Verfahrensgang
LG Kassel (Urteil vom 26.05.2020; Aktenzeichen 4735 Js 16062/16 5 KLs) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 26. Mai 2020 im Strafausspruch aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 86 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und eine Kompensationsentscheidung wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung getroffen. Seine auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision hat im Strafausspruch Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Rz. 2
1. Der Schuldspruch hält rechtlicher Nachprüfung stand. Hingegen begegnet der Strafausspruch durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Rz. 3
a) Das Landgericht hat 72 in den Jahren 1992 bis 1994 begangene Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern festgestellt, die (in zwei Varianten) vom Ablauf und den einzelnen Handlungen her immer gleich waren (Anfassen der nackten Scheide der Nebenklägerin und Einführen eines Fingers in die Scheide, Reiben des entblößten Gliedes des Angeklagten). Es ist von dreizehn weiteren Taten ausgegangen, die – an drei unterschiedlichen Orten begangen – zusätzlich zu den in den vorangegangenen Fällen festgestellten sexuellen Handlungen jeweils den gescheiterten Versuch eines Geschlechtsverkehrs beinhalteten (Fälle 73-81, 82-84, 85). Schließlich hat es einen weiteren Fall eines sexuellen Übergriffs festgestellt, bei dem der Angeklagte und die Nebenklägerin von ihren Eltern überrascht worden sind (ebenfalls Anfassen des Penis und Berühren und Eindringen in die Scheide). Die Strafkammer hat eine pauschalierende Strafzumessung für einzelne von ihr gebildete Gruppen vorgenommen und für die Fälle 1-10 je sechs Monate Freiheitsstrafe, für die Fälle 11-72 und 86 je zehn Monate Freiheitsstrafe und für die Fälle 73-85 je ein Jahr Freiheitsstrafe verhängt.
Rz. 4
b) Diese Bemessung der Strafen lässt eine im Hinblick auf die Schuldschwere gebotene Differenzierung nicht erkennen (vgl. Senat, Beschluss vom 12. November 2008 – 2 StR 355/08, NStZ-RR 2009, 72); zudem hat das Landgericht allen Straftaten dieselben Strafzumessungserwägungen zugrunde gelegt und infolge dessen die unterschiedliche Festsetzung der Strafen nicht begründet. Die Abweichungen in der Strafhöhe erklären sich – etwa im Hinblick auf die während der einzelnen Taten begangenen sexuellen Handlungen und ihren Unrechtsgehalt – auch nicht von selbst. Es ist zwar ohne Weiteres nachvollziehbar, dass diejenigen Taten, bei denen der Angeklagte den Versuch eines Geschlechtsverkehrs unternommen hat (Fälle 73-85), schwerer wiegen als die übrigen Fälle, bei denen es beim Eindringen eines Fingers in die Scheide der Nebenklägerin und dem Anfassen des Penis geblieben ist. Warum die Strafkammer aber bei den letztgenannten Taten differenziert hat, indem sie bis einschließlich Fall 10 eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten, ab Fall 11 (bis einschließlich Fall 72) sowie im Fall 86 eine höhere Freiheitsstrafe von zehn Monaten Freiheitsstrafe angeordnet hat, erschließt sich nicht. Dies gilt um so mehr, als bei einer über Jahre sich hinziehenden Tatserie die Hemmschwelle eines Täters eher gesunken sein dürfte, und dies genauso wie auch das zunehmende Alter eines Tatopfers Umstände sein können, die den Unrechtsgehalt einer Tat verringern und deshalb bei der Strafbemessung zu Gunsten eines Angeklagten in den Blick zu nehmen sind (vgl. Senat, aaO; BGH, Beschlüsse vom 21. Mai 2003 – 5 StR 199/03, NStZ-RR 2003, 272, und vom 22. März 1995 – 3 StR 625/94; BGHR StGB § 54 Serienstraftaten 1). Damit ist die ohne weitere Begründung erfolgte Festsetzung sich im Laufe der Tatserie steigernder höherer Freiheitsstrafe nicht in Einklang zu bringen.
Rz. 5
c) Der Rechtsfehler erfasst zunächst die Bemessung der Einzelstrafen in den Fällen 1 bis 72 und 86, berührt aber auch die übrigen Strafen hinsichtlich der Taten 73 bis 85. Auch insoweit handelt es sich um Einzeltaten einer Tatserie, bei denen die genannten Umstände einer sinkenden Hemmschwelle und des zunehmenden Alters des Tatopfers für die Strafzumessung Bedeutung erlangen können.
Rz. 6
d) Dies führt zur Aufhebung sämtlicher Einzelstrafen und entzieht dem Gesamtstrafenausspruch, der zudem insbesondere mit Blick auf die mehr als 20 Jahre zurückliegenden Taten und die vierfache Erhöhung der Einsatzstrafe einer eingehenderen Begründung bedurft hätte, die Grundlage.
Rz. 7
e) Der Aufhebung von Feststellungen bedarf es im vorliegenden Fall nicht. Der Tatrichter kann ergänzend weitere Feststellungen treffen, die zu den bestehenden nicht in Widerspruch stehen.
Rz. 8
2. Hinsichtlich der Abfassung der Urteilsgründe weist der Senat darauf hin, dass diese nicht dazu dienen, all das zu dokumentieren, was in der Hauptverhandlung an Beweisen erhoben wurde. Sie sollen nicht das vom Gesetzgeber abgeschaffte Protokoll über den Inhalt von Angeklagten- und Zeugenäußerungen ersetzen, sondern vielmehr das Ergebnis der Hauptverhandlung wiedergeben und die Nachprüfung der Entscheidung ermöglichen. Eine umfängliche Wiedergabe der Einlassung des Angeklagten sowie von Zeugenaussagen ohne Bezug zu Einzelheiten einer späteren Beweiswürdigung ist deshalb regelmäßig verfehlt (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Mai 2020 – 2 StR 367/19). Die Mitteilung von zahlreichen nebensächlichen Details ohne erkennbare Entscheidungserheblichkeit macht die Urteilsgründe unübersichtlich, fehleranfällig und führt zu unnötiger Schreib- und Lesearbeit. Die Urteilsgründe sollen alles Wesentliche enthalten, aber nicht mehr als dies (Senat, Beschluss vom 28. Januar 2016 – 2 StR 425/15). Diesen Anforderungen genügt das landgerichtliche Urteil hier nicht. Eine ins Einzelne gehende Wiedergabe jeder gestellten Frage oder eines Vorhalts mit der entsprechenden Antwort (hier insbesondere hinsichtlich der Nebenklägerin über nahezu 30 Seiten, aber auch mit Blick auf die Einlassung des Angeklagten) versperrt den Blick auf die wesentlichen Punkte einer im Hinblick auf die Schuld- und Straffrage anzustellenden Beweiswürdigung und kann insbesondere nicht die konzentrierte, zusammenfassende Darstellung einer Einlassung oder Zeugenaussage ersetzen. Da der Senat die für die Entscheidung anzustellenden Beweiserwägungen den Urteilsgründen letztlich noch entnehmen kann, ist durch die mangelhafte Abfassung der Urteilsgründe der Bestand der Entscheidung hier (noch) nicht gefährdet.
Unterschriften
Franke, Krehl, Eschelbach, Zeng, Meyberg
Fundstellen
Haufe-Index 14497632 |
NStZ-RR 2021, 207 |
NStZ-RR 2021, 365 |