Entscheidungsstichwort (Thema)
Vollstreckung in erweitert pfändbare Bezüge des Schuldners. Neugläubiger. Insolvenzgläubiger. Zuständigkeit des Insolvenzgerichts bei Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung. Begründetheit der Rechtsbeschwerde
Leitsatz (amtlich)
1. Die Vollstreckung in die erweitert pfändbaren Bezüge des Schuldners ist nur Neugläubigern von Unterhalts- und Deliktsansprüchen, nicht aber Unterhalts- und Deliktsgläubigern gestattet, die an dem Insolvenzverfahren teilnehmen.
2. Das Insolvenzgericht ist gem. § 89 Abs. 3 InsO zur Entscheidung über Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung berufen, gleich ob die beantragte Maßnahme angeordnet oder ihr Erlass abgelehnt wurde. Auf eine Verletzung der Zuständigkeitsregelung kann die Rechtsbeschwerde nicht gestützt werden.
Normenkette
InsO § 89 Abs. 2 S. 2, Abs. 3; ZPO § 576 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Heilbronn (Beschluss vom 16.01.2006; Aktenzeichen 1 T 530/05) |
AG Schwäbisch Hall (Entscheidung vom 21.11.2005; Aktenzeichen 1 M 1876/05) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer des LG Heilbronn vom 16.1.2006 wird auf Kosten der Gläubigerin zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert für die Rechtsbeschwerdeinstanz wird auf 500 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
[1] Mit Beschluss des AG Heilbronn vom 11.10.2002 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet. Die Gläubigerin ist Inhaberin eines vor Insolvenzeröffnung gegen den Schuldner erwirkten Zahlungstitels. Nach ihrer Darstellung liegt der Forderung eine vorsätzlich unerlaubte Handlung des Schuldners zugrunde. Die Gläubigerin erteilte der zuständigen Gerichtsvollzieherin einen Auftrag zur Zwangsvollstreckung, Abnahme der eidesstattlichen Versicherung und Verhaftung. Durch Schreiben vom 2.7.2005 teilte die Gerichtsvollzieherin der Gläubigerin mit, dass das Vollstreckungsverfahren wegen des laufenden Insolvenzverfahrens eingestellt werde.
[2] Die von der Gläubigerin gegen die Weigerung der Gerichtsvollzieherin, den Vollstreckungsauftrag zu erledigen, eingelegte Erinnerung hat das AG - Vollstreckungsgericht - Schwäbisch-Hall zurückgewiesen. Die dagegen von der Gläubigerin erhobene sofortige Beschwerde hat das LG Heilbronn zurückgewiesen. Mit der von dem Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Gläubigerin ihr Begehren weiter.
II.
[3] Die statthafte (§ 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) und auch im Übrigen zulässige (§ 574 Abs. 2 ZPO) Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.
[4] 1. Zwar war in vorliegender Sache anstelle des Vollstreckungsgerichts das Insolvenzgericht zur Entscheidung berufen (§ 89 Abs. 3 InsO). Sofern die Vollstreckungsverbote des § 89 Abs. 1 und 2 InsO nicht beachtet werden, hat über die dagegen nach allgemeinem Vollstreckungsrecht statthafte Erinnerung (§ 766 ZPO) anstelle des Vollstreckungsgerichts aufgrund seiner größeren Sachnähe gem. § 89 Abs. 3 Satz 1 InsO das Insolvenzgericht zu befinden (BT-Drucks. 12/2443, 137 f. zu § 100 RegE zur InsO). Die Zuständigkeit des Insolvenzgerichts ist nicht nur begründet, falls nach einer tatsächlich durchgeführten Zwangsvollstreckung mit einem Rechtsbehelf Verstöße gegen § 89 Abs. 1 und 2 InsO gerügt werden (MünchKomm/InsO/Breuer, 2. Aufl., § 89 Rz. 38; Nerlich/Römermann/Wittkowski, InsO § 89 Rz. 30; App NZI 1999, 138, 140). Vielmehr ist sie auch dann gegeben, wenn die Vollstreckungsorgane - wie hier - unter Berufung auf § 89 Abs. 1 und 2 InsO den Erlass der beantragten Vollstreckungsmaßnahme ablehnen. Die Verweigerung einer Vollstreckungsmaßnahme kann als actus contrarius nicht anders als ihre Anordnung behandelt werden (vgl. Kübler/Prütting/Lüke, InsO § 89 Rz. 34). Auf die Unzuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts kann jedoch die Rechtsbeschwerde nicht gestützt werden (§ 576 Abs. 2 ZPO). Dem Rechtsbeschwerdegericht ist auch die Prüfung entzogen, ob das erstinstanzliche Gericht funktionell zuständig war (BGH, Beschl. v. 26.6.2003 - III ZR 91/03, FamRZ 2003, 1273 f.; v. 4.7.2007 - VII ZB 6/05, Tz. 7 zur Veröffentlichung bestimmt).
[5] 2. Das LG hat zur Begründetheit der sofortigen Beschwerde ausgeführt, die Gläubigerin sei Insolvenzgläubigerin i.S.d. § 38 InsO, weil sie aus einer vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens titulierten Forderung vollstrecke. Das Vollstreckungsprivileg des § 89 Abs. 2 Satz 2 InsO gelte aufgrund seiner systematischen Stellung und seines Wortlauts nur zugunsten sog. Neugläubiger, die ihre Ansprüche gegen den Schuldner erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erworben hätten. Obwohl Neugläubiger am Insolvenzverfahren nicht teilnähmen, erstrecke § 89 Abs. 2 Satz 1 InsO das Vollstreckungsverbot für künftige Forderungen aus einem Dienstverhältnis auf sie. Zur Abmilderung dieser Vollstreckungssperre sehe § 89 Abs. 2 Satz 2 InsO eine Ausnahme zugunsten der privilegierten Neugläubiger vor, denen als Unterhalts- oder Deliktsgläubiger wegen ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit die Vollstreckung in den nicht allgemein pfändbaren Teil der künftigen Bezüge gestattet werde. Die von der Gläubigerin geforderte Anwendung der Bestimmung auch auf Insolvenzgläubiger, die zugleich Deliktsgläubiger seien, führe zu einer nicht hinnehmbaren Benachteiligung der Neugläubiger. Eine die analoge Anwendung des § 89 Abs. 2 Satz 2 InsO zugunsten aller Deliktsgläubiger rechtfertigende Regelungslücke sei nicht erkennbar.
[6] 3. Diese Würdigung hält rechtlicher Prüfung stand.
[7] a) Die Gläubigerin gehört als Insolvenzgläubigerin, selbst wenn ihre Forderung aus einer vorsätzlich unerlaubten Handlung des Schuldners herrührt, nicht zu dem durch § 89 Abs. 2 Satz 2 InsO privilegierten Kreis von Neugläubigern, denen die Vollstreckung in erweitert pfändbare künftige Bezüge des Schuldners gestattet ist.
[8] aa) § 89 Abs. 1 InsO schließt zur Sicherstellung der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger während der Dauer des Insolvenzverfahrens jede Einzelvollstreckung der Insolvenzgläubiger sowohl in die Insolvenzmasse als auch in das insolvenzfreie Vermögen des Schuldners aus. Während der Dauer des Insolvenzverfahrens entstehende Bezüge fallen wegen der Einbeziehung des Neuerwerbs durch § 35 InsO in die Insolvenzmasse. Da Insolvenzgläubigern durch § 89 Abs. 1 InsO die Vollstreckung in das insolvenzfreie Vermögen des Schuldners verwehrt ist, umfasst das Verbot auch die Vollstreckung in künftige, nach Verfahrensbeendigung fällig werdende Bezüge des Schuldners aus einem Dienstverhältnis (MünchKomm/InsO/Breuer, a.a.O., § 89 Rz. 35; HK-Eickmann, InsO 4. Aufl., § 89 Rz. 3).
[9] bb) § 89 Abs. 2 Satz 1 InsO erstreckt das für Insolvenzgläubiger geltende Verbot der Vollstreckung in künftige Forderungen aus Dienstverhältnissen auf alle nach Verfahrenseröffnung hinzukommenden Neugläubiger des Schuldners und auf Gläubiger der Unterhaltsansprüche, die gem. § 40 InsO im Verfahren nicht geltend gemacht werden können (Nerlich/Römermann/Wittkowski, a.a.O., § 89 Rz. 28). Mit Hilfe dieser Regelung soll der Schuldner in den Stand gesetzt werden, nach Verfahrensbeendigung seine pfändbaren Forderungen auf Bezüge aus einem Dienstverhältnis zum Zwecke der Restschuldbefreiung an einen Treuhänder abzutreten (§ 287 Abs. 2 InsO; FK-InsO/App, 4. Aufl., § 89 Rz. 13; MünchKomm/InsO/Breuer, a.a.O., § 89 Rz. 35).
[10] cc) Das danach grundsätzlich auf Neugläubiger erstreckte Vollstreckungsverbot des § 89 Abs. 2 Satz 1 InsO findet in § 89 Abs. 2 Satz 2 InsO zugunsten solcher Neugläubiger eine Ausnahme, die aus Unterhalts- oder Deliktsansprüchen in den Teil der Bezüge vollstrecken, der für sie erweitert pfändbar ist (§§ 850d, 850 f Abs. 2 ZPO). Dieser nicht zur Insolvenzmasse gehörende Teil der Bezüge wird von der die Restschuldbefreiung bezweckenden Abtretung der (pfändbaren) Bezüge an den Treuhänder nicht erfasst und unterliegt darum dem Zugriff der privilegierten Neugläubiger (BT-Drucks. 12/2443, 137 f zu § 100 RegE zur InsO). Die Besserstellung durch § 89 Abs. 2 Satz 2 InsO gilt - wie die tatbestandliche Anknüpfung an § 89 Abs. 2 Satz 1 InsO unzweideutig zum Ausdruck bringt - nur für Neugläubiger von Unterhalts- und Deliktsansprüchen, aber nicht auch für Unterhalts- und Deliktsgläubiger, die an dem Insolvenzverfahren teilnehmen (BGH, Beschl. v. 28.6.2006 - VII ZB 161/05, ZinsO 2006, 1166; OLG Zweibrücken ZInsO 2001, 625; MünchKomm/InsO/Breuer, a.a.O., § 89 Rz. 36; HK-Eickmann, a.a.O., § 89 Rz. 3, 14; HambKomm-InsO/Kuleisa, 2. Aufl., § 89 Rz. 16; Uhlenbruck, InsO 12. Aufl., § 89 Rz. 22; Steder ZIP 1999, 1874, 1881; BT-Drucks. 12/2443, a.a.O.). Wegen ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit wird das Vollstreckungsverbot zugunsten der Neugläubiger, die im Insolvenzverfahren nicht berücksichtigt werden und infolge der Einbeziehung des Neuerwerbs in die Insolvenzmasse (§ 35 InsO) keinen realistischen Vollstreckungszugriff auf das insolvenzfreie Vermögen haben, im Umfang der erweitert pfändbaren Beträge gelockert (OLG Zweibrücken, a.a.O., S. 625 f.; Kübler/Prütting/Lüke, a.a.O., § 89 Rz. 29). Hingegen soll Unterhalts- und Deliktsgläubigern, die ohnehin an der gemeinschaftlichen Befriedigung im Insolvenzverfahren beteiligt sind, nicht ein zusätzlicher Vollstreckungszugriff gestattet werden (MünchKomm/InsO/Breuer, a.a.O., § 89 Rz. 36). Da die Gläubigerin zu den im Verfahren zu berücksichtigenden Insolvenzgläubigern gehört, kann sie sich nicht auf den Ausnahmetatbestand des § 89 Abs. 2 Satz 2 InsO berufen.
[11] b) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde kann den Vorschriften des §§ 302 Nr. 1, 114 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 3 InsO nicht die Wertentscheidung entnommen werden, das Vollstreckungsprivileg des § 89 Abs. 2 Satz 2 InsO über die Neugläubiger hinaus sämtlichen Unterhalts- und Deliktsgläubigern zugute kommen zu lassen.
[12] aa) § 302 Nr. 1 InsO schließt die schuldbefreiende Wirkung der Restschuldbefreiung für Verbindlichkeiten aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung aus, sofern der Gläubiger die Forderung unter Angabe dieses Rechtsgrundes angemeldet hat. Diese Bestimmung bezieht sich lediglich auf die insolvenzrechtliche Nachhaftung, ohne dem Gläubiger innerhalb des Insolvenzverfahrens eine bevorzugte Befriedigungsmöglichkeit zuzuweisen (vgl. BGHZ 149, 100, 106 f.; BGH, Urt. v. 21.6.2007 - IX ZR 29/06, WM 2007, 1620 zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).
[13] bb) Gemäß §§ 114 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 3, 89 Abs. 2 Satz 2 InsO bleiben vor Insolvenzeröffnung erwirkte Vollstreckungsmaßnahmen von Unterhalts- und Deliktsgläubigern in den erweitert pfändbaren Teil der Bezüge wirksam. Diese Regelung beschränkt sich - wie das Beschwerdegericht zutreffend dargelegt hat - auf eine vor Insolvenzeröffnung bewirkte Vollstreckung. Davon abweichend verbietet hingegen § 89 Abs. 2 Satz 2 InsO aus Gründen der Gleichbehandlung aller Gläubiger eine Einzelvollstreckung durch Unterhalts- und Deliktsgläubiger, die Insolvenzgläubiger sind, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens.
Fundstellen