Leitsatz (amtlich)
Der Anwalt muß organisatorisch sicherstellen, daß die an geeignetes Büropersonal delegierte Fristenkontrolle auch dann zuverlässig vorgenommen wird, wenn das Personal durch Krankheit und Urlaub reduziert wird. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nicht gewährt werden, wenn der Anwalt dieser Organisationspflicht nicht nachgekommen ist und die Fristversäumung auf Überlastung des Personals beruhen kann.
Normenkette
ZPO § 233
Verfahrensgang
KG Berlin (Aktenzeichen 15 U 8331/98) |
LG Berlin (Aktenzeichen 101 O 63/98) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluß des Kammergerichts vom 30. März 1999 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens nach einem Wert von 66.177,81 DM.
Gründe
1. Die Beklagte ist durch das am 5. Oktober 1998 zugestellte Urteil zur Zahlung von 66.177,81 DM nebst Zinsen verurteilt worden. Sie hat am 5. November 1998 durch Telefax Berufung eingelegt. In den Akten fehlt die unterschriebene zweite Seite der gefaxten Berufungsschrift. Ungeklärt ist, ob diese Seite nicht abgesandt wurde oder bei Gericht verloren gegangen ist. Am 6. November 1998 ist die per Post versandte vollständige Berufungsschrift bei Gericht eingegangen. Mit Schriftsatz vom 9. Dezember 1998 hat die Beklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Am 8. Januar 1999 hat ihr Prozeßbevollmächtigter die Mitteilung erhalten, daß in der Akte lediglich die erste Seite der Berufungsschrift vorliege. Daraufhin hat die Beklagte auch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist beantragt.
Zur Begründung der Wiedereinsetzungsgesuche hat die Beklagte vorgetragen, die zuständige Sachbearbeiterin Li. habe versehentlich nicht gemerkt, daß nur acht Seiten per Fax abgegangen seien. Die Berufungsbegründung und das gleichzeitig übermittelte Urteil hätten jedoch zehn Seiten ergeben müssen. Bei Gericht seien auch acht Seiten eingegangen. Davon seien sieben Seiten aus ungeklärten Gründen nicht in der Akte.
Li. habe entgegen der schriftlichen Organisationsanweisung der Prozeßbevollmächtigten mehrere Fehler begangen. Sie habe das Sendeprotokoll des Faxgerätes nicht daraufhin überprüft, ob die Berufungsschrift und das Urteil vollständig abgegangen seien. Sie habe ferner nicht die vorläufige Berufungsbegründungsfrist auf dem für die Handakte bestimmten Schriftsatz notiert. Da die Akte nicht zur für die Eintragung der Begründungsfrist und Vorfrist zuständigen Büroleiterin Le. gelangt sei, habe diese die fehlende Notierung der Frist nicht bemerkt und dementsprechend auch keine Fristen eingetragen.
Der Büroleiterin Le. sei sodann auch ein Fehler unterlaufen, weil sie nach der Mitteilung des Kammergerichts über den Eingang der Berufung die organisatorisch vorgesehene Eintragung der vorläufigen Frist nicht kontrolliert und auch die endgültige Frist nicht eingetragen habe.
Für diese Fehler habe die Beklagte nicht einzustehen, weil sie nicht auf organisatorischen Mängeln der Fristenkontrolle beruhten. Die notwendigen Kontrollmaßnahmen seien durch eine schriftliche Organisationsanweisung den Bürokräften vermittelt worden. Diese sowie die Einhaltung der Organisationsanweisung seien regelmäßig überprüft worden. Die Büroangestellten Li. und Le. hätten in der Vergangenheit zuverlässig gearbeitet. Als Ursache für ihre Fehler komme eine Überlastung infolge Krankheit und Urlaub anderer Mitarbeiter in Betracht. Es sei versucht worden, dem durch die Einstellung von Zeitarbeitskräften und durch die Anordnung von Mehrarbeit bei Teilzeitbeschäftigten entgegenzuwirken.
2. Das Berufungsgericht hat die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt und die Berufung als unzulässig verworfen. Das Vorbringen der Beklagten lasse Organisationsmängel durch mangelnde Überwachung des Personals oder durch Einsatz möglicherweise durch die aufgetretenen Krankheitsfälle überforderter und deswegen nicht hinreichend zuverlässiger Mitarbeiter erkennen.
3. Die sofortige Beschwerde der Beklagten hat keinen Erfolg.
a) Das Berufungsgericht geht davon aus, daß die Berufung nicht rechtzeitig eingegangen ist. Die Beklagte habe nicht bewiesen, daß die unterschriebene Seite der Berufungsschrift durch Fax am 5. November 1998 zugegangen sei.
Ob der Beklagten angesichts des Umstandes, daß im Geschäftsbereich des Gerichts sieben Seiten der Berufungsschrift verloren gegangen sind, noch die Beweislast für den Zugang der zweiten Seite der Berufungsschrift auferlegt werden kann, ist zweifelhaft (vgl. BGH, Beschluß vom 23. Juni 1988 - X ZB 3/87; Zöller/Gummer, ZPO, 21. Aufl., § 518 Rdn. 20). Die Frage kann jedoch offen bleiben. Denn jedenfalls ist die Berufungsbegründungsfrist versäumt, ohne daß der Beklagten insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wäre.
b) Die Beklagte meint allerdings, der Lauf der Berufungsbegründungsfrist habe nicht beginnen können, wenn das Telefax vom 5. November 1998 ohne die unterschriebene Seite der Berufungsschrift eingegangen und die Berufung demgemäß nicht wirksam eingelegt worden sei. Sie läßt jedoch unberücksichtigt, daß der Berufungsschriftsatz am 6. November 1998 vollständig per Post eingegangen ist. Jedenfalls mit Eingang dieses Schriftsatzes lief die Begründungsfrist. Es kommt nicht darauf an, daß die Berufungsfrist am 6. November bereits abgelaufen war. Denn der Lauf einer Begründungsfrist nach einer verspätet eingelegten Berufung bleibt jedenfalls dann unberührt, wenn innerhalb der Frist weder das Rechtsmittel verworfen noch über den wegen der Fristversäumung gestellten Wiedereinsetzungantrag entschieden worden ist (BGH, Beschluß vom 9. Januar 1989 - II ZB 11/88 = MDR 1989, 521). Hier war die Berufung noch nicht verworfen und der Wiedereinsetzungantrag wegen Versäumung der Berufungsfrist im fraglichen Zeitraum nicht gestellt worden. Die Begründungsfrist ist demgemäß spätestens mit dem 6. Dezember 1998 abgelaufen.
c) Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zu Recht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Begründungsfrist versagt. Die Beklagte hat nicht dargelegt, daß die Fristversäumung nicht auf organisatorischen Mängeln der Fristenkontrolle beruht.
aa) Nach dem Vortrag der Beklagten ist die Fristenkontrolle so organisiert, daß die Anwaltssekretärin auf dem für die Handakten bestimmten Berufungsschriftsatz die vorläufige Begründungsfrist vermerkt. Diese Frist wird von der Büroleiterin mit Vorfrist in den Fristenkalender eingetragen. Die Beklagte hat nichts dazu vorgetragen, wie organisatorisch sicher gestellt ist, daß die Handakte mit der Eintragung der vorläufigen Berufungsbegründungsfrist zur Büroleiterin gelangt. Die Übermittlung an die Büroleiterin ist nach der Organisation des Büros ihrer Prozeßbevollmächtigten ein wichtiger Zwischenschritt für eine wirksame Fristenkontrolle. Das von der Beklagten vorgelegte Organisationsblatt ihrer Prozeßbevollmächtigten enthält dazu nichts. Die Beklagte hat auch nicht vorgetragen, aus welchen Gründen die Vorlage an die Büroleiterin im konkreten Fall unterblieben ist. Darauf hat das Kammergericht schon hingewiesen, ohne daß die Beklagte in der Beschwerde zu diesem Punkt Stellung nimmt. Es ist deshalb nicht auszuschließen, daß die Organisation des Aktenumlaufs im Büro der Prozeßbevollmächtigten nicht sicher gestellt hat, daß die Büroleiterin Fristensachen tatsächlich erhielt und kontrollieren konnte.
bb) Die Beklagte vermag nach ihrer eigenen Darstellung nicht auszuschließen, daß die Häufung der individuellen Fehler der Büroangestellten ihrer Prozeßbevollmächtigten auf deren chronischen Überlastung und daraus folgenden Hektik zurückzuführen sind. Über einen Zeitraum von mehr als einen Monat sei die Belegschaft vor dem 5. November 1998 infolge Urlaub und Erkrankung auf fast die Hälfte reduziert gewesen. Zu diesem Zeitpunkt habe es noch einen Krankheitsfall bei den Rechtsanwaltsfachangestellten gegeben.
Der Senat geht mit der Beklagten davon aus, daß die teilweise drastische Reduzierung des Personals infolge Urlaub und Erkrankung die Gefahr der Überlastung des verbliebenen Personals barg. Es ist indessen nicht auszuschließen, daß diese Überlastung die Ursache für die festgestellten Fehler war, zumal nach der Darstellung der Beklagten beide Angestellten bisher zuverlässig gearbeitet haben.
Auf dieser Grundlage kann ein organisatorisches Verschulden der Prozeßbevollmächtigten nicht ausgeschlossen werden. Die eigenen Sorgfaltspflichten des Anwalts sind erhöht, wenn Störungen in der Organisation des Büros auftreten, die dazu führen können, daß die zulässig delegierten Pflichten des Anwalts nicht erfüllt werden. Der Anwalt kann zwar einzelne Aufgaben, wie das Führen des Fristenkalenders, auf geeignetes Büropersonal übertragen. Er muß jedoch sicher stellen, daß seine Angestellten ihre Aufgaben auch dann zuverlässig erfüllen, wenn die Belegschaft durch Krankheit und Urlaub reduziert ist. Dazu muß er auch einer eventuellen Überlastung entgegenwirken, die dadurch entsteht, daß dem verbliebenen Personal zu viele Aufgaben übertragen werden (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 21. Aufl., § 233 Rdn. 23 - Büropersonal). Auf welche Weise er die Belastung des verbliebenen Personals in zumutbaren Grenzen hält, bleibt ihm überlassen. Ist ihm eine Kompensation durch den Einsatz weiterer zuverlässiger Kräfte nicht möglich, kann der Gefahr von Fehlverhalten z.B. durch eine verstärkte Kontrolle entgegengewirkt werden. Im Einzelfall kann es notwendig werden, daß der Anwalt die delegierten Aufgaben, wie z.B. die Fristenkontrolle, wieder an sich zieht (BGH, Beschluß vom 1. April 1965 - II ZB 1/64 = VersR 1965, 596). Die Beklagte hat nicht vorgetragen, daß ihre Prozeßbevollmächtigten geeignete Maßnahmen getroffen hätten, um trotz des personellen Engstandes eine ausreichende Fristenkontrolle zu gewährleisten. Die kurzfristige Einstellung von Aushilfskräften und der zusätzliche Einsatz von Frau R. waren dazu nicht geeignet.
cc) Die Beklagte muß sich schon diese organisatorischen Fehler ihrer Prozeßbevollmächtigten zurechnen lassen, § 85 Abs. 2 ZPO. Es kommt deshalb nicht mehr darauf an, ob die individuellen Fehler der Büroangestellten trotz der ausführlichen gegenteiligen Darlegung der Beklagten Rückschlüsse auf die sonstige Organisation der Fristenkontrolle zulassen, wie es das Berufungsgericht gemeint hat.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Ullmann, Quack, Thode, Haß, Kniffka
Fundstellen
BB 1999, 2216 |
HFR 2000, 535 |
NJW 1999, 3783 |
NWB 1999, 4830 |
EBE/BGH 1999, 338 |
Nachschlagewerk BGH |
ZAP 1999, 1187 |
MDR 1999, 1411 |
NJ 2000, 94 |
VersR 2000, 120 |
MittRKKöln 1999, 332 |
BRAK-Mitt. 2000, 23 |
www.judicialis.de 1999 |