haben in ihren Entscheidungen ausgeführt, dass dahinstehen könne, ob die nach dem Vortrag des Betroffenen am 6. Juni 2023 erstellte Patientenverfügung wirksam sei. Denn auch bei Vorliegen einer wirksamen Patientenverfügung sei die Zwangsbehandlung einer forensisch untergebrachten Person zulässig, um eine konkrete Gefahr für das Leben oder die Gesundheit einer anderen Person in der Einrichtung abzuwenden. Eine solche Gefahr liege hier vor.
Rz. 14
Zur Begründung haben sich die Vorinstanzen auf eine Entscheidung des Senats gestützt, in der dieser für Zwangsbehandlungen zur Abwehr einer Fremdgefährdung nach Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 des Bayerischen Maßregelvollzugsgesetzes (BayMRVG) Maßstäbe zur Auslegung des Begriffs der konkreten Gefahr für das Leben oder die Gesundheit einer anderen Person benannt hat (vgl. Senatsbeschluss vom 15. März 2023 - XII ZB 232/21 - FamRZ 2023, 1059 Rn. 21 ff.). Hieraus haben die Vorinstanzen offenbar den Schluss gezogen, dass eine Zwangsbehandlung bei Vorliegen einer Fremdgefährdung stets unabhängig von einer entgegenstehenden Patientenverfügung zulässig sei. Nach der bayerischen Rechtslage ist allerdings - was die Vorinstanzen übersehen haben - nur für Zwangsbehandlungen zur Erreichung der Entlassungsfähigkeit und zur Abwehr einer Eigengefährdung normiert, dass der nach § 1827 BGB zu beachtende Wille der untergebrachten Person nicht entgegenstehen darf, während eine solche Vorgabe für Zwangsbehandlungen zur Abwehr einer Fremdgefährdung nach Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG gerade nicht besteht (vgl. Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 lit. b BayMRVG; vgl. auch LT-Drucks. 17/22590 S. 7 f. iVm LT-Drucks. 17/21573 S. 46). Demgegenüber ist nach der vorliegend einschlägigen Rechtslage in Nordrhein-Westfalen eine Patientenverfügung gemäß § 1827 BGB stets - also auch bei einer gegenwärtigen schwerwiegenden Gefahr für die Gesundheit anderer Personen - zu beachten (vgl. §§ 10 Abs. 2, 11 Abs. 2 StrUG NRW; vgl. auch LTDrucks. 17/12306 S. 62). Deshalb konnten die Vorinstanzen die Wirksamkeit der Patientenverfügung nicht unter Hinweis darauf, dass eine Zwangsbehandlung im Falle einer konkreten Fremdgefährdung auch bei Vorliegen einer entgegenstehenden wirksamen Patientenverfügung zulässig sei, dahinstehen lassen.
Rz. 15
bb) Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind somit rechtsfehlerhaft, weil die Wirksamkeit der Patientenverfügung für die Zulässigkeit der Zwangsbehandlung des Betroffenen nicht ohne Bedeutung war (vgl. §§ 10 Abs. 2, 11 Abs. 2 StrUG NRW). Es kann auch nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die vom Betroffenen vorgelegte Patientenverfügung wirksam, insbesondere in einem einwilligungsfähigen Zustand errichtet worden ist. Das Amtsgericht hat insoweit ausgeführt, dass die behandelnde Oberärztin im Anhörungstermin erklärt habe, sie sei derzeit nicht in der Lage, die Frage der Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen am 6. Juni 2023 zu beurteilen. Unabhängig davon hat das Amtsgericht auch das vom Betroffenen behauptete Ausstellungsdatum in Zweifel gezogen. Daher hätte eine nähere Sachverhaltsaufklärung erfolgen müssen.
Rz. 16
c) Schon wegen des materiell-rechtlichen Fehlers ist auf Antrag des Betroffenen entsprechend § 62 Abs. 1 FamFG durch den Senat auszusprechen, dass die durch Zeitablauf erledigten Beschlüsse der beiden Vorinstanzen den Betroffenen in seiner durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundrechtlich geschützten körperlichen Integrität und in seinem vom Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG mitumfassten Recht auf Selbstbestimmung hinsichtlich seiner körperlichen Integrität (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Mai 2020 - XII ZB 541/19 - FamRZ 2020, 1305 Rn. 18 mwN) verletzt haben.
Rz. 17
Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse des Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der - hier durch Zeitablauf erledigten - Erteilung der gerichtlichen Zustimmung zu der ärztlichen Zwangsmaßnahme feststellen zu lassen, liegt vor. Denn diese Zustimmung bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (Senatsbeschluss vom 13. Mai 2020 - XII ZB 541/19 - FamRZ 2020, 1305 Rn. 20 mwN).
Rz. 18
3. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.
Guhling Klinkhammer Botur
Krüger Recknagel
Fundstellen
NJW 2024, 8 |
FamRB 2024, 5 |