Entscheidungsstichwort (Thema)
Vergewaltigung
Leitsatz (amtlich)
Ein nach dem letzten Wort des Angeklagten und unmittelbar vor dem Urteil verkündeter Beschluß über die Teileinstellung des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 2 StPO ist Teil der abschließenden Entscheidung des Gerichts; dies gilt auch dann, wenn durch den Einstellungsbeschluß über einen das Verfahren insgesamt betreffenden Hilfsbeweisantrag mittelbar mitentschieden wird (im Anschluß an BGH, Urteil vom 21. Februar 1979 – 2 StR 473/78; Aufgabe von BGH NStZ 1983, 469).
Normenkette
StPO § 154 Abs. 2, § 258
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Siegen vom 28. März 2000 im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat zum Strafausspruch mit einer Aufklärungsrüge Erfolg; im übrigen ist es unbegründet.
1. Die Verfahrensrüge, § 258 StPO sei dadurch verletzt worden, daß der Verteidigerin und dem Angeklagten nach der Verkündung eines (Teil-) Einstellungsbeschlusses gemäß § 154 Abs. 2 StPO nicht nochmals Gelegenheit gegeben worden sei, sich zu äußern, hat keinen Erfolg.
a) Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
Am dritten Hauptverhandlungstag wurde die Beweisaufnahme (erneut) geschlossen, nachdem die Verteidigerin einen Hilfsbeweisantrag gestellt hatte. Durch die begehrte Beweiserhebung sollte die Glaubwürdigkeit der Geschädigten und Hauptbelastungszeugin erschüttert werden. Der Staatsanwalt beantragte, einen Teil des Anklagevorwurfs – eine nach dem angeklagten Vergewaltigungsgeschehen an dem Tatopfer begangene (weitere) Körperverletzung – gemäß § 154 Abs. 2 StPO einzustellen und den Angeklagten im übrigen zu verurteilen. Die Nebenklägerin schloß sich dem Antrag des Staatsanwalts an. Nach einem rechtlichen Hinweis beantragte die Verteidigerin Freispruch. Der Angeklagte hatte das letzte Wort; er verzichtete auf Ausführungen zu seiner Verteidigung. Sodann wurde die Hauptverhandlung unterbrochen und an einem anderen Tag mit der Verkündung des (Teil-) Einstellungsbeschlusses – wie vom Staatsanwalt beantragt – und des Urteils fortgesetzt. Der Hilfsbeweisantrag wurde in den Urteilsgründen rechtsfehlerfrei abgelehnt.
b) Die Rüge ist unbegründet.
Ein nach dem letzten Wort des Angeklagten und unmittelbar vor dem Urteil verkündeter Beschluß über die Teileinstellung des Verfahrens nach § 154 Abs. 2 StPO ist Teil der abschließenden Entscheidung des Gerichts; dies gilt – mit der Folge, daß dem Angeklagten nach dem Beschluß nicht erneut das Wort zu erteilen ist – auch dann, wenn durch den Einstellungsbeschluß über einen das Verfahren insgesamt betreffenden Hilfsbeweisantrag mittelbar mitentschieden wird.
aa) Es ist umstritten, ob in der Verkündung eines Teileinstellungsbeschlusses unmittelbar vor dem Urteil ein zu erneuten Ausführungen und zur nochmaligen Erteilung des letzten Wortes zwingender Wiedereintritt in die Verhandlung zu sehen ist (vgl. BGH NStZ 1999, 257 = StV 2000, 296; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl., § 258 Rdn. 6, Fn. 27 f. jeweils m.w.N.). Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat dies in seinem Urteil vom 21. Februar 1979 – 2 StR 473/78 – verneint, weil der Einstellungsbeschluß lediglich einen Teil der aus Beschluß und Urteil bestehenden Endentscheidung darstelle (zustimmend Pelchen JR 1986, 166, 167; KMR-Stuckenberg § 258 Rdn. 5; offengelassen in BGH NJW 1985, 1479, 1480 [1. Strafsenat]; NStZ 1990, 228 [3. Strafsenat]; 1999, 244 [4. Strafsenat] und 257 [3. Strafsenat]). Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in seinem Beschluß vom 12. April 1983 – 5 StR 162/83 (= NStZ 1983, 469) die Ansicht vertreten, daß dem Angeklagten dann nochmals das letzte Wort erteilt werden muß, wenn der Urteilsverkündung ein (Teil-) Einstellungsbeschluß nach § 154 Abs. 2 StPO vorausgegangen ist und durch diesen (wie in dem hier zu entscheidenden Fall) über einen Hilfsbeweisantrag des Verteidigers zur Glaubwürdigkeit des Hauptbelastungszeugen – betreffend auch Fälle, in denen verurteilt wurde – mittelbar mitentschieden worden ist.
bb) Für die Richtigkeit der Auffassung des 2. Strafsenats – auch bei einer Fallgestaltung wie hier – spricht, daß der Angeklagte keine Möglichkeit hat, sich erneut zu äußern, wenn das Gericht nach Beratung dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Teileinstellung des Verfahrensnicht folgt und ihn (ohne Beschlußfassung) auch insoweit verurteilt. Dann erscheint es aber widersinnig, daß er bei der für ihnpositiven Entscheidung des Gerichts ein erneutes Äußerungsrecht haben soll. Der 3. Strafsenat hat zudem zutreffend darauf hingewiesen, daß nicht Zufälligkeiten über den Bestand des Urteils bei einer Rüge nach § 258 StPO entscheiden dürfen (s. BGH NStZ 1999, 257): So machen etwa die der Urteilsverkündung erst nachfolgende Mitteilung des (Teil-) Einstellungsbeschlusses (s. BGH StV 1996, 297 [5. Strafsenat]) oder die – unzulässige – formale Aufnahme der Teileinstellungsentscheidung in die verkündete Urteilsformel (regelmäßig) keine erneute Worterteilung erforderlich.
cc) Sinn der Regelung des Äußerungsrechts in § 258 StPO ist die Wahrung des rechtlichen Gehörs (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 44. Aufl., § 258 Rdn. 1). Werden dem Verteidiger und dem Angeklagten nach dem Schlußvortrag des Staatsanwalts und dessen Antrag auf Teileinstellung des Verfahrens das Recht zum Schlußvortrag eingeräumt und hatte der Angeklagte vor der Urteilsberatung als letzter Verfahrensbeteiligter Gelegenheit zur Äußerung (vgl. BGHSt 13, 53, 60; BGH NStZ 1993, 551), so ist das rechtliche Gehör umfassend gewährt worden, weil der Verteidiger und der Angeklagte zu dem gesamten Vorbringen des Staatsanwalts Stellung nehmen konnten. Das Ergebnis der unmittelbar anschließenden zur Teileinstellung und Verurteilung im übrigen führenden Beratung des Gerichts ist eineeinheitliche Entscheidung, die auch die Behandlung der Hilfsbeweisanträge umfaßt; denn über sie ist erst im Rahmen der Urteilsberatung zu befinden (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 6 Hilfsbeweisantrag 7; Herdegen in KK 4. Aufl., § 244 Rdn. 50 a). Wird über einen Hilfsbeweisantrag nur „mittelbar” im Teileinstellungsbeschluß entschieden, so kann zwar (möglicherweise) die rechtsfehlerhafte Behandlung des Hilfsbeweisantrags mit Erfolg gerügt werden, nicht aber § 258 StPO. Ein Verstoß gegen § 258 StPO läge noch nicht einmal vor, wenn der hilfsweise gestellte Beweisantrag, der an sich in den Urteilsgründen hätte abgelehnt werden können, ohne Erörterung gleichzeitig mit der Urteilsverkündung durch einen besonderen Beschluß zurückgewiesen wird (RGSt 55, 109 f.; OLG Karlsruhe MDR 1966, 948; Gollwitzer aaO Rdn. 6; Niemöller JZ 1992, 884 Fn. 4 m.w.N.).
Ob etwas anderes gilt, wenn das Gericht für den Angeklagten einen Vertrauenstatbestand dadurch schafft, daß es vor der Verkündung des Urteils nochmals ausdrücklich in die Verhandlung eintritt (s. etwa die Fallgestaltungen in BGH NJW 1985, 1479; NStZ-RR 1998, 15; BGH, Urteil vom 21. Dezember 1966 – 4 StR 404/66), kann dahinstehen; denn ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
dd) Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Anfrage des Senats gemäß § 132 Abs. 3 GVG erklärt, daß er seine entgegenstehende Rechtsprechung im Beschluß vom 12. April 1983 – 5 StR 162/83 (= NStZ 1983, 469) aufgibt; die übrigen Strafsenate des Bundesgerichtshofs haben mitgeteilt, entgegenstehende Rechtsprechung ihres Senats liege nicht vor.
2. Die Aufklärungsrüge, mit der die Revision beanstandet, daß die Strafkammer zur Frage erheblich verminderter Schuldfähigkeit des Angeklagten keinen psychiatrischen Sachverständigen gehört hat, hat dagegen Erfolg.
Nach den Urteilsfeststellungen zeigte der Angeklagte in der Vergangenheit erhebliche psychische Auffälligkeiten; er war deswegen in psycho-therapeutischer und psychologischer Behandlung. Wegen seiner „gesundheitlichen Probleme” mußte er seinen Beruf als Kraftfahrer, bei dessen Ausübung er „einige Unfälle mit Kopfverletzungen” erlitten hatte (UA 5), aufgeben. Die Tat des – bisher nicht bestraften und sozial angepaßt lebenden – Angeklagten ist nach den Feststellungen persönlichkeitsfremd und weist ungewöhnliche Züge auf: Er stieg an einem frühen Morgen in den Pkw einer ihm unbekannten Frau ein, bedrohte sie mit einer Waffe und befahl ihr, in der Stadt umherzufahren, weil er „eine Person observieren müsse”. Auf dem Parkplatz seines Firmengeländes zog er die Geschädigte aus dem Fahrzeug, zwang sie, in das Firmengebäude zu gehen, schlug sie und führte dann mit ihr u.a. den Geschlechtsverkehr durch. Als er ihr danach mitteilte, „daß er mit ihr noch einige Waldwege abfahren wolle”, nutzte sie eine Gelegenheit zur Flucht.
Zu Recht weist die Revision darauf hin, daß sich die Strafkammer bei dieser Sachlage hätte gedrängt sehen müssen, ein psychiatrisches Sachverständigengutachten einzuholen (vgl. BGHR StGB § 21 Sachverständiger 7, 8). Dieses hätte möglicherweise ergeben, daß die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Tat aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe erheblich vermindert war. Die versäumte Begutachtung wird der neu entscheidende Tatrichter nachzuholen haben.
Da Anhaltspunkte für eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit nicht vorliegen, kann der Schuldspruch bestehen bleiben. Die Straffrage bedarf jedoch neuer Verhandlung und Entscheidung.
Unterschriften
Meyer-Goßner, Kuckein, Athing, Solin-Stojanovi[cacute], Ernemann
Fundstellen
Haufe-Index 584847 |
NJW 2001, 2109 |
JR 2002, 119 |
NStZ 2001, 389 |
NStZ 2002, 104 |
ZAP 2001, 798 |
wistra 2001, 275 |
StV 2001, 437 |
StraFo 2001, 232 |