Entscheidungsstichwort (Thema)
Vollstreckungsabwehrklage. Freiwillige Zahlungen des Schuldners an Gerichtsvollzieher. Analoge Anwendung von § 815 Abs. 3 ZPO. Erfüllungswirkung
Leitsatz (amtlich)
Die Bestimmung des § 815 Abs. 3 ZPO ist auf freiwillige Zahlungen des Schuldners an den Gerichtsvollzieher entsprechend anwendbar.
Normenkette
ZPO § 815 Abs. 3
Verfahrensgang
LG Schwerin (Entscheidung vom 14.03.2008; Aktenzeichen 2 S 139/07) |
AG Schwerin (Entscheidung vom 25.10.2007; Aktenzeichen 13 C 187/07) |
Tenor
Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Hiervon sind die durch die Anrufung des unzuständigen LG Schwerin veranlassten Mehrkosten ausgenommen, die der Kläger zu tragen hat.
Der Streitwert wird auf einen Wert in der Gebührenstufe bis 900 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
[1] Der Beklagte betrieb wegen einer ärztlichen Gebührenforderung gegen den Kläger die Zwangsvollstreckung aus einem Vollstreckungsbescheid vom 3.7.2006 über die Summe von 820,77 EUR. Die Gerichtsvollzieherin pfändete am 9.5.2007 dessen Pkw BMW 325i und nahm ihn in Gewahrsam. Der Kläger überwies am 10.5.2007 an die Gerichtsvollzieherin unter Angabe des Aktenzeichens des Vollstreckungsbescheids und seines Namens 1.500 EUR. Die Gerichtsvollzieherin, der zu diesem Zeitpunkt keine weiteren Vollstreckungsaufträge gegen den Kläger vorlagen, verrechnete von diesem Betrag nur 61 EUR auf den Vollstreckungsbescheid des Beklagten und den Rest auf Forderungen von drei Gläubigern, die Gesellschaften mit beschränkter Haftung in Anspruch nahmen, deren Geschäftsführer der Kläger war. Auch die Freigabe des gepfändeten Fahrzeugs unterblieb zunächst.
[2] Der Kläger hat sich mit seiner Klage gegen die weitere Vollstreckung durch den Beklagten gewandt, weil er mit seiner Zahlung an die Gerichtsvollzieherin dessen Forderung erfüllt habe. Das AG hat seiner Vollstreckungsabwehrklage entsprochen. Das Berufungsgericht hat die Zwangsvollstreckung nur i.H.v. 61 EUR für unzulässig erklärt und im Übrigen die Klage abgewiesen. Es ist davon ausgegangen, dass der Leistungserfolg der Erfüllung erst eintrete, wenn das Geld endgültig in das Vermögen des Gläubigers gelange. Eine - direkte oder analoge - Anwendung des § 815 Abs. 3 ZPO komme nicht in Betracht. Wegen dieser Frage hat das Berufungsgericht die Revision zugelassen.
[3] Nach Eingang seiner Revisionsbegründung hat der Kläger mitgeteilt, der Vollstreckungstitel und der gepfändete Pkw seien zwischenzeitlich an ihn herausgegeben worden. Im Hinblick hierauf hat er den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Der Beklagte hat sich der Erledigungserklärung angeschlossen. Beide Parteien haben wechselseitige Kostenanträge gestellt.
II.
[4] Nach der übereinstimmenden Erledigungserklärung ist über die Kosten des Rechtsstreits unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands nach billigem Ermessen zu entscheiden (§ 91a Abs. 1 ZPO). Hiernach hat der Beklagte die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, weil die Klage bis zum Eintritt des erledigenden Ereignisses begründet war. Hiervon sind nur die durch die Anrufung des sachlich unzuständigen LG verursachten Mehrkosten ausgenommen, die dem Kläger zur Last fallen (§ 281 Abs. 3 Satz 2 ZPO).
[5] 1. Die Gebührenforderung des Beklagten ist allerdings nicht bereits durch die Überweisung des Geldbetrages von 1.500 EUR auf das Dienstkonto der Gerichtsvollzieherin i.S.d. § 362 BGB insgesamt erfüllt worden. Denn der Leistungserfolg, auf den es maßgeblich ankommt (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.1998 - VIII ZR 157/97, NJW 1999, 210 m.w.N.; Wenzel in MünchKomm/BGB, 5. Aufl. 2007, § 362 Rz. 10, 12; Staudinger/Olzen, BGB, Neubearb. 2006, § 362 Rz. 11; Palandt/Grüneberg, BGB, 68. Aufl. 2009, § 362 Rz. 2) ist nur hinsichtlich des an ihn weitergeleiteten Betrags von 61 EUR eingetreten.
[6] Die Auffassung der Revision, es sei i.S.d. § 362 Abs. 2 BGB erfüllt worden, weil der Kläger vorbehaltlos an die nach §§ 754, 755 ZPO legitimierte und dementsprechend nach § 185 BGB vom Beklagten ermächtigte Gerichtsvollzieherin gezahlt habe, teilt der Senat nicht. Richtig ist zwar, dass der Gerichtsvollzieher aufgrund des Vollstreckungsauftrags nach § 754 ZPO befugt und im gegebenen Fall verpflichtet ist, Zahlungen in Empfang zu nehmen, dies zu quittieren und dem Schuldner, der seiner Verbindlichkeit genügt hat, die vollstreckbare Ausfertigung des Titels herauszugeben, so dass auf der Grundlage dieser Ausfertigung nicht mehr vollstreckt werden kann. Diese Rechtsstellung des Gerichtsvollziehers beruht aber nicht auf einem bürgerlich-rechtlichen Rechtsverhältnis zum Gläubiger, sondern auf seiner Stellung als auch im Bereich der Entgegennahme freiwilliger Zahlungen hoheitlich handelndes Organ der Zwangsvollstreckung (vgl. BGH, Beschl. v. 30.1.2004 - IXa ZB 274/03, NJW-RR 2004, 788; Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, 7. Aufl. 2003, Rz. 314; Musielak/Lackmann, ZPO, 6. Aufl. 2008, § 754 Rz. 2; Musielak/Becker § 815 Rz. 5; Heßler in MünchKomm/ZPO, 3. Aufl. 2007, § 754 Rz. 38 f.; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 29. Aufl. 2008, § 754 Rz. 3; Gottwald, Zwangsvollstreckung, 4. Aufl. 2002, § 754 Rz. 1; Schuschke/Walker, Vollstreckung und Vorläufiger Rechtsschutz, Bd. I, 4. Aufl. 2008, § 754 Rz. 1, 7; eingehend zum Ganzen Fahland, ZZP 92, 432 ff.). Zum Eintritt der Erfüllungswirkung muss daher regelmäßig hinzukommen, dass der Gerichtsvollzieher das empfangene Geld oder den Eingang auf seinem Dienstkonto an den Gläubiger weiterleitet. Fehlt es hieran, weil der Gerichtsvollzieher den empfangenen Betrag nicht den vollstreckungsrechtlichen Vorschriften entsprechend verwendet, so dass der Gläubiger hierüber nicht verfügen kann, liegt zwar eine Verletzung von Amtspflichten vor, die dem Gerichtsvollzieher sowohl ggü. dem Schuldner als auch ggü. dem Gläubiger obliegen; die beizutreibende Forderung ist jedoch unter solchen Umständen nicht durch Erfüllung erloschen.
[7] 2. Die Vollstreckungsabwehrklage des Klägers war auch nicht nach § 815 Abs. 3 ZPO begründet.
[8] § 815 ZPO befasst sich im unmittelbaren Anwendungsbereich der Vorschrift mit der Verwertung gepfändeten Geldes. Diese gestaltet sich insofern besonders einfach, als es genügt, dass der Gerichtsvollzieher das gepfändete Geld dem Gläubiger "abliefert" (§ 815 Abs. 1 ZPO). Hierbei handelt es sich um einen öffentlich-rechtlichen Übertragungsakt, kraft dessen der Gläubiger - unabhängig von den Regeln der §§ 929 ff. BGB - Eigentum erwirbt (vgl. Schuschke/Walker, a.a.O., § 815 Rz. 2; Gottwald, a.a.O., § 815 Rz. 3; Musielak/Becker, a.a.O., § 815 Rz. 2; Zöller/Stöber, ZPO, 27. Aufl. 2009, § 815 Rz. 2; Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 22. Aufl. 2002, § 815 Rz. 15; Brox/Walker, a.a.O., Rz. 418; Wieczorek/Schütze/Lüke, ZPO, 3. Aufl. 1999, § 815 Rz. 11).
[9] § 815 Abs. 3 ZPO sieht im Zusammenhang mit gepfändetem Geld vor, dass die Wegnahme des Geldes durch den Gerichtsvollzieher als Zahlung des Schuldners gilt, sofern nicht - was hier nicht in Betracht kommt - eine Hinterlegung nach Abs. 2 oder nach § 720 ZPO zu erfolgen hat. Inhalt und Tragweite dieser Fiktion werden in der Rechtsprechung und im Schrifttum unterschiedlich bewertet. Überwiegend wird angenommen, § 815 Abs. 3 ZPO sei eine von § 270 BGB abweichende Regelung über die Gefahrtragung: Komme das vom Gerichtsvollzieher weggenommene Geld vor seiner Ablieferung an den Gläubiger abhanden, trage der Gläubiger die Gefahr, was im Ergebnis bedeutet, dass er den Schuldner insoweit nicht mehr in Anspruch nehmen kann (vgl. BGH, Urt. v. 30.1.1987 - V ZR 220/85 - ZZP 102, 366, 368; Wenzel in MünchKomm/BGB, a.a.O., § 362 Rz. 29; Musielak/Becker, a.a.O., § 815 Rz. 4; Stein/Jonas/Münzberg, a.a.O., § 815 Rz. 16; Gruber in MünchKomm/ZPO, a.a.O., § 815 Rz. 13; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 67. Aufl. 2009 § 815 Rz. 8; Schuschke/Walker, a.a.O., § 815 Rz. 9; Kerwer, in: juris PK-BGB § 362 Rz. 47 f.; Wieczorek/Schütze/Lüke, a.a.O., § 815 Rz. 4; Gottwald, a.a.O., § 815 Rz. 10; wohl auch BGHZ 140, 391 [394]). Dem steht die Auffassung gegenüber, es handele sich um eine Erfüllungsfiktion mit Auswirkungen auf das materielle Recht (Hk-ZPO/Kemper, 2. Aufl. 2007, § 815 Rz. 6; Zöller/Stöber, a.a.O., § 815 Rz. 2 unter Bezugnahme auf BGH, Urt. v. 19.10.1983 - VIII ZR 169/82, WM 1983, 1337 [1338] = JZ 1984, 151). Der Senat neigt der erstgenannten Auffassung zu, da die Zahlungsfiktion beispielsweise entfällt, wenn die Pfändung aufgehoben wird und der Schuldner sein Geld zurückerhält (vgl. Stein/Jonas/Münzberg § 815 Rz. 16), braucht die Frage jedoch nicht abschließend zu entscheiden, da hier kein Fall vorliegt, in dem Geld gepfändet worden wäre. Auch wenn man berücksichtigt, dass der Kläger unter dem Eindruck der vorangegangenen Pfändung seines Fahrzeugs mit dem Ziel der Aufhebung dieser Pfändungsmaßnahme den in Rede stehenden Geldbetrag auf das Dienstkonto der Gerichtsvollzieherin überwiesen hat, handelt es sich um keine Leistung, an der ein Pfändungspfandrecht entstanden wäre (vgl. Schuschke/Walker, a.a.O., § 815 Rz. 11; Musielak/Becker, a.a.O., § 815 Rz. 5; Heßler in MünchKomm/ZPO, a.a.O., § 754 Rz. 54; Gottwald, a.a.O., § 815 Rz. 11).
[10] 3. Die Vollstreckungsabwehrklage war aber unter dem Gesichtspunkt einer analogen Anwendung des § 815 Abs. 3 ZPO begründet.
[11] Im Schrifttum wird eine analoge Anwendung des § 815 Abs. 3 ZPO auf Fälle, in denen der Schuldner eine freiwillige Zahlung an den Gerichtsvollzieher vorgenommen hat, weitgehend vertreten. In diesem Zusammenhang wird vor allem betont, die Interessenlage des Schuldners sei mit der bei der Pfändung von Geld vergleichbar. Hier wie dort sei das weitere Verfahren dem Einfluss des Schuldners entzogen (vgl. Musielak/Becker, a.a.O., § 815 Rz. 5; Thomas/Putzo/Hüßtege § 815 Rz. 5; Heßler in MünchKomm/ZPO, a.a.O., § 754 Rz. 45; Gruber in MünchKomm/ZPO, a.a.O., § 815 Rz. 19; Brox/Walker, a.a.O., Rz. 314; Gottwald, a.a.O., § 815 Rz. 11; Wieczorek/Schütze/Lüke, a.a.O., § 815 Rz. 20; Fahland, a.a.O., S. 453 ff.). Es wäre widersinnig, wenn sich der Schuldner nach der in § 105 GVGA ausdrücklich vorgesehenen Aufforderung, freiwillig zu zahlen, das Geld wegnehmen lassen müsse, um nicht das Risiko des Abhandenkommens der geleisteten Beträge übernehmen zu müssen (vgl. Schuschke/Walker, a.a.O., § 815 Rz. 11; a.A. Stein/Jonas/Münzberg § 815 Rz. 23; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, a.a.O., § 815 Rz. 10; Zöller/Stöber, a.a.O., § 755 Rz. 4).
[12] Das Berufungsgericht meint demgegenüber, es fehle an einer für eine Analogie erforderlichen Regelungslücke, weil die Gefahrtragung allgemein in § 270 BGB geregelt sei und der Gesetzgeber nur in den Fällen des § 815 Abs. 3 ZPO eine Ausnahme vorgesehen habe, wenn der Gerichtsvollzieher im Rahmen der Vollstreckung durch hoheitliches Handeln in die Leistungsabwicklung eingegriffen habe.
[13] Der Senat folgt der dargestellten überwiegenden Meinung. Die Interessenlage des freiwillig (hier: auch zur Aufhebung der Pfändung seines Fahrzeugs) an den Gerichtsvollzieher zahlenden Schuldners ist mit der in § 815 Abs. 3 ZPO geregelten Situation vergleichbar. Das zeigen nicht zuletzt auch Wertungen, die der Bestimmung des § 717 Abs. 2 ZPO entnommen werden können. Hiernach ist der Kläger nach Aufhebung oder Abänderung eines für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteils dem Beklagten zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der diesem nicht nur durch die Vollstreckung, sondern auch durch eine zur Abwendung der Vollstreckung vollzogene Leistung entstanden ist. Es wäre in der Tat schwer einzusehen, weshalb ein Schuldner, nur um die Wirkung des § 815 Abs. 3 ZPO zu erlangen, darum bitten sollte, dass der Gerichtsvollzieher von seinen Zwangsbefugnissen Gebrauch macht.
[14] Der Senat hat auch keine Bedenken, die für einen Analogieschluss erforderliche Regelungslücke anzunehmen. Sie ergibt sich aus den veränderten Anschauungen über die Rolle des Gerichtsvollziehers im Vollstreckungsverfahren. Den Bestimmungen der §§ 754, 755 ZPO liegt die ursprüngliche Vorstellung des historischen Gesetzgebers zugrunde, dass der Gerichtsvollzieher als privatrechtlicher Vertreter des Gläubigers handelt (vgl. Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Band 2, Materialien zur Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 1983, S. 440; Fahland, a.a.O., S. 453). Auf dem Boden dieser Auffassung war es selbstverständlich, dass eine an den Gerichtsvollzieher bewirkte freiwillige Zahlung im Gefahrenbereich des Gläubigers angekommen war. Insoweit bedurfte es keiner besonderen Regelung im Vollstreckungsrecht. Aus der Befugnis des Gerichtsvollziehers, die geschuldete Leistung anstelle des Gläubigers in Empfang zu nehmen, wurde auch der Wegnahme von Geld im Wege der Pfändung der Charakter einer Zahlung des Schuldners zugemessen, wobei mit der Wegnahme die Gefahr auf den Gläubiger übergehen und namentlich die Anschlusspfändung ausgeschlossen werden sollte (vgl. Hahn, a.a.O., S. 454). Nach diesen Vorstellungen ergaben sich im Ergebnis zwischen einer freiwilligen Zahlung des Schuldners und einer Wegnahme des Geldes durch den Gerichtsvollzieher keine Unterschiede; die Gleichstellung der erzwungenen mit der freiwilligen Zahlung war das Bild, das der historische Gesetzgeber vor Augen hatte (vgl. Hahn, a.a.O., S. 440). Da der Gerichtsvollzieher inzwischen auch im Bereich der Entgegennahme freiwilliger Zahlungen als hoheitlich handelndes Organ verstanden wird (s.o. II 1) und die an den Gerichtsvollzieher bewirkte Zahlung dem Gläubiger nicht (mehr) kraft eines Auftragsverhältnisses zugerechnet werden kann, ist es daher nach Auffassung des Senats gerechtfertigt, im Einklang mit der ursprünglichen Konzeption des historischen Gesetzgebers § 815 Abs. 3 ZPO auch bei freiwilligen Zahlungen des Schuldners entsprechend anzuwenden. Das hat die vollstreckungsrechtliche Folge, dass der Gläubiger in dem fraglichen Umfang die Vollstreckung nicht mehr fortsetzen kann und materiell-rechtlich auf Amtshaftungsansprüche verwiesen ist, die sich in Bezug auf den Beklagten im Hinblick auf die höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtslage auch auf die ihn in diesem Rechtsstreit treffenden Kosten erstrecken.
Fundstellen
Haufe-Index 2126714 |
BGHZ 2009, 298 |