Leitsatz (amtlich)
Zu den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Berufungsbegründung nach neuem Recht gem. § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2-4 i. V. m. § 531 Abs. 2 ZPO.
Normenkette
ZPO §§ 520, 531 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Köln (Entscheidung vom 15.08.2002) |
AG Leverkusen |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss des LG Köln v. 15.8.2002 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das LG zurückverwiesen.
Beschwerdewert: 1.663 Euro.
Gründe
I.
Die Klägerin macht Schadensersatz wegen nicht zurückgegebener Mietgegenstände geltend.
Sie überließ dem Beklagten, der bei der Veranstaltung "Rhein in Flammen" v. 5. bis 6.5.2000 mehrere Getränkestände betrieb, 10.752 Mehrwegbecher sowie mehrere Transportboxen. Vereinbarungsgemäß sollte die Klägerin diese am Ende der Veranstaltung (zwischen 0.00 Uhr und 1.00 Uhr) an den Ständen abholen. Da die Klägerin zur Abholung nicht erschien, stellte der Beklagte gegen 4.15 Uhr Becher und Boxen zur Abholung bereit und verließ den Veranstaltungsort. Die Klägerin verlangt Ersatz für nicht zurückgegebene 13 Transportboxen mit 4.180 Bechern. Der Beklagte erkennt lediglich eine Fehlmenge von 763 Bechern an und verlangt im Wege der Widerklage die geleistete Kaution zurück.
Das AG hat den Beklagten zur Zahlung von 699,03 Euro samt Zinsen verurteilt und die Widerklage abgewiesen. Das LG hat die Berufung des Beklagten als unzulässig verworfen, weil die Begründung nicht den Anforderungen des § 520 Abs. 3 S. 2 ZPO entsprochen habe. Die Berufung enthalte u. a. die neue Behauptung, die Mitarbeiter der Klägerin seien in der Nacht v. 5. auf den 6.5.2000 plötzlich wie vom Erdboden verschwunden gewesen, und benenne dafür einen neuen Zeugen. Zu einer ordnungsgemäßen Berufungsbegründung i. S. d. § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 ZPO gehöre nicht nur die Bezeichnung der neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel, sondern auch die Bezeichnung von Tatsachen, auf Grund derer die neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel nach § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassen seien. Aus der Berufungsbegründung gehe nicht hervor, dass die Verspätung nicht auf Nachlässigkeit beruhe. Der Beklagte sage nicht, was er in den vergangenen zwei Jahren unternommen habe, um zu ermitteln, dass die Mitarbeiter plötzlich wie vom Erdboden verschwunden gewesen seien. Zu solchen Nachforschungen habe Anlass bestanden. Im Übrigen wäre die Berufung auch nicht begründet, wenn der neue Sachvortrag als wahr unterstellt werde. Selbst wenn die Mitarbeiter der Klägerin plötzlich wie vom Erdboden verschwunden gewesen seien, folge daraus noch kein Annahmeverzug der Klägerin. Seinen Angaben zufolge habe der Beklagte den Festplatz schon um 4.15 Uhr verlassen. Nach den Bekundungen des Zeugen W. stehe aber fest, dass die Mitarbeiter der Klägerin ca. 170.000 Becher hätten einsammeln müssen und dies bis 7.00 Uhr morgens gedauert habe. Um 4.15 Uhr habe der Beklagte deshalb noch nicht davon ausgehen dürfen, dass die Mitarbeiter der Klägerin nicht zurückkämen, um die restlichen Becher abzuholen. Er habe keinen Anspruch darauf gehabt, dass die Becher von seinen Ständen zuerst eingesammelt würden, sondern habe sich darauf einstellen müssen, dass er zu den Letzten gehöre.
Dagegen wendet sich der Beklagte mit der Rechtsbeschwerde.
II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gem. § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO i. V. m. § 522 Abs. 1 S. 4 ZPO statthaft. Dem steht nicht entgegen, dass der Wert der geltend gemachten Beschwer 20.000 nicht übersteigt. Diese Wertgrenze gilt nach § 26 Nr. 8 EGZPO nur für die Statthaftigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 544 ZPO und kann auf die Rechtsbeschwerde gegen einen die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss nicht entsprechend angewendet werden (BGH, Beschl. v. 19.9.2002 - V ZB 31/02, MDR 2003, 46 = BGHReport 2002, 1112 = NJW-RR 2003, 132 [133]). Sie ist zulässig nach § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, da sie grundsätzliche Bedeutung hat. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Norm kommt einer Rechtssache dann zu, wenn eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, die klärungsbedürftig, klärungsfähig und entscheidungserheblich ist und das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt (BGH, Beschl. v. 4.7.2002 - V ZR 75/02, MDR 2002, 1206 = BGHReport 2002, 947 = NJW 2002, 2957). Die Frage, welche Anforderungen an eine ordnungsgemäße Berufungsbegründung gem. § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 bis 4 ZPO zu stellen sind, ist höchstrichterlich nicht geklärt. An der Entscheidung dieser Frage besteht ein erhebliches Allgemeininteresse.
2. Die Auffassung des Berufungsgerichts, die Berufung des Beklagten enthalte keine ausreichende Begründung und sei deshalb unzulässig, hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Das Berufungsgericht hat unangemessen hohe Anforderungen an eine Begründung für eine zulässige Berufung gestellt.
a) Nach § 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO in der bis 31.12.2001 geltenden Fassung musste die Berufung die bestimmte Bezeichnung der im einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) sowie der neuen Tatsachen, Beweismittel und Beweiseinreden, die die Partei zur Rechtfertigung ihrer Berufung anzuführen hat, enthalten. Die Mindestanforderungen an eine Berufungsbegründung waren in der Rechtsprechung geklärt. Es bestand Einigkeit, dass formularmäßige Sätze und allgemeine Redewendungen nicht genügten (BGH, Urt. v. 24.1.2000 - II ZR 172/98, MDR 2000, 535 = NJW 2000, 1576). Die Berufung musste auf den zur Entscheidung stehenden Streitfall zugeschnitten sein und erkennen lassen, aus welchen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen das angefochtene Urteil unrichtig sei (BGH, Beschl. v. 10.7.1990 - XI ZB 5/90, MDR 1990. 1003 = NJW 1990, 2628). Wurden nur Rechtsausführungen angegriffen, dann musste die eigene Rechtsansicht dargelegt werden (BGH, Urt. v. 5.10.1982 - VIII ZR 224/82, MDR 1984, 310 = NJW 1984, 177); es reichte nicht aus, die Auffassung des Erstrichters als falsch oder die Anwendung einer bestimmten Vorschrift als irrig zu rügen (BGH, Urt. v. 9.3.1995 - XI ZR 143/94, NJW 1995, 1560). Auf entgegenstehende tatsächliche Feststellungen musste eingegangen werden (BGH, Beschl. v. 6.3.1997 - VII ZR 26/96, MDR 1997, 682). Dass die Ausführungen in der formell ordnungsgemäßen Berufungsbegründung tatsächlich oder rechtlich neben der Sache lagen, machte die Berufung nicht unzulässig (BGH, Urt. v. 27.5.1964 - VIII ZR 174/63, VersR 1964, 949; Zöller/Gummer, ZPO, 23. Aufl., § 520 Rz. 34). Weder die Schlüssigkeit noch auch nur die Vertretbarkeit der Begründung waren Zulässigkeitsvoraussetzungen (BGH, Urt. v. 4.10.1999 - II ZR 361/98, MDR 1999, 1521 = NJW 99, 3784; Zöller/Gummer, ZPO, 23. Aufl., § 520 Rz. 34).
b) § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 bis 4 ZPO konkretisiert gegenüber § 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO a. F. die inhaltlichen Anforderungen an die Berufungsgründe. Die Neufassung trägt der verstärkten Funktionsdifferenzierung zwischen erster und zweiter Instanz Rechnung. Da die Berufung - abweichend von ihrer bisherigen Funktion als vollwertige Zweite Tatsacheninstanz - nunmehr in erster Linie ein Instrument zur Fehlerkontrolle und Fehlerbeseitigung sein soll, muss sich sinnvollerweise auch der Inhalt der Berufungsbegründung an dieser Zielsetzung orientieren. § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 und 3 ZPO sind auf das Prüfungsprogramm des § 513 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zugeschnitten, § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 ZPO auf das des § 513 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 529 Abs. 1 Nr. 2, § 531 Abs. 2 ZPO (Musielak/Ball, ZPO, 2. Aufl., § 520 Rz. 29, 30). Da das Berufungsgericht an die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen grundsätzlich gebunden ist (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), muss die Berufung, die den festgestellten Sachverhalt angreifen will, eine Begründung dahin enthalten, warum die Bindung an die festgestellten Tatsachen ausnahmsweise nicht bestehen soll. § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 und 4 ZPO regeln diese Anforderungen näher. Nach § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 ZPO muss der Berufungsführer konkrete Anhaltspunkte bezeichnen, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Nach § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 ZPO muss er, wenn er neue Angriffs- und Verteidigungsmittel vorbringen will, dartun, warum er diese nicht bereits in erster Instanz geltend gemacht hat. Diese Ausrichtung der Begründung am jeweiligen Berufungsangriff bedeutet aber keine qualitative Erhöhung, sondern lediglich eine Präzisierung der Berufungsanforderungen, soweit es die Zulässigkeit der Berufung betrifft. Eine Verschärfung kann weder dem Gesetzestext noch den Materialien entnommen werden. Eher ist das Gegenteil der Fall. Während § 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO a. F. die "bestimmte Bezeichnung der im einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung" verlangte, lässt § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 ZPO jetzt die "Bezeichnung der Umstände" genügen, aus denen sich die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergibt. Nach der Gesetzesbegründung sollen damit die Anforderungen an den Inhalt der Rüge falscher Rechtsanwendung sogar gesenkt werden (BT-Drucks. 14/4722, 95). Auch die Kommentare zur Zivilprozessordnung gehen einhellig nicht von einer Erhöhung der Anforderungen aus. Sie orientieren sich vielmehr ohne nähere Begründung an den Anforderungen, die die Rechtsprechung zu § 519 Abs. 2 Nr. 2 a. F. ZPO aufgestellt hat (Rimmelspacher in MünchKomm/ZPO, 2. Aufl. Aktualisierungsband, § 520 Rz. 49 f.; Baumbach/Albers, ZPO, 61. Aufl., § 520 Rz. 22 f.; Thomas/Putzo, ZPO, 24. Aufl., § 520 Rz. 20 f.; Musielak/Ball, ZPO, 3. Aufl., § 520 Rz. 28 f.). Zöller/Gummer (Zöller/Gummer, ZPO, 23. Aufl., § 520 Rz. 27 f.) verweist darauf, dass nach der Gesetzesbegründung die Anforderungen an die Rüge falscher Rechtsanwendung gesenkt worden seien. Auch der Senat ist der Auffassung, dass sich die Begründungsanforderungen nicht erhöht haben, soweit es um die Zulässigkeit der Berufung geht.
c) Den danach zu stellenden Anforderungen an eine ausreichende Berufungsbegründung ist der Beklagte gerecht geworden. Mit der Benennung der Zeugin G. hat der Beklagte ein neues Verteidigungsmittel benannt. Er hat dargelegt, warum er die Zeugin nicht bereits in erster Instanz angeboten hat. Er hat ausgeführt, er sei nach der Aussage des Zeugen W. davon ausgegangen, dass die Mitarbeiter der Klägerin durchgehend bis 7.00 Uhr am Festplatz anwesend gewesen seien. Erst nach Einlegung der Berufung habe er von der Zeugin G. erfahren, dass die Mitarbeiter der Klägerin tatsächlich verschwunden gewesen seien und es deshalb zahlreiche Beschwerden auch anderer Teilnehmer gegeben habe. Damit hat der Beklagte konkrete Anhaltspunkte vorgetragen, die Zweifel an der Richtigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (§ 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 ZPO), und er hat zugleich damit auch vorgetragen, warum das neue Verteidigungsmittel zuzulassen sei (§ 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 i. V. m. § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO). Das erfüllt die formellen Anforderungen an eine Berufungsbegründung. Ob die Verspätung tatsächlich auf einer Nachlässigkeit des Beklagten beruht oder nicht (§ 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO), ist eine Frage der Begründetheit des Rechtsmittels. Da bereits dieser in ordnungsgemäßer Weise vorgebrachte Berufungsangriff ausreicht, um die Berufung zulässig zu machen, kommt es auf die Ausführungen des LG zur Frage eines Verstoßes gegen die Anforderungen nach § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 ZPO nicht mehr an.
3. Soweit das Berufungsgericht hilfsweise Ausführungen zur Begründetheit gemacht hat, gelten diese als nicht geschrieben (BGHZ 11, 222 [224]), damit Gegenstand und Umfang der Rechtskraft nicht im Ungewissen bleiben.
4. Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben. Die Sache war an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 S. 1 ZPO).
Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin: Das Berufungsgericht geht davon aus, nach den Bekundungen des Zeugen W. stehe fest, dass die Mitarbeiter der Klägerin bis gegen 7.00 Uhr morgens Becher eingesammelt haben. Demgegenüber hat der Beklagte die Zeugen B. und G. zum Beweis dafür angeboten, dass die Mitarbeiter der Klägerin in der Nacht verschwunden gewesen seien und es deshalb zu zahlreichen Beschwerden anderer Teilnehmer gekommen sei. Das LG wird die angebotenen Zeugen vernehmen und sich anhand des gewonnenen Beweisergebnisses die Frage vorlegen müssen, ob die Voraussetzungen für einen Annahmeverzug vorliegen und dem Beklagten die Haftungserleichterungen nach § 300 Abs. 1 BGB zugute kommen.
Fundstellen
Haufe-Index 954338 |
NJW 2003, 2531 |
BGHR 2003, 968 |
FamRZ 2003, 1271 |
ZAP 2003, 969 |
EzFamR aktuell 2003, 281 |
MDR 2003, 1192 |
VersR 2004, 1064 |
ZFE 2003, 279 |
KammerForum 2003, 417 |
LMK 2003, 171 |