Normenkette
StGB §§ 20-21
Verfahrensgang
LG Erfurt (Entscheidung vom 21.10.2019; Aktenzeichen 3 KLs 140 Js 34053/15 jug (2)) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 21. Oktober 2019 im gesamten Straf- und Maßregelausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 34 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt, seine Unterbringung in eine Entziehungsanstalt nebst Vorwegvollzug angeordnet und eine Kompensationsentscheidung getroffen. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten, mit der die Verletzung sachlichen Rechts gerügt wird, hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Rz. 2
Die Revision ist in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang begründet.
Rz. 3
1. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Prüfung des angefochtenen Urteils hat zum Schuldspruch keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben.
Rz. 4
2. Hingegen halten der Straf- und der Maßregelausspruch sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.
Rz. 5
a) Der Strafausspruch erweist sich als durchgehend rechtsfehlerhaft. Das Landgericht hat das Fehlen einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit nicht ausreichend belegt.
Rz. 6
aa) Das sachverständig beratene Landgericht hat im Ergebnis eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit verneint und dies im Wesentlichen wie folgt begründet:
Rz. 7
Beim Angeklagten sei eine Vielzahl heterogener psychopathologischer Phänomene festzustellen, welche auf das Vorliegen einer „komplexen psychischen Alteration“ von Krankheitswert hindeuten würden. Der Angeklagte leide unter einer Einschränkung seiner intellektuellen Leistungsfähigkeit in Gestalt einer Lernbehinderung mit ADHS-Syndrom, mangels erforderlichen Schweregrades sei das Eingangsmerkmal des Schwachsinns aber nicht erfüllt. Beim Angeklagten liege eine von ihm auch nicht in Abrede gestellte „Tendenz vor, Alkohol im Übermaß zu konsumieren“. Mit Blick auf das Eingangsmerkmal der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung seien durch seine Alkoholsucht zwar „Färbungen“ in seinem Verhaltensmuster eingetreten. Es hätten sich indes keine Hinweise auf eine „(sowohl toxisch als auch anders geartete)“ maßgebliche Beeinträchtigung seiner Bewusstseinslage „vor den ihm hier vorgeworfenen Taten“ ergeben, ebenso wenig Hinweise auf eine „im Tatzeitraum“ vorhanden gewesene erhebliche Alkoholintoxikation. Auch bei Unterstellung einer „potenziell in Betracht zu ziehenden alkoholtoxisch vermittelten Persönlichkeitsdepravation und damit zusätzlichen Herabsetzung seiner Hemmschwelle“ ließen sich keine Hinweise für eine maßgebliche Beeinträchtigung seiner Erkenntnisfähigkeit sowie seiner Willensbildung finden; sein Tatverhalten sei zudem von planvollem Vorgehen gekennzeichnet gewesen, sein Nachtatverhalten ausgeprägt angepasst. Der teilweise einen exzessiven Umfang annehmende, weiterhin praktizierte „inkonstante aktive“ Alkoholkonsum rechtfertige in Kombination mit den vielfältigen alkoholtoxisch vermittelten Folgeschäden aber die Annahme des Eingangsmerkmals einer krankhaften seelischen Störung. Zusätzlich vom Angeklagten beschriebene, in unterschiedlicher Intensität auftretende „Irritationen in seiner psychosozialen Unversehrtheit“ könnten überdies die Verdachtsdiagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung begründen. Der Angeklagte weise ferner eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit sowohl impulsiven als auch antisozialen Zügen auf, die unter Berücksichtigung ihrer Schwere „grundsätzlich geeignet (sei)“, das Eingangsmerkmal der schweren seelischen Störung zu erfüllen.
Rz. 8
Diesen Ausführungen folgend hat das Landgericht wegen der Alkoholabhängigkeitserkrankung des Angeklagten das Eingangsmerkmal einer krankhaften seelischen Störung angenommen, wegen der kombinierten Persönlichkeitsstörung und des ADHS-Syndroms ferner das Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Störung. Hinweise darauf, dass deswegen „die Einsicht in das Unerlaubte bei dem Angeklagten vermindert“ oder seine Steuerungsfähigkeit eingeschränkt gewesen sei, lägen jedoch nicht vor. Er sei innerhalb des Tatzeitraumes von mehr als vier Jahren „planvoll vorgegangen“.
Rz. 9
bb) Diese Ausführungen begegnen in mehrfacher Hinsicht durchgreifend rechtlichen Bedenken.
Rz. 10
(1) Indem das Landgericht eine Störung angenommen hat, deren Schweregrad ausreichend ist, um sie unter das Eingangsmerkmal einer schweren anderen seelischen Störung im Sinne eines Eingangsmerkmals von § 20 StGB zu fassen, musste es in Betracht ziehen, dass diese Störung auch Symptome aufweist, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Angeklagten vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen (vgl. hierzu nur BGH, Beschluss vom 26. März 2019 - 1 StR 684/18, NStZ-RR 2019, 238, 239 mwN). Wird eine schwere andere seelische Störung als Eingangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB bejaht, so liegt wegen der damit festgestellten Schwere der Störung und eine erhebliche Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens nahe (vgl. etwa Senat, Urteil vom 25. März 2015 - 2 StR 403/14, BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 43). Angesichts dessen, dass die Einschränkungen schwer genug sein müssen, um zur Anwendung des Eingangsmerkmals im Sinne der §§ 20, 21 StGB zu führen, hat die einzige gegenläufige Erwägung des Landgerichts, der Angeklagte sei planvoll und rational vorgegangen, für sich nur geringe Aussagekraft.
Rz. 11
(2) Die genannte Erwägung lässt im Übrigen besorgen, dass das Landgericht den Beweiswert des planmäßigen Vorgehens des Angeklagten überbewertet. Das Hemmungsvermögen des Täters darf nicht mit zweckrationalem Handeln gleichgesetzt werden. Solches Verhalten des Täters hat in erster Linie Beweiswert für die Frage der Einsichtsfähigkeit; es steht jedoch einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht entgegen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 19. März 2020 - 3 StR 443/19, NStZ 2020, 473 mwN). Dieser Umstand hätte im vorliegenden Fall besonderer Beachtung verdient, da die Sachverständige eine zusätzliche Herabsetzung der Hemmschwelle des Angeklagten infolge einer alkoholbedingten Persönlichkeitsdepravation in Erwägung gezogen hat.
Rz. 12
(3) Außerdem besteht insoweit ein Spannungsverhältnis zu den im Rahmen der Maßregelentscheidung getroffenen Feststellungen und Wertungen, wonach der Angeklagte aufgrund seiner Alkoholerkrankung seinen Alkoholkonsum im Tatzeitraum nicht angemessen steuern konnte; seine „impulsiven Handlungsmuster“ seien durch diesen Kontrollverlust verstärkt gewesen. Dieser Widerspruch - das die erhebliche Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens ausschließende planvolle Vorgehen einerseits sowie das für den Hang mitursächliche, durch alkoholbedingten Kontrollverlust verstärkende impulsive Handlungsmuster andererseits - wird von der Strafkammer nicht aufgelöst.
Rz. 13
(4) Es kommt hinzu: Haben bei den Taten mehrere Faktoren zusammengewirkt und kommen daher - wie im vorliegenden Fall - mehrere Eingangsmerkmale gleichzeitig in Betracht, dürfen diese nicht isoliert abgehandelt werden; erforderlich ist insoweit eine umfassende Gesamtbetrachtung (vgl. nur BGH, Beschluss vom 12. März 2013 - 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519 mwN). Diese Gesamtbetrachtung lässt das angefochtene Urteil vermissen.
Rz. 14
cc) Der Senat kann unbeschadet der lang andauernden Tatserie nicht ausschließen, dass der Strafausspruch auf den Rechtsfehlern bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB beruht. Das Vorliegen der Voraussetzungen von § 20 StGB kann hingegen sicher ausgeschlossen werden.
Rz. 15
b) Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hält ebenfalls sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Rz. 16
Unbeschadet des aufgezeigten Widerspruchs zwischen der Beurteilung des § 21 StGB einerseits und des § 64 StGB andererseits, ist die Annahme eines im Urteilszeitpunkt vorhandenen (vgl. hierzu Senat, Urteil vom 18. Dezember 2019 - 2 StR 331/19, juris Rn. 6; Beschluss vom 19. Februar 2019 - 2 StR 599/18, juris Rn. 15) Hangs des Angeklagten, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, nicht hinreichend belegt. Insoweit hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte - nach der Tatserie - im Jahr 2013 drei Wochen in einer Klinik „für eine Entgiftung“ verbracht hat, zu deren Verlauf und Ergebnissen das Urteil indes keine Ausführungen enthält; derzeit konsumiere er ein bis zwei Flaschen Bier oder Biermixgetränke jedenfalls ein Mal pro Woche, wenn sein Sohn ihn besuche (UA 4, 42). Mit Blick auf Art, Menge, Häufigkeit und Zeitpunkt des festgestellten Konsums, kann der Senat schon nicht nachvollziehen, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt des Urteils Alkohol im Übermaß konsumiert (vgl. dazu Matt/Renzikowski/Eschelbach, StGB, 2. Aufl., § 64 Rn. 12 mwN).
Rz. 17
3. Die Kompensationsentscheidung infolge rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung ist frei von einem dem Angeklagten nachteiligen, auf die Sachbeschwerde beachtlichen Rechtsfehler. Sie wird von der Aufhebung des Strafausspruchs nicht erfasst (vgl. BGH, Urteil vom 27. August 2009 - 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135; Beschluss vom 28. November 2017 - 3 StR 272/17, juris Rn. 39).
II.
Rz. 18
Ergänzend bemerkt der Senat:
Rz. 19
1. Die Höhe der Gesamtfreiheitsstrafe lässt besorgen, dass das Landgericht bei ihrer Bemessung nicht die Person des Angeklagten und die einzelnen Taten zusammenfassend gewürdigt hat (§ 54 Abs. 1 Satz 3 StGB), sondern sich zu sehr von der Gesamtzahl der Einzeltaten und der Summe der Einzelstrafen (jeweils vier Jahre Freiheitsstrafe) hat leiten lassen (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Februar 2003 - 2 StR 464/02, BGHR StGB § 54 Abs. 1 Bemessung 12). Den engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang zwischen den einzelnen Taten hat es nicht bedacht. Die formelhafte Begründung vermag daran nichts zu ändern (vgl. zu den Begründungsanforderungen auch BGH, Beschluss vom 4. Juni 2019 - 3 StR 199/19).
Rz. 20
2. Der neu zur Entscheidung berufene Tatrichter wird sich - naheliegend unter Heranziehung eines anderen Sachverständigen und unter Mitteilung der entsprechenden Anknüpfungstatsachen - im Rahmen der Prüfung eines Eingangsmerkmals im Sinne der §§ 20, 21 StGB auch umfassend mit der im Urteil - allerdings im Kontext eines Hangs - angenommenen pädophilen Neigung des Angeklagten im Sinne einer Hebephilie (vgl. dazu auch BGH, Beschluss vom 6. Juli 2010 - 4 StR 283/10, NStZ-RR 2010, 304) auseinanderzusetzen haben.
Rz. 21
3. Im Hinblick auf die Länge des Revisionsverfahrens wird der neue Tatrichter eine (weitere) Kompensationsentscheidung zu treffen haben.
Franke |
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Krehl |
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RiBGH Prof. Dr. Eschelbach ist urlaubsbedingt an der Unterschrift gehindert. |
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Franke |
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Zeng |
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Meyberg |
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Fundstellen
Haufe-Index 15615900 |
NStZ 2022, 7 |
NStZ 2023, 155 |