Leitsatz (amtlich)
Lässt der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen, ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG regelmäßig auch dann erforderlich, wenn in der abschließenden Entscheidung eine Betreuerbestellung unterbleibt (im Anschluss an BGH v. 11.12.2013 - XII ZB 280/11, FamRZ 2014, 378).
Normenkette
FamFG § 276 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. 2, Abs. 2
Verfahrensgang
LG Frankenthal (Pfalz) (Beschluss vom 06.10.2017; Aktenzeichen 1 T 165/17) |
AG Speyer (Entscheidung vom 31.01.2017; Aktenzeichen 73 XVII 86/16) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der weiteren Beteiligten zu 1) wird der Beschluss der 1. Zivilkammer des LG Frankenthal (Pfalz) vom 6.10.2017 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das LG zurückverwiesen.
Wert: 5.000 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Der Betroffene leidet an einer fortgeschrittenen Demenz und ist zu einer freien Willensbildung nicht mehr in der Lage. Er hat eine auf den 3.1.2016 datierte umfassende Vorsorgevollmacht unterschrieben, in der zwei seiner Töchter - die Beteiligten zu 3) und 4) - als Bevollmächtigte und seine anderen beiden Töchter - die Beteiligten zu 1) und 2) - als Ersatzbevollmächtigte benannt sind.
Rz. 2
Mit Schreiben vom 9.3.2016 hat die Beteiligte zu 1) die Einrichtung einer Betreuung angeregt. Die Vollmacht vom 3.1.2016 hält sie für unwirksam.
Rz. 3
Das AG hat die Einrichtung einer Betreuung abgelehnt und das Verfahren eingestellt. Die hiergegen von der Beteiligten zu 1) eingelegte (vom LG unzutreffend als sofortige Beschwerde bezeichnete) Beschwerde hat das LG zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde begehrt die Beteiligte zu 1) weiterhin die Einrichtung einer Betreuung, hilfsweise einer Kontrollbetreuung, für den Betroffenen.
II.
Rz. 4
Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das LG.
Rz. 5
1. Das LG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:
Rz. 6
Eine Betreuung für den Betroffenen sei nicht erforderlich, weil durch die Vorsorgevollmacht die Möglichkeit bestehe, die Belange des Betroffenen ebenso gut wie durch eine Betreuung zu besorgen. Die Unwirksamkeit der Vollmacht könne nicht positiv festgestellt werden, weil eine Geschäftsunfähigkeit des Betroffenen zum Zeitpunkt der Vollmachtserteilung nicht sicher feststellbar sei. Auch durchgreifende Bedenken gegen die Akzeptanz der Vollmacht im Rechtsverkehr seien nicht ersichtlich. Die bei den Beteiligten zu 1) und zu 4) bestehenden Zweifel an der Wirksamkeit der Vollmacht stünden dem nicht entgegen.
Rz. 7
2. Diese Ausführungen beruhen auf verfahrensfehlerhaft getroffenen Feststellungen. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers unterblieben ist.
Rz. 8
a) Gemäß § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung seiner Interessen erforderlich ist. Nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG ist die Bestellung in der Regel erforderlich, wenn Gegenstand des Verfahrens die Bestellung eines Betreuers zur Besorgung aller Angelegenheiten des Betroffenen oder die Erweiterung des Aufgabenkreises hierauf ist. Gemäß § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG kann von der Bestellung in den Fällen des Abs. 1 Satz 2 abgesehen werden, wenn ein Interesse des Betroffenen an der Bestellung des Verfahrenspflegers offensichtlich nicht besteht. Nach § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG ist die Nichtbestellung zu begründen. Dabei unterfällt es der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht, ob die den Tatsacheninstanzen obliegende Entscheidung ermessensfehlerfrei getroffen worden ist (BGH, Beschl. v. 23.8.2017 - XII ZB 611/16, FamRZ 2017, 1865 Rz. 6 m.w.N.).
Rz. 9
Auf dieser gesetzlichen Grundlage ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt. Für einen in diesem Sinne umfassenden Verfahrensgegenstand spricht es, wenn die Betreuung auf einen Aufgabenkreis erstreckt wird, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen umfasst. Selbst wenn dem Betroffenen nach der Entscheidung letztlich einzelne restliche Bereiche zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung verbleiben, entbindet dies jedenfalls dann nicht von der Bestellung eines Verfahrenspflegers, wenn die verbleibenden Befugnisse dem Betroffenen in seiner konkreten Lebensgestaltung keinen nennenswerten eigenen Handlungsspielraum belassen (BGH, Beschl. v. 23.8.2017 - XII ZB 611/16, FamRZ 2017, 1865 Rz. 7 m.w.N.).
Rz. 10
b) Gemessen hieran kann die Entscheidung des LG keinen Bestand haben.
Rz. 11
aa) Zwar wurde eine Betreuung für den Betroffenen letztlich nicht angeordnet. Bei der für die Prüfung, ob ein Verfahrenspfleger zu bestellen ist, erforderlichen ex-ante-Betrachtung (vgl. hierzu BGH v. 11.12.2013 - XII ZB 280/11, FamRZ 2014, 378 Rz. 8) war jedoch davon auszugehen, dass der von der möglicherweise anzuordnenden Betreuung erfasste Aufgabenkreis in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Lebensbereiche des Betroffenen umfassen und die einzelnen, verbliebenen Befugnisse dem Betroffenen in seiner konkreten Lebenssituation keinen nennenswerten eigenverantwortlichen Handlungsspielraum mehr belassen würden. Zwar hatte die Beteiligte zu 1) zunächst nur eine Betreuung in dem Aufgabenkreis Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post sowie Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten angeregt. Schon in dem vom AG eingeholten Gutachten ist jedoch zusätzlich die Übertragung der Gesundheitsfürsorge auf einen Betreuer sowie die Anordnung eines Einwilligungsvorbehaltes vorgeschlagen worden. Im weiteren Verfahren hat sich der Betroffene als eindeutig geschäftsunfähig herausgestellt. Er ist in sämtlichen Lebensbereichen nicht mehr in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Die Anordnung einer Betreuung für alle Angelegenheiten ist nur unterblieben, weil AG und Beschwerdegericht die erteilte Vorsorgevollmacht für wirksam und ausreichend angesehen haben, um die Belange des Betroffenen ebenso gut wie eine Betreuung zu wahren. Damit war Gegenstand des Verfahrens ein Aufgabenkreis, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen umfasst, so dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers gem. § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG grundsätzlich erforderlich war.
Rz. 12
bb) Da die Interessen des Betroffenen im Betreuungsverfahren nicht von einem Rechtsanwalt oder einem anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten gem. § 276 Abs. 4 FamFG vertreten worden sind, hätte nach § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG nur unter den bereits genannten Voraussetzungen von der Bestellung eines Verfahrenspflegers abgesehen werden können.
Rz. 13
cc) Eine Verfahrenspflegschaft ist nur dann nicht anzuordnen, wenn sie nach den gegebenen Umständen einen rein formalen Charakter hätte. Ob es sich um einen solchen Ausnahmefall handelt, ist anhand der gem. § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorgeschriebenen Begründung zu beurteilen (BGH, Beschl. v. 16.3.2016 - XII ZB 203/14, NJW 2016, 1828 Rz. 11). Weil das LG entgegen § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG nicht begründet hat, warum es keinen Verfahrenspfleger bestellt hat, kann der Senat weder prüfen, ob es von seinem Ermessen überhaupt Gebrauch gemacht hat, noch ob die Entscheidung ermessensfehlerfrei ergangen ist.
Rz. 14
3. Gemäß § 74 Abs. 5 und Abs. 6 Satz 2 FamFG ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache an das LG zurückzuverweisen.
Rz. 15
4. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Fundstellen
NJW 2018, 3443 |
NJW 2018, 8 |
FamRZ 2018, 1604 |
FuR 2018, 3 |
FGPrax 2018, 270 |
ZAP 2018, 1089 |
BtPrax 2018, 234 |
JZ 2018, 687 |
MDR 2018, 1140 |
Rpfleger 2018, 680 |
FF 2018, 421 |