Verfahrensgang
LG Hagen (Urteil vom 07.02.2019) |
Tenor
1. Dem Angeklagten wird auf seinen Antrag und seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Hagen vom 7. Februar 2019 gewährt; damit ist der Beschluss des Landgerichts Hagen vom 15. Mai 2019 gegenstandslos.
2. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hagen vom 7. Februar 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
- im Strafausspruch und
- soweit von einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
4. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen der Nebenkläger, an eine andere Jugendstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Einheitsjugendstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es eine Einziehungs- und eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Darüber hinaus begehrt er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist. Der Wiedereinsetzungsantrag hat Erfolg. Das Rechtsmittel erzielt den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Rz. 2
Dem Wiedereinsetzungsantrag des Angeklagten ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 28. Juni 2019 zu entsprechen. Damit ist der gemäß § 346 Abs. 1 StPO ergangene Verwerfungsbeschluss des Landgerichts Hagen vom 15. Mai 2019 gegenstandslos (vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. April 2019 – 4 StR 41/19, NStZ 2019, 460; vom 24. Januar 2017 – 3 StR 447/16, NStZ-RR 2017, 148; vom 11. Januar 2016 – 1 StR 435/15, wistra 2016, 163, 164).
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 3
1. Die Nachprüfung des Urteils hat zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Auch die rechtliche Würdigung des Landgerichts, der Angeklagte sei bei Tat 2 vom beendeten Versuch des Mordes nicht strafbefreiend zurückgetreten (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 StGB), begegnet im Ergebnis keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Rz. 4
a) Für die Abgrenzung von beendetem und unbeendetem Versuch und damit für das Vorliegen eines strafbefreienden Rücktritts kommt es darauf an, ob der Täter nach der letzten seinerseits konkret vorgenommenen Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs für möglich hält (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 – GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227, NStZ 1993, 433). Macht der Täter sich nach der letzten Ausführungshandlung keine Vorstellung über die Folgen seines Tuns oder ist ihm der Erfolg gleichgültig, ist ein beendeter Versuch anzunehmen (st. Rspr.; BGH, Urteile vom 2. November 1994 – 2 StR 449/94, BGHSt 40, 304, 306, NJW 1995, 974; vom 16. April 2015 – 3 StR 645/14, NStZ 2015, 509 mwN; und vom 7. Februar 2018 – 2 StR 171/17, NStZ-RR 2018, 137).
Rz. 5
b) Nach diesen Maßstäben liegt ein beendeter Versuch vor. Zwar sind die Feststellungen zum Rücktrittshorizont des Angeklagten nach dem Messerstich in den Oberkörper des Zeugen R. lückenhaft. Der Senat entnimmt aber dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe, dass dem Angeklagten der Eintritt des Todes des Zeugen jedenfalls gleichgültig war. Denn er flüchtete sofort nach dem Messerstich und überließ den Geschädigten seinem Schicksal. Der Schluss des Landgerichts, dass sich in diesem Verhalten eine „Gleichgültigkeit gegenüber dem Rechtsgut Leben” offenbarte, ist auf der Grundlage der zu dem Messerstich getroffenen Feststellungen im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden.
Rz. 6
2. Demgegenüber hat die Nichtanordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB keinen Bestand.
Rz. 7
a) Das Landgericht hat bereits die Frage des Bestehens eines Hanges im Sinne des § 64 StGB nicht tragfähig begründet. Das Urteil weist insoweit Widersprüche auf.
Rz. 8
aa) Für die Annahme eines Hanges ist nach ständiger Rechtsprechung eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Konsum von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (st. Rspr.; vgl. Beschlüsse vom 18. Juli 2019 – 4 StR 80/19, NStZ-RR 2019, 275; vom 21. August 2012 – 4 StR 311/12; vom 10. September 1997, 2 StR 416/97; vom 17. Mai 2018 – 3 StR 166/18; jeweils mwN). Nicht erforderlich ist, dass beim Täter bereits eine Persönlichkeitsdepravation eingetreten ist (vgl. BGH, Beschluss vom 6. September 2007 – 4 StR 318/07, NStZ-RR 2008, 8). Dem Umstand, dass durch den Rauschmittelkonsum die Gesundheit sowie die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betroffenen beeinträchtigt sind, kommt nur eine indizielle Bedeutung zu. Das Fehlen solcher Beeinträchtigungen schließt nicht notwendigerweise die Bejahung eines Hanges aus (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. August 2012 – 4 StR 311/12; vom 1. April 2008 – 4 StR 56/08, NStZ 2008, 198).
Rz. 9
bb) Das Landgericht hat festgestellt, dass der zur Tatzeit 20 Jahre alte Angeklagte im Alter von 13 oder 14 Jahren erstmals Haschisch konsumierte. Zunächst rauchte er ein bis zwei Joints pro Woche. Später steigerte er den Konsum auf ein bis drei Gramm pro Tag. Vor den verfahrensgegenständlichen Taten nahm er täglich bis zu fünf Gramm Haschisch an Werk- und bis zu 15 Gramm an Wochenendtagen zu sich. Im Alter von 14 oder 15 Jahren begann er zudem, Alkohol zu trinken. Erst konsumierte er eine halbe Flasche Whiskey. In den letzten Monaten vor den Taten trank er bis zu einer Flasche hochprozentiger Spirituosen pro Tag. Dadurch verzeichnete er eine deutliche Toleranzentwicklung. Ab dem 15. oder 16. Lebensjahr nahm er außerdem auf Partys bis zu fünf Tabletten Ecstasy zu sich. Andere Betäubungsmittel – etwa Amphetamin – konsumierte er nur vorübergehend. Die Kombination aus Haschisch, Alkohol und Ecstasy steigerte einerseits seine positiven Gefühle und verstärkte andererseits negative Empfindungen wie Gereiztheit und Aggressivität.
Rz. 10
Trotz des festgestellten Konsumverhaltens hat das Landgericht das Vorliegen eines Hanges im Sinne von § 64 StGB verneint. Zwar spreche die Dauer und Anzahl der konsumierten Betäubungsmittel für einen Hang. Der Angeklagte pflege aber einen kontrollierten, teilweise kritischen Umgang mit den Rauschmitteln. Er könne den Konsum zielgerichtet steuern und sich von ihm distanzieren, wenn ihm das aus Gründen der Lebensführung notwendig erscheine. So konsumiere er an Werktagen weniger Haschisch als am Wochenende, damit er noch arbeitsfähig bleibe. Außerdem habe er den Konsum von Amphetamin und anderen Betäubungsmitteln aufgegeben, weil er geistige Schäden befürchtete. Der Rauschmittelkonsum stelle daher für ihn keine Handlungsmaxime auf.
Rz. 11
Diese zur Ablehnung des Hanges im Sinne von § 64 StGB herangezogene Begründung steht bereits in einem unaufgelösten Widerspruch zu den an anderer Stelle des Urteils wiedergegebenen Ausführungen des Sachverständigen Dr. G., der ein Abhängigkeitssyndrom des Angeklagten von Alkohol (ICD-10 F 10.21), Cannabinoiden (ICD-10 F 12.21) und Psychostimulantien (ICD-10 F 15.21) diagnostiziert hat. Das Landgericht ist den Ausführungen des Sachverständigen bei der Bewertung der Schuldfähigkeit gefolgt. Zudem hat es bei der Prüfung der Anwendbarkeit von Jugendstrafrecht maßgeblich darauf abgestellt, dass sich der Angeklagte nicht „von seiner im Jugendlichenalter entstandenen Abhängigkeit von Alkohol, Cannabinoiden und Psychostimulantien” distanziert habe. Mit einem vom Landgericht angenommenen kontrollierten Konsumverhalten des Angeklagten lassen sich diese Ausführungen zu einem fortbestehenden Abhängigkeitssyndrom nicht in Einklang bringen.
Rz. 12
Es kommt deshalb nicht mehr entscheidend darauf an, ob das Landgericht vor diesem Hintergrund zudem dem Erhalt der Arbeitsfähigkeit eine zu große indizielle Bedeutung beigemessen hat.
Rz. 13
b) Die Strafkammer ist außerdem von einem zu engen Verständnis des symptomatischen Zusammenhangs im Sinne des § 64 StGB ausgegangen.
Rz. 14
aa) Ein symptomatischer Zusammenhang liegt bereits vor, wenn die Tat in dem Hang ihre Wurzel findet. Die konkrete Tat muss also Symptomwert für den Hang des Täters zum Missbrauch von Rauschmitteln haben, indem sich in ihr seine hangbedingte Gefährlichkeit äußert (vgl. BGH, Urteil vom 7. Dezember 2017 – 1 StR 320/17, juris Rn. 42; Beschlüsse vom 20. September 2017 – 1 StR 348/17, juris Rn. 11; und vom 10. November 2015 – 1 StR 482/15, NStZ-RR 2016, 113 f.). Dabei ist nicht erforderlich, dass der Hang die alleinige Ursache für die Anlasstaten ist. Vielmehr ist ein symptomatischer Zusammenhang auch dann zu bejahen, wenn der Hang neben anderen Umständen mit dazu beigetragen hat, dass der Angeklagte erhebliche rechtswidrige Taten begangen hat, und dies bei einem unveränderten Suchtverhalten auch für die Zukunft zu besorgen ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. August 2012 – 4 StR 311/12; vom 30. September 2003 – 4 StR 382/03; vom 25. Mai 2011 – 4 StR 24/11; und vom 25. Oktober 2011 – 4 StR 416/11).
Rz. 15
bb) Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass die Taten des Angeklagten nicht auf seinem Rauschmittelkonsum beruhen, sondern ihre „Wurzel in der Persönlichkeitsdisposition” des Angeklagten fanden. Gleichwohl hat es dem Angeklagten im Rahmen der Strafzumessung zu Gute gehalten, dass er die Taten im Zustand „alkohol- und betäubungsmittelbedingter Enthemmung” beging. Es hat mithin eine Mitursächlichkeit der Mischintoxikation für die Tatbegehung angenommen. Dass neben dem Einfluss der Betäubungsmittel und anderen Rauschmitteln weitere Umstände wie die „Persönlichkeitsdisposition” des Angeklagten, eine „unangemessene Verarbeitung von Negativerlebnissen aus der Jugendzeit”, das „Gefühl der Zurückweisung und gekränkter Ehre” und das „Wiederaufleben gewaltgeprägter Geschehnisse aus der Vergangenheit” eine Rolle für die Tatbegehung gespielt haben, schließt den symptomatischen Zusammenhang zwischen Hang und Anlasstaten nicht aus.
Rz. 16
c) Da das Vorliegen der übrigen Unterbringungsvoraussetzungen nach den Feststellungen des Landgerichts nicht von vornherein ausscheidet, muss über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a StPO) neu verhandelt und entschieden werden.
Rz. 17
3. Die rechtsfehlerhafte Ablehnung der Maßregelanordnung zieht gemäß § 5 Abs. 3, § 105 Abs. 1 JGG wegen des dort vorgegebenen sachlichen Zusammenhangs zwischen Strafe und Unterbringung die Aufhebung des an sich rechtsfehlerfrei begründeten Strafausspruchs nach sich (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. November 2014 – 5 StR 509/14; vom 27. Oktober 2015 – 3 StR 314/15, StV 2016, 734; vom 6. Juli 2018 – 1 StR 261/18, StV 2019, 259; vom 8. November 2018 – 1 StR 482/18, NStZ-RR 2019, 74; jeweils mwN).
Unterschriften
Sost-Scheible, Roggenbuck, Feilcke, Ri'inBGH Dr. Bartel ist im Urlaub und daher gehindert zu unterschreiben. Sost-Scheible, Paul
Fundstellen
Haufe-Index 13485480 |
NStZ-RR 2019, 368 |
StV 2021, 91 |