Leitsatz (amtlich)
a) Der Umstand, dass beim BGH ein Revisionsverfahren anhängig ist, in dem über eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, von deren Beantwortung auch die Entscheidung eines zweiten Rechtsstreits ganz oder teilweise abhängt, rechtfertigt die Aussetzung der Verhandlung des zweiten Rechtsstreits grundsätzlich nicht.
b) Es bleibt offen, ob eine solche Aussetzung bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften über ein die gleiche Rechtsfrage betreffendes Vorabentscheidungsersuchen erfolgen darf.
Normenkette
ZPO § 148; EG Art. 234
Verfahrensgang
OLG Koblenz (Beschluss vom 22.09.2004; Aktenzeichen 1 U 658/04) |
LG Bad Kreuznach |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des 1. Zivilsenats des OLG Koblenz v. 22.9.2004 aufgehoben.
Gründe
I. Die Klägerin nimmt die beklagten Landwirte auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung für den Nachbau teils nach Gemeinschaftsrecht, teils nach dem Sortenschutzgesetz geschützter Getreidesorten in den Wirtschaftsjahren 1997/98 bis 1999/2000 in Anspruch.
Das LG hat die Beklagten im Wesentlichen antragsgemäß verurteilt.
Das Berufungsgericht hat die Verhandlung bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Verfahren vor dem BGH mit den Aktenzeichen X ZR 156/03, X ZR 157/03 und X ZR 158/03 ausgesetzt.
Hiergegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Rechtsbeschwerde der Klägerin.
II. Die Rechtsbeschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.
1. Das Berufungsgericht hat die Aussetzung der Verhandlung, der die Beklagten, nicht aber die Klägerin zugestimmt haben, damit begründet, dass der BGH, bei dem drei Parallelverfahren mit einem vergleichbaren Streitgegenstand anhängig seien, den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften um eine Vorabentscheidung ersucht habe. Bei dieser Sachlage erachte es der Senat gerade auch im Interesse der Parteien (u.a. im Kosteninteresse) für angemessen, die Verhandlung entsprechend § 148 ZPO auszusetzen, da in den beim BGH anhängigen Verfahren abschließend über den geltendgemachten Entschädigungsanspruch der Klägerin in gleich gelagerten Fällen entschieden werde.
2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Nach § 148 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei. Die Aussetzung der Verhandlung setzt damit Vorgreiflichkeit der in dem anderen Rechtstreit oder dem Verwaltungsverfahren zu treffenden Entscheidung im Sinne einer (zumindest teilweise) präjudiziellen Bedeutung voraus (Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 63. Aufl., § 148 Rz. 4; Musielak/Stadler, ZPO, 4. Aufl., § 148 Rz. 5; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 26. Aufl., § 148 Rz. 3; Zöller/Greger, ZPO, 25. Aufl., § 148 Rz. 5; vgl. auch BGH, Urt. v. 10.7.2003 - VII ZB 32/02, BGHReport 2003, 1370 = MDR 2003, 1306 = NJW 2003, 3057). Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt, da den beim Senat anhängigen anderen Verfahren, an denen die Beklagten nicht beteiligt sind, im Hinblick auf das Streitverfahren allenfalls die Bedeutung eines Musterprozesses zukommt.
Soweit in der Literatur eine Aussetzung bereits dann für möglich gehalten wird, wenn ein rein tatsächlicher Einfluss in Betracht kommt, den Vorgänge in einem anderen Prozess, wie etwa eine Beweisaufnahme, oder die Entscheidung des anderen Verfahrens auf die Entscheidung in dem zweiten Verfahren ausüben könnten (in diesem Sinne etwa Peters in MünchKomm/ZPO, 2. Aufl., § 148 Rz. 10), kann dem nicht gefolgt werden. § 148 ZPO stellt nicht auf sachliche oder tatsächliche Zusammenhänge zwischen verschiedenen Verfahren, sondern auf die Abhängigkeit vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab. Allein die tatsächliche Möglichkeit eines Einflusses genügt dieser gesetzlichen Voraussetzung nicht und wäre im Übrigen auch ein konturenloses Kriterium, das das aus dem Justizgewährleistungsanspruch folgende grundsätzliche Recht der Prozessparteien auf Entscheidung ihres Rechtsstreits in seinem Kern beeinträchtigen würde.
b) Die Aussetzung der Verhandlung wird aber auch nicht durch eine entsprechende Anwendung der Vorschrift des § 148 ZPO, wie sie das Berufungsgericht für möglich gehalten hat, gerechtfertigt.
aa) Dass in einem anderen Verfahren über einen gleich oder ähnlich gelagerten Fall nach Art eines Musterprozesses entschieden werden soll, rechtfertigt für sich genommen noch keine Analogie zu der in § 148 ZPO geregelten Fallkonstellation. Denn die Vorschrift dient zwar auch der Prozessökonomie, indem sie die Gerichte vor der doppelten Befassung mit zumindest teilweise identischem Streitstoff bewahrt (BGH, Beschl. v. 6.4.2004 - X ZR 272/02, GRUR 2004, 710 - Druckmaschinen-Temperierungssystem, für BGHZ 158, 372 vorgesehen; Beschl. v. 25.3.1998 - VIII ZR 337/97, MDR 1998, 732 = NJW 1998, 1957; Beschl. v. 17.12.1997 - XII ARZ 32/97, FamRZ 1998, 1023). Darin erschöpft sich der Zweck der Norm jedoch nicht; § 148 ZPO enthält keine allgemeine Ermächtigung, die Verhandlung eines Rechtsstreits zur Abwendung einer vermeidbaren Mehrbelastung des Gerichts auszusetzen. Vielmehr ist die Aussetzung grundsätzlich nur dann eröffnet, wenn die Entscheidung in dem einen Rechtsstreit die Entscheidung des anderen rechtlich beeinflussen kann.
bb) Ist die Verfassungsmäßigkeit eines entscheidungserheblichen Gesetzes Gegenstand einer anhängigen Verfassungsbeschwerde oder Richtervorlage, ist es hiernach zulässig, die Verhandlung in entsprechender Anwendung des § 148 ZPO auszusetzen, solange sich das erk. Gericht nicht von der Verfassungswidrigkeit des entscheidungserheblichen Gesetzes überzeugt hat (BGH, Beschl. v. 18.7.2000 - VIII ZR 323/99, RdE 2001, 20; Beschl. v. 25.3.1998 - VIII ZR 337/97, MDR 1998, 732 = NJW 1998, 1957; s.a. BVerfG v. 11.1.2000 - 1 BvR 1392/99, NJW 2000, 1484). Denn wird das entscheidungserhebliche Gesetz für nichtig erklärt, wirkt dies erga omnes und beeinflusst damit notwendigerweise das ausgesetzte Verfahren rechtlich.
cc) Ob darüber hinaus Fälle denkbar sind, in denen der rechtlich erhebliche Einfluss des Verfahrens, bis zu dessen Entscheidung ausgesetzt wird, durch einen anderen, über bloße Prozesswirtschaftlichkeit hinausreichenden Wertungsgesichtspunkt ersetzt werden kann, muss im Streitfall nicht abschließend entschieden werden. Es kann auch dahinstehen, ob bei "Massenverfahren" die Unmöglichkeit einer angemessenen Bewältigung der Gesamtheit der Verfahren das Gewicht verfahrenswirtschaftlicher Erwägungen ggf. so zu erhöhen vermag, dass hierin ein nicht nur quantitativ, sondern qualitativ anderer Wertungsgesichtspunkt als die "normale" Prozessökonomie hervortritt (s. dazu Stürner, JZ 1978, 499 [501]; Musielak/Stadler, ZPO, 4. Aufl., § 148 Rz. 5; Peters in MünchKomm/ZPO, 2. Aufl., § 148 Rz. 9; LG Freiburg v. 23.9.2003 - 9 S 20/03, NJW 2003, 3424; abl. Kähler, NJW 2004, 1132 [1136]; Stein/Jonas/Roth, ZPO, 21. Aufl., § 148 Rz. 16). Denn die angefochtene Entscheidung lässt keinen Wertungsgesichtspunkt erkennen, der die Aussetzung der Verhandlung tragen könnte.
Die beim Senat anhängigen Verfahren X ZR 156/03, X ZR 157/03 und X ZR 158/03 rechtfertigen die Aussetzung der Verhandlung vor dem Berufungsgericht nicht. Sie betreffen zwar wie der Streitfall die Höhe der angemessenen Entschädigung für den Nachbau. Die bloße Übereinstimmung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage erlaubt jedoch die Aussetzung jedenfalls dann nicht, wenn sie nicht mit Zustimmung beider Parteien erfolgt. Zwar spricht das Berufungsgericht abschließend bei der Begründung der Zulassung der Rechtsbeschwerde (in Anführungszeichen) auch von Massenverfahren. Dass das Berufungsgericht mit einer schlechthin nicht zu bewältigenden Vielzahl von gleich gelagerten Berufungsverfahren befasst wäre, lässt seine Entscheidung jedoch nicht erkennen; andere ggf. relevante Gründe für eine Aussetzung führt es nicht an.
3. Es rechtfertigt die angefochtene Entscheidung auch nicht, dass der Senat in den vom Berufungsgericht genannten Verfahren zwischenzeitlich dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vier Fragen zur Auslegung von Art. 5 Abs. 2, 4 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 1768/95 der Kommission über die Ausnahmeregelung gem. Art. 14 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2100/94 des Rates über den gemeinschaftlichen Sortenschutz v. 24.7.1995 i.d.F. der Verordnung (EG) Nr. 2605/98 der Kommission v. 3.12.1998 nach Art. 234 EG zur Vorabentscheidung vorgelegt hat (jeweils BGH, Beschl. v. 11.10.2004; Beschl. v. 11.10.2004 - X ZR 156/03, BGHReport 2005, 525 = GRUR 2005, 240). Denn eine Ermessensentscheidung des Inhalts, die Verhandlung auszusetzen, bis über diese Vorlagen entschieden ist, hat das Berufungsgericht nicht getroffen. Sie kann von dem zur Entscheidung über die Berufung gegen das Urteil des LG (im derzeitigen Verfahrensstadium) nicht befugten beschließenden Senat nicht nachgeholt werden. Daher bedarf es keiner Entscheidung, ob das Berufungsgericht berechtigt gewesen wäre, eine solche Aussetzungsentscheidung zu treffen (s. dazu BAG, Beschl. v. 6.11.2002 - 5 AZR 279/01 (A), bei juris; BPatG, Beschl. v. 16.4.2002 - 33 W (pat) 25/01, BPatGE 45, 89 = GRUR 2002, 734), wofür immerhin sprechen könnte, dass die Gemeinschaftsgerichte und die nationalen Gerichte zu loyaler Zusammenarbeit verpflichtet sind (EuGH GRUR-Int. 2001, 333, Rz. 58 - Masterfoods/HB Ice Cream) und die Erfüllung der Aufgabe des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, nicht als Rechtsmittelgericht in mitgliedstaatlichen Verfahren tätig zu werden, sondern verbindlich über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu entscheiden, durch eine Vielzahl von gleich gelagerten, nichts zu einer Verbreiterung der Entscheidungsgrundlagen beitragenden Vorabentscheidungsersuchen eher beeinträchtigt denn gefördert werden könnte.
Fundstellen
BGHZ 2005, 373 |
HFR 2005, 1027 |
NJW 2005, 1947 |
BGHR 2005, 1000 |
FamRZ 2005, 1081 |
GRUR 2005, 615 |
AnwBl 2005, 75 |
EuZW 2005, 448 |
MDR 2005, 1185 |
VersR 2005, 1410 |
WRP 2005, 899 |
GuT 2005, 183 |
Mitt. 2005, 326 |
ProzRB 2005, 208 |