Tenor
Der Senat hält für die Prüfung, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, die eine kompensatorische Strafzumessung erforderlich macht, grundsätzlich die Erhebung einer zulässigen Verfahrensrüge für erforderlich.
Tatbestand
Der 5. Strafsenat beabsichtigt zu entscheiden:
„Das Revisionsgericht hat auf Sachrüge zu prüfen, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, die eine kompensatorische Strafzumessung erforderlich macht, gegeben ist oder jedenfalls zu erörtern gewesen wäre; insoweit stehen dem Revisionsgericht als Beurteilungsgrundlage die Urteilsgründe, sowie diejenigen Umstände offen, die es von Amts wegen zur Kenntnis nehmen muß (Anklage, Eröffnungsbeschluß).”
Mit Beschluß vom 13. November 2003 – 5 StR 376/03 – hat der 5. Strafsenat daher beim 1. und 3. Strafsenat angefragt, ob an der entgegenstehenden Rechtsmeinung festgehalten wird. Den anderen Strafsenaten hat er die Sache mit der Frage vorgelegt, ob der beabsichtigten Entscheidung eigene Rechtsprechung entgegensteht und ob gegebenenfalls an ihr festgehalten wird.
Der 2. Strafsenat hat in mehreren Entscheidungen eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß er für die Beanstandung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung grundsätzlich die Erhebung einer zulässigen Verfahrensrüge für erforderlich hält (vgl. u.a. Beschluß vom 17. August 2001 – 2 StR 267/01; Beschluß vom 26. April 2002 – 2 StR 55/02 und Urteil vom 19. Juni 2002 – 2 StR 43/02).
An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest (nachfolgend I.). In wenigen Ausnahmefällen erachtet der Senat jedoch die Erhebung allein der Sachrüge zur Prüfung für ausreichend (nachfolgend II.).
I. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest.
1. Die Erhebung allein der Sachrüge verpflichtet das Revisionsgericht grundsätzlich nicht zur Prüfung, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, die eine kompensatorische Strafzumessung erforderlich macht.
Ein materiell-rechtlicher Fehler des angefochtenen Urteils liegt dann vor, wenn ein nach den sonstigen Urteilsgründen nahe liegender wesentlicher Gesichtspunkt vom Tatrichter nicht erörtert wird, das heißt, wenn die Umstände zu einer Auseinandersetzung damit drängen.
Die Auffassung des 5. Strafsenates würde daher zutreffen, wenn der Umstand, daß zwischen Tat und Aburteilung ein langer (wie lange?) Zeitraum liegt, das Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nahelegt. Bei der Frage, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, sind aber insbesondere die Art und Schwere des Tatvorwurfs, die Art und Weise der Ermittlungen, die Komplexität des Sachverhalts, das Verhalten des Beschuldigten sowie die durch das Verfahren entstehenden Belastungen für den Beschuldigten zu berücksichtigen (vgl. u.a. BGH wistra 2004, 140). Nach der Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts (vgl. u.a. EGMR in EuGRZ 1983, 371 f., 379; EGMR in EuGRZ 2001, 299 f., 301 = auszugsweise in NJW 2002, 2856 f.; BVerfG NJW 1993, 3254, 3255; NJW 2003, 2225 f. und 2228 f.; BVerfG JZ 2003, 999 ff. und BVerfG, Beschluß vom 21. Januar 2004 – 2 BvR 1471/03) sind Faktoren, die regelmäßig von Bedeutung sind, insbesondere der durch die Verzögerungen der Justizorgane verursachte Zeitraum der Verfahrensverlängerung, die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrensgegenstandes sowie das Ausmaß der mit der Dauer des schwebenden Verfahrens für den Betroffenen verbundenen besonderen Belastungen. Keine Berücksichtigung finden hingegen Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte selbst verursacht hat. Entscheidend ist hierbei auch, ob die Sache insgesamt in angemessener Frist verhandelt worden ist, wobei eine gewisse Untätigkeit innerhalb einzelner Verfahrensabschnitte dann nicht zu einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 Satz 1 MRK führt, wenn dadurch die Gesamtdauer des Verfahrens nicht unangemessen lang wird. Bei der Bestimmung des Zeitpunkts, mit dem die Frist beginnt, innerhalb welcher ein Verfahren in angemessener Dauer durchgeführt werden muß, ist für das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot darauf abzustellen, wann eine zusätzlich fühlbare Belastung des Beschuldigten tatsächlich eintritt (vgl. u.a. BVerfG NJW 1993, 3254). Dabei beginnt die „angemessene Frist” im Sinne der Konvention, wenn der Beschuldigte von den Ermittlungen in Kenntnis gesetzt wird (vgl. u.a. BVerfG NJW 2003, 2228; BGH wistra 2004, 140, 143).
Diese zahlreichen Voraussetzungen, die zur Bejahung eines Verstoßes wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung zu prüfen sind, erschöpfen sich daher keineswegs in der Feststellung, daß zwischen Tat und Aburteilung ein langer Zeitraum liegt, sondern zeigen, daß die Verzögerung grundsätzlich nicht unabhängig von ihrer Ursache zu beurteilen ist. Der reine Zeitablauf ist ein selbständiger Strafmilderungsgrund und legt ohne weitere begründete Anhaltspunkte nicht nahe, daß eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung gegeben und zu erörtern ist.
In der Regel fehlen in den schriftlichen Urteilsgründen (weil ansonsten unerheblich) unter anderem folgende zur Beurteilung eines Verstoßes gegen Artikel 6 MRK erforderliche Feststellungen:
Zeitpunkt der Kenntnis des Beschuldigten von den gegen ihn gerichteten Ermittlungen (= Fristbeginn), Beweisanträge im Ermittlungsverfahren, Richterablehnungen, Beschwerden an das Oberlandesgericht, Ablehnung der Eröffnung, Klageerzwingungsverfahren, ob der Angeklagte sich ins Ausland abgesetzt hatte, ob der Angeklagte geladen werden konnte, ob Zeugenermittlungen oder Zeugenladungen sich schwierig gestalteten, ob Sachverständigengutachten sich verzögert haben, ob Anklagepunkte, die umfangreiche Ermittlungen erforderlich machten, nach §§ 153 a, 154, 154 a StPO erledigt wurden (vgl. Senatsurteil vom 19. Juni 2002 – 2 StR 43/02), ob etwaige Verfahrensverzögerungen in anderen Verfahrensabschnitten kompensiert wurden, ob und wann ein Mittäter oder der Angeklagte geständig war, wenn ein glaubhaftes Geständnis des Angeklagten in der Hauptverhandlung vorliegt, ob und wie die Verzögerung den Angeklagten belastet hat; dies kann nur dieser selbst vortragen.
Manchmal ergibt sich aus dem Urteil auch nicht, ob und wann der Angeklagte in Untersuchungshaft gesessen hat oder in Strafhaft in anderer Sache.
Die meisten dieser Voraussetzungen sind in der Regel auch nicht der Anklage zu entnehmen.
Ohnehin bestehen grundsätzliche Bedenken, die Anklage dafür heranzuziehen, ob das Urteil materiell-rechtliche Fehler enthält. Häufig sind in der Anklage die Vorstrafen dargestellt, so daß sich daraus mitunter auch ein sachlich-rechtlicher Fehler bei der Gesamtstrafenbildung besorgen ließe oder ein Verstoß gegen §§ 56 f, 58 StGB (Anrechnung bezahlter Bewährungsauflagen) usw.
Der Umstand, daß eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung im Extremfall ein Verfahrenshindernis zu begründen vermag (vgl. Senatsurteil BGHSt 46, 159 ff.), rechtfertigt nicht in den Regelfällen die allgemeine Rechtsdogmatik zu durchbrechen. Dies gilt auch für die seltenen Fälle, in denen das Revisionsgericht von Amts wegen einen Verstoß gegen Artikel 6 MRK zu berücksichtigen hat, der nach Verkündung des angefochtenen Urteils eingetreten ist (vgl. Senatsbeschlüsse vom 5. Juli 1995 – 2 StR 219 und 220/94; vom 16. Juli 1997 – 2 StR 286/97; 18. Dezember 1998 – 2 StR 193/98 und vom 19. Januar 2000 – 2 StR 627/99). Letzteres zeigt vielmehr, daß es sich insoweit gerade nicht um einen materiell-rechtlichen Fehler handelt; denn der Tatrichter hat keinen sachlich-rechtlichen Fehler im angefochtenen Urteil begangen.
Im übrigen sollte die Bedeutung des Verstoßes gegen Artikel 6 MRK auch nicht überbewertet werden. Aus § 338 StPO ergibt sich, daß auch schwerwiegendere Verfahrensverstöße nur aufgrund einer (formgerecht erhobenen) Verfahrensrüge zu beachten sind.
2. Es ist nahe liegend, daß Verfahrensverzögerungen, Verfahrensverstöße darstellen und deshalb mit der Verfahrensrüge zu beanstanden sind. Daß ein Verfahrensfehler sich materiell-rechtlich (bei der Strafzumessung) auswirken kann, führt nicht dazu, daß es sich nicht mehr um einen Verfahrensfehler handelt. Auch bei sachlich-rechtlich fehlerhaft unterlassener Gesamtstrafenbildung, für die sich aus dem Urteil aber nichts ergibt, muß zunächst eine formgerechte Aufklärungsrüge erhoben werden, die dann für das materielle Recht Auswirkungen hat. Ein Verfahrensfehler wird nicht dadurch zum materiellen Recht, daß er sachlich-rechtlich zu erörtern ist.
Auch ein anderer Verstoß gegen Artikel 6 MRK (Tatprovokation durch V-Mann), der ebenfalls einen wesentlichen Strafzumessungsgrund darstellt, kann nur mit der Verfahrensrüge geltend gemacht werden, wenn sich aus den Urteilsgründen hierzu nichts ergibt.
Problematisch wäre auch, wenn zur Prüfung einer Verfahrensverzögerung in der Hauptverhandlung eine in der Hauptverhandlung stattgefundene Beweiserhebung ihrerseits wieder zum Gegenstand des tatrichterlichen Strengbeweises gemacht werden müßte (vgl. hierzu auch BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 1 Unzulässigkeit 12).
Hinzu kommt folgendes:
Hat der Tatrichter in der Hauptverhandlung keine Feststellungen zu den Voraussetzungen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung getroffen, darf er derartige Umstände dem Urteil nicht zugrundelegen und sich in den Urteilsgründen damit nicht befassen. Der Vorwurf ist dann nicht materiell-rechtlicher Art, sondern geht dahin, daß er die Umstände nicht festgestellt hat. Das heißt, es muß eine Aufklärungsrüge (= Verfahrensrüge) erhoben werden (so zutreffend Meyer-Goßner Artikel 6 MRK Rdn. 9 c). Dem Tatrichter kann nicht als sachlich-rechtlicher Fehler vorgeworfen werden, etwas nicht erörtert zu haben, was er (weil nicht Gegenstand der Hauptverhandlung) gar nicht durfte. Fehlerhaft ist, die sich aufdrängende Aufklärung unterlassen zu haben; das ist aber ein Verfahrensverstoß, der mit einer Verfahrensrüge geltend zu machen ist.
Auch wenn nach Auffassung des Angeklagten die vom Tatrichter im Urteil getroffenen Feststellungen zu Artikel 6 MRK unzutreffend sind, kann er – wenn überhaupt – hiergegen nur mit einer Verfahrensrüge angehen.
3. Sollten die Anforderungen gemäß §§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO an eine Verfahrensrüge zu hoch sein, wird man diese – wie sonst auch – sinnvoll senken müssen. Das Argument, dies sei schwierig, kann nicht dazu führen das Erfordernis einer Verfahrensrüge fallen zu lassen.
Entscheidungsgründe
II. In wenigen Ausnahmefällen erachtet der Senat jedoch die Erhebung allein der Sachrüge zur Prüfung für ausreichend.
1. Dies wird zu erwägen sein, wenn sich aus den Urteilsgründen alles zur Beurteilung eines Verstoßes gegen Artikel 6 MRK entnehmen läßt. In Anbetracht der oben (I. 1.) mitgeteilten zahlreichen Umständen, die zur Beurteilung erforderlich sind, wird es sich jedoch um einen seltenen Ausnahmefall handeln. Dieser wäre allenfalls dann gegeben, wenn alles erforderliche festgestellt ist und es nur um die Überprüfung der Wertung des Tatrichters geht.
2. Allein auf die Sachrüge ist einzugreifen, wenn nur die Höhe der Kompensation (rechtsfehlerhaft) nicht exakt bestimmt wurde (vgl. auch Senatsbeschlüsse vom 20. Dezember 2002 – 2 StR 381/02 und vom 19. März 2003 – 2 StR 23/03).
3. Auch ein Prozeßurteil, durch welches ein Verfahren wegen eines Verstoßes gegen Artikel 6 Abs. 1 Satz 1 MRK in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz eingestellt wurde (vgl. hierzu Senatsurteil vom 6. März 2002 – 2 StR 530/01), kann von der Staatsanwaltschaft (allein) mit der Sachrüge angegriffen werden. Reichen die tatrichterlichen Feststellungen nicht für ein Einstellungsurteil aus, ist dieses auf Sachrüge aufzuheben.
Unterschriften
Rissing-van Saan, Otten, Rothfuß, Fischer, Roggenbuck
Fundstellen
Haufe-Index 2557668 |
wistra 2004, 398 |
StraFo 2004, 356 |