Verfahrensgang
LG Schwerin (Urteil vom 22.01.2003) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 22. Januar 2003 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch eines Kindes und wegen Vergewaltigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt. Vom Vorwurf einer weiteren Vergewaltigung hat es ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat mit der Sachrüge Erfolg; eines Eingehens auf die Verfahrensrüge bedarf es daher nicht.
Die Verurteilung des Angeklagten hat keinen Bestand, weil die Beweiswürdigung durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet.
Der Angeklagte hat die ihm zur Last gelegten Taten zum Nachteil der Nebenklägerin, der am 25. August 1986 geborenen Sarah N., bestritten. Er hat sich dahin eingelassen, im Frühjahr oder Sommer 1997 (Fall B II 1) habe er keine sexuellen Handlungen an dem damals zehn oder elf Jahre alten Mädchen vorgenommen. Im September 2001 (Fall B II 2) und kurz vor Weihnachten 2001 (Fall B II 3) habe er zwar mit Sarah N. den Geschlechtsverkehr vollzogen, jedoch sei dies im „gegenseitigen Einvernehmen” geschehen. Im September 2001 habe er Sarah N., die Geld gebraucht habe, dafür 70 DM gegeben. Die der Verurteilung zugrundeliegenden Feststellungen (Fälle B II 1 und 3) stützt die Strafkammer auf die Angaben Sarah N.s. Vom Vorwurf der Vergewaltigung der Nebenklägerin im Fall B II 2 hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen, da die Beweisaufnahme nicht mit der erforderlichen Sicherheit ergeben habe, daß er sie auch im September 2001 gegen ihren Willen zum Geschlechtsverkehr gezwungen habe. In diesem Fall folgt die Strafkammer nicht den Angaben der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung. Vielmehr habe sie am 18. Februar 2002 zu diesem Vorfall gegenüber der Sozialarbeiterin P. anderslautende Angaben gemacht, dieser nämlich berichtet, im September 2001 den Beischlaf mit dem Angeklagten freiwillig vollzogen zu haben, nachdem er ihr angeboten habe, ihre Schulden aus Katalogbestellungen zu begleichen, und ihr 50 DM gegeben habe. Es könne deshalb nicht ausgeschlossen werden, daß die Angaben Sarah N.s insoweit unrichtig sind.
Wenn wie hier Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung im wesentlichen davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise erkennen lassen, daß der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegung einbezogen hat (st. Rspr.; vgl. nur BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 23). Dies gilt besonders, wenn sich die Unwahrheit eines Aussageteils herausstellt oder – wie hier – dies jedenfalls nicht auszuschließen ist. Dann muß der Tatrichter regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe nennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im übrigen dennoch zu glauben (vgl. BGHSt 44, 153, 159; 44, 256, 257).
Diesen strengen Anforderungen wird die Beweiswürdigung zu den der Verurteilung zugrundeliegenden Fällen in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht. Die Strafkammer folgt insoweit den Angaben Sarah N.s mit der Begründung, ihre Aussage in der Hauptverhandlung sei „flüssig, detailreich, widerspruchsfrei und insgesamt glaubhaft” (UA 13) gewesen bzw. sie habe den Vorfall „sehr differenzierend, detailreich (und) präzise” (UA 18) geschildert. Außerdem seien ihre Angaben zu diesen Fällen gegenüber der Sozialarbeiterin P. und der sie in der psychiatrischen Klinik behandelnden Ärztin, der Zeugin G., und in der Hauptverhandlung „inhaltlich zum Kerngeschehen konstant geblieben”. Vom Vorfall im Jahr 1997 habe die Nebenklägerin einige Monate später überdies ihrer Mutter und einer Freundin berichtet.
Damit hat die Strafkammer die Beweiswürdigung nicht erschöpft. Soweit sie bei der Glaubwürdigkeitsprüfung in den Fällen B II 1 und 3 auf den Detailreichtum, die Widerspruchsfreiheit bzw. Differenziertheit der Aussage Sarah N.s abstellt, setzt sie sich nicht damit auseinander, daß diese Glaubwürdigkeitskriterien gleichermaßen auf die Angaben zutreffen, die die Zeugin in der Hauptverhandlung zum Fall B II 2 gemacht hat, an deren Glaubhaftigkeit das Landgericht gleichwohl nicht zu überwindende Zweifel hat. Es ist deshalb nicht auszuschließen, daß die Strafkammer diesen Glaubwürdigkeitskriterien in den Fällen, die der Verurteilung zugrundeliegen, ein zu großes Gewicht beigemessen hat. Hinzu kommt, daß die Aussage der Zeugin G. im Urteil nur insoweit wiedergegeben wird, als Sarah N. ihr über den Vorfall aus dem Jahr 1997 berichtet hat (UA 15). Welche Angaben die Geschädigte gegenüber dieser Zeugin zu dem Vorfall vom Dezember 2001 gemacht hat, ergeben die Urteilsgründe nicht. Der Senat kann die vom Landgericht zur Begründung der Glaubwürdigkeit der Belastungszeugin herangezogene inhaltliche Konstanz der Aussage zum Kerngeschehen deshalb nicht nachvollziehen. Zur Beurteilung der Aussagekonstanz hätte es in einem Fall wie dem vorliegenden überdies der Mitteilung der Angaben bedurft, die die Geschädigte im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung gemacht hat. Hieran fehlt es ebenfalls. Schließlich legt die Strafkammer nicht dar, in welcher Weise sich die bei Sarah N. festgestellten „psychischen Auffälligkeiten” ausgewirkt haben. In Anbetracht dessen, daß die Zeugin nur eine Woche, nachdem sie gegenüber der Zeugin P. über die sexuellen Übergriffe des Angeklagten berichtet hatte, aufgrund einer „dringlich qualifizierten Einweisungsverfügung” ihres Hausarztes in ein Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie eingewiesen und dort fast zwei Monate stationär behandelt wurde, ist die lediglich abstrakte Schilderung des ersichtlich erheblichen Krankheitsbildes nicht geeignet, nachvollziehbar darzutun, daß die psychischen Auffälligkeiten keine „durchgreifenden Zweifel an ihrer Persönlichkeit und ihren Angaben” (UA 22) zu begründen vermochten.
Der Senat kann daher nicht ausschließen, daß die Strafkammer bei der gebotenen erschöpfenden Beweiswürdigung die Glaubwürdigkeit der Zeugin N. in den Fällen B II 1 und 3 anders beurteilt hätte.
Trotz der sich nur auf den verurteilenden Teil erstreckenden Aufhebung des Urteils ist der neue Tatrichter nicht gehindert, die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin hinsichtlich des dem in Rechtskraft erwachsenen Teilfreispruchs zugrundeliegenden Sachverhalts anders als bisher geschehen zu würdigen.
In Anbetracht der psychischen Auffälligkeiten der Nebenklägerin ist die vom Landgericht angenommene eigene Sachkunde zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugin nicht frei von rechtlichen Bedenken. Die Hinzuziehung eines geeigneten Sachverständigen (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 2 Sachverständiger 10, 18 und Abs. 4 Satz 1 Glaubwürdigkeitsgutachten 3, 4, 5) in der neuen Hauptverhandlung erscheint deshalb angeraten.
Unterschriften
Maatz, Kuckein, Athing, Ernemann, Sost-Scheible
Fundstellen
Haufe-Index 2559054 |
NPA 2004, 0 |