Tenor
Der Senat hält an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, die den vom 3. Strafsenat beabsichtigten Entscheidungen entgegensteht.
Gründe
Der 3. Senat beabsichtigt zu entscheiden:
„Die Erklärung des Angeklagten, auf Rechtsmittel zu verzichten, ist unwirksam, wenn ihr eine Urteilsabsprache vorausgegangen ist, in der unzulässigerweise (BGHSt 43, 195, 204) ein Rechtsmittelverzicht versprochen worden ist. Dies gilt auch für den Rechtsmittelverzicht, auf den das Gericht, ohne ihn sich im Rahmen der Absprache unzulässigerweise versprechen zu lassen, lediglich hingewirkt hat.”
Mit Beschluß vom 24. Juli 2003 – 3 StR 368/02 und 3 StR 415/02 hat der 3. Strafsenat daher bei den anderen Senaten angefragt, ob an entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird.
Zutreffend hat der 3. Strafsenat in seinem Anfragebeschluß (S. 13 ff.) ausgeführt, daß den beabsichtigten Entscheidungen in den beiden Ausgangsverfahren Rechtsprechung des 2. Strafsenats entgegensteht (vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 20. Juni 1977 – 2 StR 275/97 = NStZ 1997, 611; vom 25. Oktober 2000 – 2 StR 403/00; vom 11. Juni 2001 – 2 StR 223/01 = NStZ-RR 2001, 334 und vom 4. Juli 2001 – 2 StR 247/01). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest (nachfolgend I.). Darüberhinaus sollte schon wegen der grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 132 Abs. 4 GVG der Große Senat für Strafsachen mit der bedeutsamen Fragestellung und der sich daraus ergebenden Folgeproblematik zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung befaßt werden (nachfolgend II.).
I. Der Senat teilt die zur Anfrage bereits geäußerte Auffassung des 1. Strafsenats, soweit sie sich mit der Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts befaßt und beschränkt sich daher auf die nachfolgenden Ausführungen.
Die in der Anfrage vertretene Rechtsauffassung überzeugt dogmatisch nicht. Prozeßerklärungen sind grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar. Motivirrtum, enttäuschte Erwartungen usw. führen nicht zur Anfechtbarkeit. Zwar hat die Rechtsprechung schon immer aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit Ausnahmen zugelassen, gerade auch bei der Frage der Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts. Als Ausnahme kamen zwar vielerlei Umstände in Betracht: Verhandlungsunfähigkeit, Dissens, nicht eingehaltene sonstige Zusagen, unrichtige Auskunft, unzulässige Willensbeeinflussung durch Täuschung, Drohung, übereilte Erklärung ohne Rücksprache mit dem Verteidiger usw.. In der Regel wurden jedoch nur schwerwiegende Willensmängel beachtet. Die Vorlage geht aber weit über diese Rechtsprechung hinaus, wenn sie schon bei Veranlassung zu einem Rechtsmittelverzicht eine Unwirksamkeit vorsieht, um die Absprache „zu sanktionieren”. Das Revisionsgericht hat den Tatrichter nicht zu „sanktionieren”. Der Senat hat – abweichend von den in BGHSt 43, 195 ff. aufgestellten Grundsätzen – keine Bedenken, daß bei einer formgerechten einverständlichen Verfahrenserledigung unter Mitwirkung aller Verfahrensbeteiligten (auch des Staatsanwalts und ggf. des Nebenklägers) ein allseitiger Rechtsmittelverzicht in Aussicht gestellt wird, mag ein solcher auch nicht bindend sein. Denn die Vereinbarung von Rechtskraft ist die selbstverständliche Grundlage für eine verfahrensbeendende Absprache. Schon von daher kann die Veranlassung zu einem Rechtsmittelverzicht nicht ohne weiteres die Unwirksamkeit der Prozeßerklärung (Rechtsmittelverzicht) nach sich ziehen. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 20. Juni 1997 – 2 StR 275/97 (NStZ 1997, 611 = BGHR § 302 StPO Rechtsmittelverzicht 18) diese Auffassung schon für den Fall vertreten, daß die Absprache unzulässig ist. Er hat eine andere Beurteilung lediglich dann für möglich erachtet, wenn diejenigen Gründe, die – allgemein oder im Einzelfall – der Zulässigkeit einer Absprache entgegenstehen, zugleich auch zur rechtlichen Mißbilligung des abgesprochenen Rechtsmittelverzichts führen würden. Hieran ist festzuhalten. Diese Überlegungen müssen aber erst recht gelten, wenn eine verfahrensbeendende Absprache grundsätzlich für zulässig erachtet wird.
Für die Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung sprechen auch weitere Gesichtspunkte:
1. Von der Prozeßhandlung hängt hier die Rechtskraft ab, an die vielerlei Rechtsfolgen geknüpft sind. Die Rechtssicherheit muß an klaren Anknüpfungspunkten festgemacht sein. Nur in Ausnahmefällen kann eine eindeutige Prozeßerklärung – hier Rechtsmittelverzicht – unwirksam sein. Ein solcher Ausnahmefall kann nicht allein darin gesehen werden, daß dem Rechtsmittelverzicht eine Verständigung vorausgegangen ist. Das gilt jedenfalls dann nicht, wenn die Verständigung ihrerseits nicht rechtlicher Mißbilligung unterliegt. Eine rechtliche Mißbilligung kann nicht daraus hergeleitet werden, daß Grundlage der Verständigung auch eine Verfahrensbeendigung war und ist. Ein „Hinwirken” des Gerichts auf Rechtsmittelverzichte entspricht zwar nicht den RiStBV (Nr. 142 Abs. 2) führt aber nicht zur Unwirksamkeit des erklärten Verzichts, egal, ob eine Verständigung vorangegangen ist oder nicht. Die Anknüpfung an ein „Veranlassen” durch das Gericht wäre kein klarer Ausgangspunkt zur Beurteilung der Rechtskraft.
2. Der Angeklagte kann unterschiedliche Gründe haben, durch Rechtsmittelverzicht Rechtskraft herbeizuführen: Er kann mit dem gefundenen Ergebnis zufrieden sein. Er kann vermeiden wollen, daß Staatsanwaltschaft und/oder Nebenkläger, die sich ihrerseits an die Absprache halten, eine Verschlechterung für ihn erreichen können usw..
Es ist kaum möglich, hier Motivforschung zu betreiben. Das Revisionsgericht müßte im Freibeweisverfahren umfänglich Beweis über die Verständigung selbst, das Verhalten des Gerichts nach Urteilsverkündung und die Umstände der Rechtsmittelverzichtserklärung erheben. Die im Vorlagebeschluß angedachte Beweisregel entspricht nicht der in BGHSt 16, 164, 167 vertretenen Auffassung, daß die tatsächliche Richtigkeit von Behauptungen, aus denen sich ein verfahrensrechtlicher Verstoß ergeben soll, erwiesen sein muß und nicht lediglich nach dem Grundsatz „in dubio pro reo” unterstellt werden kann.
Geht man davon aus, daß allseitiger Rechtsmittelverzicht in der Praxis sowieso „Geschäftsgrundlage” ist, kann die Veranlassung des Gerichts, die Abmachung einzuhalten, ohnehin nicht zur Unwirksamkeit der Rechtsmittelverzichtserklärung führen.
3. Mit der im Vorlagebeschluß verbundenen Rechtsauffassung kann das dort intendierte Ergebnis nicht erreicht werden; die Praxis kann dies unschwer unterlaufen. Es würden vielmehr zahlreiche Probleme entstehen (nachfolgend II.).
II. Die vom 3. Strafsenat beabsichtigte Änderung der Rechtsprechung führt zu einer Reihe von Folgeproblemen, die bereits jetzt bedacht werden müssen und nach § 132 Abs. 4 GVG eine Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen nahelegen.
1. Sollen die vorgeschlagenen Regeln auch beim Nebenkläger und dem Staatsanwalt gelten? Es kann nicht sein, daß nur der Angeklagte später von seinem Rechtsmittelverzicht wegkommt und dann nur noch eine geringere (als die in der Regel ohnehin niedrige Strafe) Rechtsfolge verhängt werden kann. Wie ist dieser Wegfall der Geschäftsgrundlage zu lösen?
2. Was ist, wenn nicht ein Rechtsmittelverzicht vereinbart wird, sondern „nur” ein Verstreichenlassen der Einlegungsfrist ? Im Hinblick auf die Dauer der Frist wird man kaum noch ein Fortwirken einer unzulässigen Willensbeeinflussung annehmen können. Ohnehin liegt es nicht nahe von unzulässiger Willensbeeinflussung zu sprechen, wenn die Verfahrensbeteiligten in freier Willensbetätigung jeweils Rechtsmittelverzicht oder Verstreichenlassen der Einlegungsfrist vereinbaren. Immerhin sieht das Gesetz (§ 302 StPO) einen Rechtsmittelverzicht vor. Eine Wiedereinsetzungsmöglichkeit müßte man dann trotz bewußten Verstreichenlassens der Frist bejahen. Dies widerspricht der Rechtsprechung (vgl. nur BGH NStZ 2001, 160), wonach derjenige, der von einem Rechtsbehelf bewußt keinen Gebrauch gemacht hat, nicht im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 1 StPO an der Einlegung „verhindert” war. Dies ist auch Rechtsprechung des 2. Strafsenats (vgl. insoweit nur Beschluß vom 16. Oktober 1992 – 2 StR 487/92) und stellt die Begründung dafür dar, daß gerade bei einem Rechtsmittelverzicht eine Wiedereinsetzung grundsätzlich nicht in Betracht kommt (vgl. hierzu u.a. Senatsbeschlüsse vom 7. Mai 2003 – 2 StR 120/03; vom 5. März 2003 – 2 StR 516/02; vom 24. Oktober 2001 – 2 StR 422/01). Auch an dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
3. Der Rechtsmittelverzicht geschieht nach Rücksprache des Angeklagten mit seinem Verteidiger. Warum auch der Verteidiger durch das Gericht unzulässig beeinflußt sein soll, erhellt sich nicht, zumal wenn er – wie häufig – im Interesse des Angeklagten, dem an schneller Rechtskraft (insbesondere am Rechtsmittelverzicht des Staatsanwalts!) gelegen ist, auf eine allseitige Verfahrensbeendigung selbst gedrängt hat.
4. Wie sind die Fälle zu lösen, wenn zunächst Rechtsmittel eingelegt und dann zurückgenommen werden? Hier müßte man schon gewaltsam konstruieren, um diese Rücknahme auch noch unwirksam zu machen. Auch mit dieser Methode (alle legen „pro forma” Rechtsmittel ein, um sie dann anschließend zurückzunehmen) könnte man die angestrebte Rechtsprechung leerlaufen lassen.
Man kann ohnehin Bedenken haben, eine „Zwangslage” des Angeklagten anzunehmen, wenn das Urteil, das dem abgesprochenen Ergebnis entspricht, verkündet wird.
5. Die Vorlage befaßt sich mit der unzulässigen Willensbeeinflussung durch das Gericht. Was ist, wenn der Angeklagte mittels Täuschung durch seinen Verteidiger zum Rechtsmittelverzicht veranlaßt wurde? Es sind durchaus Fälle denkbar, bei denen eine unzulässige Beeinflussung der freien Willensbetätigung des Angeklagten durch den Verteidiger vorliegt. Ist dann der daraufhin abgegebene Rechtsmittelverzicht ebenfalls unwirksam? Bisher hat man das aus guten Gründen verneint. Denn das könnte zur Folge haben, daß der Angeklagte jeden Rechtsmittelverzicht zur Unwirksamkeit bringen könnte, wenn bloß ein Verteidiger eine unzulässige Beeinflussung durch sich glaubhaft macht. Auch ein neuer Verteidiger könnte eine entsprechende anwaltliche Versicherung des ersten Verteidigers beibringen. Angeklagter und Verteidiger hätten jede Möglichkeit, einen Rechtsmittelverzicht unwirksam zu machen mit der Folge des Verschlechterungsverbotes, wenn man Staatsanwalt und Nebenkläger nicht auch Behelfe gibt.
6. Nicht geklärt ist die Situation, wenn es mehrere Angeklagte gibt. Hier kann man sich ohne weiteres vorstellen, wie kompliziert es wird, wenn teilweise eine Absprache stattgefunden hatte, teilweise nicht, mancher die Frist verstreichen läßt, ein anderer beeinflußt durch das Gericht Rechtsmittelverzicht erklärt, ein anderer ohne Beeinflussung durch das Gericht Rechtsmittelverzicht erklärt, einer Revision einlegt und dann (noch beeinflußt?) zurücknimmt usw.. Man kann zwar jeweils nach Angeklagten unterscheiden, aber häufig ist doch eine Verknüpfung über § 357 StPO gegeben. Rechtsklarheit und Rechtssicherheit wären nur noch schwer zu erkennen.
7. Da eine Absprache zu protokollieren ist, ist im Hinblick auf die negative Beweiskraft des Protokolls (§ 274 StPO) davon auszugehen, daß keine Verständigung stattgefunden hat, wenn nichts protokolliert ist. Beim Rechtsmittelverzicht muß deshalb grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß er nicht auf einer Absprache beruht, solange eine Verständigung nicht protokolliert ist. Nach Auffassung des 4. Strafsenats soll § 274 StPO in diesem Fall nicht gelten, um den Verfahrensbeteiligten eine Umgehungspraxis zu erschweren. Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (StV 2000, 3) könnte hierzu eine andere Meinung entnommen werden.
8. Unklar ist, was mit einem auf einer Absprache beruhenden Geständnis geschieht, wenn später die „Geschäftsgrundlage” weggefallen ist. Ob das Geständnis wirklich von den Richtern (insbesondere Schöffen) als unverwertbar ausgeblendet werden kann, erscheint zweifelhaft. Was ist mit einem dadurch veranlaßten Geständnis des Mitangeklagten, der nicht „gedealt” hat? Besteht die Gefahr des Überkompensierens durch unberechtigte Freisprüche?
9. In der Praxis wird von den Gerichten, insbesondere wenn sie ein „mildes Urteil” verhängt haben, auch ohne vorausgehende Verständigung zu einem Rechtsmittelverzicht gedrängt. Dies entspricht zwar nicht Nr. 142 Abs. 2 RiStBV, führte aber bisher (auch) nicht ohne weiteres zur Unwirksamkeit der Erklärung. Soll dies auch geändert werden oder nur, wenn eine Verständigung vorausging und das Urteil gerade der Erwartung des Angeklagten entspricht?
10. Der Gedanke einer „qualifizierten Belehrung” hilft nicht weiter.
Zum einen weiß der verteidigte Angeklagte, daß er noch Rechtsmittel einlegen darf; die Belehrung wäre in so einem Fall überflüssig. Zum anderen haben sich – nach der Praxis – alle auf eine Verfahrensbeendigung verständigt und dann vom Gericht zu verlangen, es solle den Angeklagten darüber belehren, daß er das abgesprochene Urteil, mit dem das Gericht durch Verkündung in Vorlage tritt, gleichwohl anfechten kann, ist befremdlich, wenn man davon ausgeht, daß allseitiger Rechtsmittelverzicht gerade Geschäftsgrundlage ist.
Da auf Rechtsmittelbelehrung verzichtet werden kann, wird man wohl auch auf eine „qualifizierte” Belehrung verzichten können. Dann läuft eine solche Forderung noch weitergehend ins Leere.
Eine solche Belehrung hätte nur eine Alibifunktion und würde in der Praxis nichts ändern.
III. Im übrigen bestehen im Gesamtsenat unterschiedliche Grundauffassungen über die Zulässigkeit von verfahrensbeendenden Absprachen im Strafprozeß.
Unterschriften
Rissing-van Saan, Otten, Rothfuß, Fischer, Roggenbuck
Fundstellen
Haufe-Index 2557651 |
NJW 2004, 1336 |
JurBüro 2004, 511 |
wistra 2004, 232 |
StV 2004, 196 |