Entscheidungsstichwort (Thema)
Greifbare Gesetzwidrigkeit II
Leitsatz (amtlich)
Der Antrag, als Folge einer entsprechenden eigenen einseitig gebliebenen Erklärung, die Erledigung der Hauptsache festzustellen, zielt auf eine Änderung des Streitgegenstands; er kann daher wirksam nur von der klagenden, nicht auch von der beklagten Partei gestellt werden.
Eine „greifbare” Gesetzwidrigkeit, die ausnahmsweise die Zulassung eines im Gesetz ausdrücklich ausgeschlossenen außerordentlichen Rechtsmittels rechtfertigen könnte, liegt nicht schon dann vor, wenn die angegriffene Beurteilung zwar aus dem Blickwinkel einer herrschend gewordenen Meinung schlechthin unvertretbar erscheint, diese Meinung ihrerseits jedoch noch nicht unumstritten ist und einzelne namhafte Autoren Auffassungen vertreten haben, die die gerichtliche Beurteilung zu stützen geeignet sind.
Normenkette
ZPO §§ 91a, 263, 545 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 2. Dezember 1993 wird auf seine Kosten verworfen.
Gründe
I.
Der Antragsteller hat vor dem Landgericht München I den Erlaß einer einstweiligen Verfügung beantragt, durch die der Antragsgegnerin eine Reihe von Behauptungen untersagt werden sollten, welche letztere mit Bezug auf den Antragsteller aufgestellt hatte. Das Landgericht hat diesem Antrag durch Urteil entsprochen. Gegen das Urteil hat die Antragsgegnerin form- und fristgerecht Berufung eingelegt. Sie hat diese damit begründet, daß das ausgesprochene Verbot durch einen nach Erlaß des landgerichtlichen Urteils geschlossenen außergerichtlichen Vergleich der Prozeßparteien seine Grundlage verloren habe. Im Vergleich hätten die Parteien vereinbart, das Verfügungsverfahren in der Hauptsache für erledigt zu erklären.
Der Antragsteller hat dem mit der Behauptung widersprochen, er habe den Vergleich angefochten, aufgekündigt, sowie den Rücktritt erklärt, weil er von der Antragsgegnerin durch widerrechtliche Drohung zum Abschluß des Vergleichs bestimmt worden sei.
Die Antragsgegnerin hat daraufhin den Antrag gestellt, das Urteil des Landgerichts aufzuheben und festzustellen, daß die Hauptsache erledigt ist.
Der Antragsteller hat beantragt, die Berufung – mangels zureichender Begründung – als unzulässig, hilfsweise als unbegründet, zurückzuweisen.
Das Berufungsgericht hat dem Antrag der Antragsgegnerin entsprochen und dem Antragsteller die Kosten des Rechtsstreits auferlegt. Es hat dies damit begründet, daß der Rechtsstreit sich durch den Vergleich erledigt habe; dessen Wirksamkeit könne im Verfügungsverfahren nicht geprüft werden. Dem Erledigungsantrag der Antragsgegnerin müsse daher stattgegeben werden, obwohl der Antragsteller keine entsprechende Erklärung abgegeben habe. Die Begründetheit des ursprünglichen Verfügungsantrags stehe nicht mehr zur Beurteilung.
Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner von ihm als „außerordentlich” bezeichneten Beschwerde, mit der er geltend macht, die Entscheidung des Berufungsgerichts – Feststellung der Hauptsacheerledigung auf einseitigen Antrag der beklagten Partei – sei unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar, also greifbar gesetzwidrig, so daß hier ausnahmsweise das in Rechtsprechung und Literatur entwickelte Rechtsmittel einer Beschwerde extra legem eröffnet sein müsse.
Die Antragsgegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Das Berufungsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Das Bayerische oberste Landesgericht hat sie zuständigkeitshalber an den Bundesgerichtshof verwiesen.
II.
Die Beschwerde ist unzulässig, da Rechtsmittel gegen ein im Verfahren der einstweiligen Verfügung erlassenes Berufungsurteil grundsätzlich nicht statthaft sind (§ 545 Abs. 2 ZPO) und ein Grund für die nur in besonderen Ausnahmefällen zulässige Eröffnung eines außerordentlichen Rechtsmittels extra legem (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 14.11.1991 – I ZB 15/91, GRUR 1992, 983 – Greifbare Gesetzwidrigkeit; BGH, Beschl. v. 8.10.1992 – VII ZB 3/92, NJW 1993, 135 = JZ 1993, 415 m. Anm. Gottwald) nicht vorliegt.
1. Allerdings rügt die Beschwerde zu Recht, daß das Berufungsgericht die Erledigung der Hauptsache nicht auf den einseitig gebliebenen Antrag der Antragsgegnerin hin für erledigt erklären durfte.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGHZ 106, 359, 366; BGH, Urt. v. 8.3.1990 – I ZR 116/88, GRUR 1990, 530, 531 = WRP 1990, 585 – Unterwerfung durch Fernschreiben; BGH, Urt. v. 13.5.1993 – I ZR 113/91, GRUR 1993, 769 = WRP 1993, 755 – Radio Stuttgart) und herrschender Meinung (vgl. die umfangreichen Nachweise aus der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte und aus der Literatur bei Stein/Jonas/Bork, ZPO, 21. Aufl., § 91 a Rdnr. 39 mit Fn. 134 und bei Zöller/Vollkommer, ZPO, 18. Aufl., § 91 a Rdnr. 34; ferner GroßkommUWG/Jacobs, Vor § 13 UWG, D, Rdnr. 288, ebenfalls m. w. N.) führt das Begehren, die Erledigung der Hauptsache festzustellen, zu einer Veränderung des Streitgegenstands; nicht mehr der ursprüngliche Antrag des Klägers, sondern der Feststellungsantrag ist nunmehr – was auch das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat – Gegenstand der vom Gericht zu treffenden Entscheidung. Eine solche Verfügung über den Streitgegenstand kann nach den Regelungen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO sowie der §§ 263, 264 ZPO nur die das Verfahren betreibende (klagende) Partei treffen. Die im Rechtsstreit angegriffene Partei ist zu einer einseitigen Verfügung über den Streitgegenstand nicht befugt; demgemäß wird eine einseitig gebliebene Erledigungserklärung der beklagten Partei und ihr auf diese Erklärung gestütztes Verlangen, die Erledigung festzustellen, in der neueren Rechtsprechung und Literatur nahezu einhellig als wirkungslos angesehen (vgl. – jeweils mit umfangreichen Nachweisen – MünchKommZPO/Lindacher, § 91 a Rdnr. 101; Stein/Jonas/Bork a.a.O. Rdnr. 50; Zöller/Vollkommer a.a.O. Rdnr. 52; GroßkommUWG/Jacobs a.a.O. Rdnr. 282). Das Berufungsgericht durfte daher dem Antrag der Antragsgegnerin, die Erledigung der Hauptsache festzustellen, gegen den Willen des zur Bestimmung des Streitgegenstands berufenen Antragstellers nicht entsprechen.
2. Jedoch kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht jeder eindeutige Verstoß des Gerichts gegen die bei seiner Entscheidung anzuwendenden Rechtsvorschriften genügen, um eine – im Gesetz ausdrücklich ausgeschlossene – Rechtsmittelmöglichkeit zu eröffnen; vielmehr ist erforderlich, daß die angefochtene Entscheidung dem Gesetz fremd bzw. mit der Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist (vgl. BGH a.a.O. – Greifbare Gesetzwidrigkeit m. w. N.).
Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht erfüllt. Zwar erscheint die Beurteilung des Berufungsgerichts vom Standpunkt der jetzt herrschend gewordenen sogenannten Klageänderungstheorie schlechthin unvertretbar. Jedoch kann nicht unberücksichtigt bleiben, daß diese Lehre vom Wesen einer einseitigen Erledigungserklärung auch heute noch umstritten ist (vgl. etwa MünchKommZPO/Lindacher, § 91 a Rdnr. 87 und die Nachweise bei Zöller/Vollkommer a.a.O., § 91 a Rdnr. 34) und daß selbst die auch von Anhängern anderer Auffassungen (vgl. Lindacher a.a.O. Rdnr. 101) und deshalb heute ganz vorherrschend vertretene Meinung, der einseitigen Erklärung der beklagten Partei könne keine prozessuale Wirkung beigemessen werden, in der Literatur noch als streitig bezeichnet wird, weil einzelne Autoren sie – teils allerdings vor längerer Zeit – in Frage gestellt haben (vgl. die Nachweise bei MünchKommZPO/Lindacher a.a.O. Rdnr. 101 mit Fn. 156 und bei Zöller/Vollkommer a.a.O. § 91 a Rdnr. 52).
Bei diesem Meinungsstand kann nicht gesagt werden, daß die Beurteilung des Berufungsgerichts der deutschen Rechtsordnung gänzlich fremd sei; und zwar um so weniger, als in Betracht zu ziehen ist, daß das (Kosten-) Ergebnis, zu dem die Beurteilung geführt hat, auch bei zutreffender Beurteilung (Ziffer 1) kein anderes als das erkannte (Urteil vom 2.12.1993) gewesen wäre. Denn das Beharren des Antragstellers auf einer Sachentscheidung hätte bei der vorliegenden Sachverhaltsgestaltung zur Zurückweisung seines Verfügungsbegehrens (und damit zur Auferlegung der Verfahrenskosten) führen müssen, wenn das Berufungsgericht – worauf es ohne Rechtsverstoß hätte erkennen können – aufgrund des umstrittenen Vergleichsabschlusses und seiner zeitraubenden Entwicklung entweder den Verfügungsgrund der Dringlichkeit oder die – weitere – Begründetheit des Verbotsbegehrens verneint hätte.
III.
Die Beschwerde ist daher mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO als unzulässig zu verwerfen.
Fundstellen
Haufe-Index 609428 |
NJW 1994, 2363 |