Verfahrensgang
LG Dortmund (Entscheidung vom 29.06.2022; Aktenzeichen 39 Ks 2/22) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 29. Juni 2022 mit den Feststellungen aufgehoben; ausgenommen sind die Feststellungen zum Vortatgeschehen und zum äußeren Tatgeschehen, die bestehen bleiben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Die Verfahrensbeanstandungen bleiben ohne Erfolg, jedoch führt das Rechtsmittel mit der Sachrüge zur Aufhebung des Urteils in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Rz. 2
Nach den Feststellungen fasste der Angeklagte am 19. September 2021 gegen 5.39 Uhr spätestens beim Zusammentreffen mit der 25-jährigen später Getöteten den Entschluss, an ihr sexuelle Handlungen vorzunehmen und dieses Vorhaben im Fall von Gegenwehr notfalls mit Gewalt umzusetzen. Als die Geschädigte Annäherungsversuche des Angeklagten zurückwies, kam es in einem Park zu einem Kampfgeschehen, in dessen Verlauf der Angeklagte ihr mit einem Klappmesser mit neun Zentimetern Klingenlänge zahlreiche Stiche gegen den Hals, einen Stich gegen den Rippenbogen, wodurch ein Leberlappen durchtrennt wurde, und einen wuchtigen Stich gegen die linke Oberkörperseite versetzte, der zur Eröffnung des Herzbeutels führte. Das Opfer verstarb nach kürzester Zeit. Der Angeklagte schleifte die zu diesem Zeitpunkt mit großer Wahrscheinlichkeit bereits verstorbene, zumindest aber bewusstlose Geschädigte zum Ufer eines Teichs, wo er den Unterkörper der Geschädigten entkleidete, um sich durch das Betrachten des entblößten Genitalbereichs sexuelle Befriedigung zu verschaffen. Von dem unbekleideten Vaginalbereich fertigte der Angeklagte mit seinem Mobiltelefon zwei Lichtbilder, die er jeweils unmittelbar nach der Aufnahme wieder löschte.
Rz. 3
Der Angeklagte hielt den Tod der Geschädigten als Folge seines Handelns für möglich und fand sich vor dem Hintergrund seiner durchgehend angestrebten sexuellen Befriedigung damit ab. Ihm ging es von Anfang an um sexuelle Handlungen an der Geschädigten, die er notfalls mit Gewalt durchsetzen und bis zum Schluss gegebenenfalls auch nach dem Eintritt der Bewusstlosigkeit oder des von ihm für möglich gehaltenen Todes seines Opfers vornehmen wollte.
Rz. 4
Das sachverständig beratene Landgericht ist davon ausgegangen, dass beim Angeklagten zum Tatzeitpunkt aufgrund einer Borderline-Persönlichkeitsstörung die Fähigkeit, nach seiner unbeeinträchtigten Einsichtsfähigkeit zu handeln, erheblich eingeschränkt war (§ 21 StGB).
II.
Rz. 5
Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge weitgehend Erfolg. Während die Beweiswürdigung zum Vortatgeschehen und zum objektiven Tatgeschehen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist, hält diejenige zur Schuldfähigkeit des Angeklagten revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht stand (dazu unter 1.). Dies entzieht auch den Feststellungen zum Mordmerkmal „zur Befriedigung des Geschlechtstriebs“ die Grundlage und führt insgesamt zur Aufhebung des Schuldspruchs sowie der Feststellungen zur subjektiven Tatseite (dazu unter 2.).
Rz. 6
1. Die Schuldfähigkeitsprüfung des Landgerichts begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, da das Vorliegen eines Eingangsmerkmals im Sinne der §§ 20, 21 StGB nicht nachvollziehbar belegt ist.
Rz. 7
a) Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 10. November 2021 - 2 StR 173/21 Rn. 23; Beschluss vom 14. Juli 2016 - 1 StR 285/16 Rn. 7; Beschluss vom 12. März 2013 - 4 StR 42/13 Rn. 7). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 23. November 2022 - 5 StR 347/22 Rn. 11; Beschluss vom 17. November 2020 - 4 StR 390/20 Rn. 28). Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ stellt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht ohne weiteres eine hinreichende Grundlage für die Annahme einer relevanten Verminderung der Schuldfähigkeit des Täters dar. Vielmehr erreicht dieses Störungsbild nur dann den Schweregrad des § 21 StGB, wenn feststeht, dass der Täter aufgrund der Persönlichkeitsstörung aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Februar 2021 - 4 StR 495/20 Rn. 15; Beschluss vom 11. April 2018 - 2 StR 71/18 Rn. 7; jeweils mwN). Das Tatgericht hat in Fällen, in denen es - wie hier - dem Gutachten eines Sachverständigen folgt, grundsätzlich dessen wesentliche Anknüpfungstatsachen und Schlussfolgerungen so darzulegen, dass das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2020 - 4 StR 636/19 Rn. 6; Beschluss vom 2. April 2020 - 1 StR 28/20 Rn. 3; Urteil vom 5. April 2006 - 2 StR 41/06, NStZ-RR 2006, 235 Rn. 16; jeweils mwN).
Rz. 8
b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht, da weder die Diagnose noch der Schweregrad der Borderline-Persönlichkeitsstörung nachvollziehbar dargelegt sind.
Rz. 9
aa) Bereits die Diagnose einer Borderline-Störung ist nicht hinreichend ausgeführt. Zwar werden in den Urteilsgründen die Darlegungen der Sachverständigen zu der von ihr diagnostizierten schweren Borderline-Persönlichkeitsstörung auf narzisstisch-antisozialem Strukturniveau mitgeteilt, wonach bei dem Angeklagten eine ganze Reihe von Hinweisen auf eine frühe strukturelle Störung seiner Persönlichkeit gegeben sei (unzureichende Trennung von Selbst und Objekt, keine Toleranz von Zurückweisung, keine erkennbare Affekt- und Frustrationstoleranz, Sexualisierung von Unlustgefühlen). Jedoch lässt sich auch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe nicht entnehmen, auf welche Anknüpfungstatsachen die Sachverständige - und ihr folgend die Strafkammer - diese Hinweise stützt. Auch soweit die Sachverständige darauf verweist, die Persönlichkeitsstörung liege der gesamten Deliktsbiographie sexueller Übergriffe des Angeklagten zugrunde, wird die Grundlage für diese Bewertung der Sachverständigen nicht mitgeteilt und ist auch sonst aus den Urteilsgründen nicht ersichtlich. Bei den insgesamt zwei früheren Verurteilungen des Angeklagten wegen Sexualdelikten ist hinsichtlich eines Urteils aus dem Jahr 2012 wegen sexueller Nötigung eine Beeinflussung durch eine Borderline-Störung nicht ersichtlich und zu der mit einem Urteil aus dem Jahr 2014 geahndeten Vergewaltigung wird ausdrücklich mitgeteilt, dass die beginnende kombinierte Persönlichkeitsstörung des Angeklagten nach ihrem Schweregrad nicht das Eingangsmerkmal einer schweren anderen seelischen Störung erfüllt habe. Auch in Bezug auf eine Einstellung gemäß § 47 JGG aus dem Jahr 2017 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern, Verbreitung pornografischer Schriften u. a. ist den Urteilsgründen ein Zusammenhang mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung des Angeklagten nicht zu entnehmen.
Rz. 10
bb) Auch ein die Voraussetzungen des § 21 StGB erfüllender Schweregrad der Borderline-Störung ist nicht nachvollziehbar dargelegt. Dazu, ob der Angeklagte aufgrund der Persönlichkeitsstörung aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat, verhält sich das Urteil nicht. Die Urteilsgründe teilen insoweit zwar die Einschätzung der Sachverständigen mit, wonach beim Angeklagten die Sexualisierung von Unlustgefühlen zu einer impulsiven und unbedingten Umsetzung sexueller Verhaltensweisen führe und persönlichkeitsstrukturell das Hemmungsvermögen des Angeklagten auf aggressive Handlungen „beträchtlich“ vermindert gewesen sei. Die von der Sachverständigen zur Prüfung des Schweregrads der Störung herangezogenen und beim Angeklagten sämtlich als erfüllt angesehenen Kriterien (u. a. erhebliche Auffälligkeit der affektiven Ansprechbarkeit bzw. der Affektregulation, Einengung der Lebensführung und Stereotypisierung des Verhaltens, Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung, Störung des Selbstwertgefühls) werden jedoch lediglich genannt, ohne dass die entsprechenden Anknüpfungstatsachen für die Bewertung mitgeteilt werden. Worauf diese Wertung beruht, lässt sich auch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe nicht entnehmen. Die Darlegung ist auch nicht entbehrlich, denn angesichts des gesteuerten Verhaltens des Angeklagten unmittelbar nach der Tat (Löschen der beiden Lichtbilder des Tatopfers), versteht sich ein Handeln aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus nicht von selbst.
Rz. 11
2. Der Schuldspruch wegen Mordes gemäß § 211 Abs. 2 StGB kann nicht bestehen bleiben, weil die Rechtsfehler bei der Schuldfähigkeitsprüfung auch die Beurteilung des Mordmerkmals „zur Befriedigung des Geschlechtstriebs“ beeinflusst haben können.
Rz. 12
a) Das Mordmerkmal „zur Befriedigung des Geschlechtstriebs“ gemäß § 211 Abs. 2 StGB ist gegeben, wenn geschlechtliche Befriedigung in der Tötung gesucht wird oder wenn der Tod des Opfers zu diesem Zweck angestrebt oder billigend in Kauf genommen wird (vgl. BGH, Urteil vom 22. April 2005 - 2 StR 310/04, NJW 2005, 1876 Rn. 19; Urteil vom 17. September 1963 - 1 StR 301/63, BGHSt 19, 101, NJW 1963, 2236). Erforderlich ist, dass der Täter im Augenblick der Tötungshandlung von sexuellen Motiven geleitet wird (vgl. BGH, Beschluss vom 13. August 2003 - 2 StR 243/03, NStZ 2004, 8 Rn. 10; Schneider in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 211 Rn. 58 mwN).
Rz. 13
b) Die defizitären Darlegungen zur Diagnose und zum Schweregrad der Borderline-Persönlichkeitsstörung betreffen auch die Feststellungen zur Motivlage des Angeklagten. Zwar hat die Strafkammer ihre Annahme, dass die Tat des Angeklagten von Beginn an sexuell motiviert gewesen sei und der Angeklagte das Streben nach sexueller Befriedigung zu keinem Zeitpunkt aufgegeben habe, maßgeblich auf die Auffindesituation des am Unterkörper entkleideten Opfers und die von dem Angeklagten gefertigten Fotos gestützt. Ihre defizitären Darlegungen zum Vorliegen einer Borderline-Störung und zu den Voraussetzungen des § 21 StGB stehen zu der angenommenen Motivlage bei dem Angeklagten aber in einem so engen Zusammenhang, dass eine getrennte Beurteilung nicht in Betracht kommt. Dies gilt insbesondere mit Rücksicht auf die Annahme einer „persönlichkeitsstrukturell“ begründeten Verminderung des Hemmungsvermögens in Bezug auf aggressive sexuelle Handlungen und einer „intrapsychischen Notwendigkeit“, Wut und Hass in sexualisierter Weise auszuleben.
Rz. 14
3. Um dem zur neuen Entscheidung berufenen Tatgericht insgesamt widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen, hebt der Senat sämtliche möglicherweise von den Schuldfähigkeitsfragen tangierte Feststellungen zur subjektiven Tatseite auf. Die Feststellungen zu äußeren Tatgeschehen und zum Vortatgeschehen sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen und können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO).
Rz. 15
4. Das neue Tatgericht wird zu beachten haben, dass die Anordnung einer Unterbringung nach § 63 StGB erfordert, dass das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Annahme erheblich verminderter Schuldfähigkeit sicher feststeht (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Februar 2019 - 2 StR 505/18 Rn. 16; Urteil vom 6. Juli 2017 - 4 StR 65/17 Rn. 10). Gegebenenfalls wird bei der individuellen Gefährlichkeitsprognose angesichts der besonderen Bedeutung etwaiger Vorstrafen (vgl. BGH, Urteil vom 17. Februar 2021 - 2 StR 294/20 Rn. 33; Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306 Rn. 9; Urteil vom 23. November 2016 - 2 StR 108/16 Rn. 12) der Umstand in den Blick zu nehmen sein, dass die letzte abgeurteilte Tat des Angeklagten im Jahr 2013 begangen wurde. Außerdem wird das neue Tatgericht zu prüfen haben, ob die zugrunde liegende Tat in einem inneren Zusammenhang mit der Erkrankung des Angeklagten stand (vgl. BGH, Beschluss vom 25. August 2022 - 1 StR 265/22 Rn. 10; Beschluss vom 19. Januar 2021 - 4 StR 449/20 Rn. 20).
Quentin |
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Bartel |
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Rommel |
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Scheuß |
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Momsen-Pflanz |
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Fundstellen
Haufe-Index 15782902 |
NStZ-RR 2023, 271 |
StV 2024, 293 |