Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Mißbrauch von Kindern
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 27. April 1999, soweit er verurteilt worden ist, im Schuldspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine Strafkammer des Landgerichts München I zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Landgericht hat den Angeklagten am 25. November 1997 wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Dieses Urteil hat der Senat auf die Revision des Angeklagten mit Urteil vom 29. Juli 1998 (NStZ 1999, 42) im Schuldspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
Mit dem jetzt angefochtenen Urteil hat das Landgericht den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn in zwei Fällen freigesprochen. Die gegen die Verurteilung gerichtete Revision des Beschwerdeführers rügt die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat aufgrund der Sachrüge Erfolg.
1. Zur Beweiswürdigung hat der Senat in seinem Urteil vom 29. Juli 1998 ausgeführt, die Strafkammer sei sich der Fallkonstellation „Aussage gegen Aussage” nicht ausreichend bewußt gewesen. Sie habe vor dem Hintergrund sich im Ergebnis widersprechender Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Aussage des einzigen Belastungszeugen erhebliche Zweifel nicht ausgeräumt, die durch den Angeklagten entlastende Aussagen von Familienangehörigen entstanden waren. Außerdem habe die Einbeziehung dieser Aussagen in die erforderliche Gesamtwürdigung aller Beweise gefehlt.
a) Im einzelnen hat der Senat beanstandet, die Strafkammer habe ihre Zweifel an der Aussage des Geschädigten über frühere Mißbrauchstaten in M., die nicht – wie von ihm behauptet – auch an den Samstagvormittagen stattgefunden haben konnten, mit theoretischen Erwägungen über mögliche andere Tatzeitpunkte ausgeräumt.
b) Zweifel an seiner Aussage bestanden auch deshalb, weil der Geschädigte dem Angeklagten vorgeworfen hat, er habe nicht nur ihn, sondern auch seine Schwester C. mißbraucht und ihn mit ihr im Bett angetroffen. Nachdem die Schwester dies bestritten hatte, hat die Kammer ihre Zweifel mit der Erwägung überwunden, die Erklärungen des Geschädigten hierzu beruhten auf einem „Irrtum”.
c) Die Strafkammer hat weiteren, den Angeklagten entlastenden Aussagen der Mutter und der Schwester S. des Geschädigten allein deshalb keine Bedeutung beigemessen, weil aus ihren Aussagen „ihre Einstellung zu A. K.” zutage getreten sei. Darin hat der Senat einen Zirkelschluß in der Beweiswürdigung gesehen.
d) Schließlich hat der Senat die Prüfung möglicher Motive des Geschädigten für sein Aussageverhalten als nicht ausreichend angesehen. Er hat es für erforderlich gehalten, einem vom Geschädigten in der Strafanzeige mitgeteilten Vorfall über besonders grausame Quälereien in der Badewanne, der nicht Gegenstand des Verfahrens war, unter dem Gesichtspunkt einer Falschbezichtigung nachzugehen und die Beweisbedeutung dieser Äußerung näher zu prüfen.
2. Über diese einzelnen Fehler in der Beweiswürdigung hinaus hat der Senat es insbesondere als Rechtsfehler angesehen, daß die Strafkammer keine Gesamtwürdigung aller Aussagen vorgenommen hat, die für und gegen die Glaubhaftigkeit der Tatschilderungen des Geschädigten sprechen. Fehlerhaft war vor allem, daß die übereinstimmenden Aussagen der Zeuginnen aus dem familiären Bereich, die seit Jahren vom Angeklagten getrennt leben und keinen Anlaß zu seiner Begünstigung haben, in die Gesamtwürdigung über die Glaubhaftigkeit der Aussage des Geschädigten nicht einbezogen worden sind.
II.
1. Nach § 358 Abs. 1 StPO ist nach Aufhebung einer Verurteilung und Zurückverweisung einer Sache der neue Tatrichter bei seiner Entscheidung auch an die Auffassung des Revisionsgerichts zur Beweiswürdigung gebunden, wenn das Urteil an lückenhaften Feststellungen und Mängeln bei der Würdigung von Beweisen leidet. Die Mißachtung dieser Bindungswirkung im sachlich-rechtlichen Bereich ist auf die Sachrüge hin bei der erneuten Revision zu beachten (Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 44. Aufl. § 358 Rdn. 10). Der neue Tatrichter hat diese Fehler bei der neuen Entscheidung zu vermeiden (Kuckein in KK StPO 4. Aufl. § 358 Rdn. 9 m. w. Nachw.). Das nunmehr angefochtene Urteil verstößt gegen § 358 StPO. Es weist im wesentlichen die gleichen Beweiswürdigungsfehler auf wie das seinerzeit aufgehobene landgerichtliche Urteil. Die Überzeugungsbildung der Strafkammer hält erneut rechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Es bestehen bereits Bedenken dagegen, daß die Strafkammer die vom Geschädigten behaupteten ersten sexuellen Übergriffe des Angeklagten in M. und zu der körperlichen Züchtigung im kalten Wasser der Badewanne lediglich als Vorgeschichte in der Form eines Berichts zu den die Verurteilung tragenden Tathandlungen darstellt und sie damit der Beweiswürdigung entzieht. Auf den vom Senat ausdrücklich angesprochenen Widerspruch bezüglich angeblicher Mißbrauchshandlungen an Samstagvormittagen geht das angefochtene Urteil nicht ein. Über den Vorfall in der Badewanne wird schlicht mitgeteilt, der Geschädigte habe wie festgestellt ausgesagt.
Eine an Realkennzeichen orientierte Analyse der Aussage über diesen Zeitraum enthält die Beweiswürdigung nicht, obwohl die Strafkammer erkennbar ihre Überzeugung von der Glaubhaftigkeit der Aussage des Geschädigten insgesamt auch auf diese Angaben stützt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes hätte die Strafkammer die Aussage zu diesen Punkten besonders kritisch prüfen müssen. Hält der einzige Belastungszeuge seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht aufrecht oder stellt sich sogar die Unwahrheit eines Aussageteils heraus, muß der Tatrichter regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe nennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im übrigen dennoch zu glauben (BGHSt 44, 153, 159).
Auch die Genese der in der Anzeige enthaltenen Aussage über den Vorfall in der Badewanne und deren Entwicklung im weiteren Verfahren bis zu ihrer Behandlung als Vorgeschichte werden nicht näher dargelegt. Alternativen, nach denen die Aussagen über diese frühen Vorfälle nicht auf einem realen Erlebnishintergrund beruhen könnten, werden nicht erörtert. Zweifel an der Präzision der Aussage über die Mißbrauchsfälle um den 14. Geburtstag des Geschädigten, die immerhin in zwei Fällen zu einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen geführt haben, werden im übrigen damit überwunden, daß „die gesamte Familie K. erhebliche Schwierigkeiten hatte, Ereignisse korrekt zeitlich einzuordnen oder genaue Angaben zu bestimmten Zeitpunkten und Zeiträumen zu machen”.
b) Bedenken bestehen auch dagegen, wie die Strafkammer ihre durch die Zeugenaussage der Schwester C. hervorgerufenen Zweifel überwindet. Die Schwester hat wiederum ausgesagt, der Angeklagte habe sie nicht mißbraucht und habe nicht mit ihr im Bett gelegen. Während der Widerspruch im ersten Urteil mit einem Irrtum des Zeugen begründet wurde, führt die Kammer nun aus, sie könne diesen Vorfall nicht aufklären. Dies sei jedoch für die Lösung des Falles nicht entscheidend, denn es sei der Zeugin nicht gelungen, ihre Behauptung, ihr Bruder habe eine blühende Phantasie und neige zu Übertreibungen, zu belegen. Damit entzieht sich die Kammer jeder Auseinandersetzung mit diesem Teil der Aussage des Geschädigten. Sie läßt die Möglichkeit gezielter Falschbezichtigung des Angeklagten hinsichtlich der Schwester C. weiter offen. Gleichwohl stützt sie ihre Überzeugung uneingeschränkt auf die Angaben des Geschädigten, ohne die Zweifel über dieses erhebliche Detail auszuräumen. Die Beweiswürdigung bleibt weiterhin widersprüchlich.
c) Ähnliche Bedenken bestehen gegen die Behandlung der im einzelnen nicht mitgeteilten Aussage der Mutter, die ausgesagt hat, sie habe von den Übergriffen nichts mitbekommen. Sie wisse nicht, ob sie ihrem Sohn oder dem Angeklagten glauben solle. Trotz dieser den Geschädigten nicht unterstützenden Aussage über den Zeitraum, in dem die Zeugin mit dem Angeklagten zusammengelebt hat, kommt die Strafkammer zu dem Ergebnis, diese Aussage stütze weder die Überzeugung von der Glaubwürdigkeit des Geschädigten, noch erschüttere sie diese zugunsten des Angeklagten. Auch mit dieser Behandlung entzieht sich die Strafkammer der Bewertung der Aussage des Geschädigten.
d) Insbesondere vermeidet die Strafkammer eine Auseinandersetzung über den Inhalt der sich widersprechenden Aussagen der Schwester S. und des Geschädigten. Diese Zeugin hat unter Eid ausgesagt, ihr Bruder habe ihr gegenüber zugegeben, den Angeklagten zu Unrecht belastet zu haben. Die Strafkammer hält die Zeugin „selbst trotz der Vereidigung nicht für glaubwürdig”. Sie habe einen von ihr später geschriebenen Brief an die neue Ehefrau des Angeklagten – darin hat sie, wie sie selbst einräumt, diesen des sexuellen Mißbrauchs auch an ihr bezichtigt – „nicht erklären” können. Wie die Revision zutreffend ausführt, verkennt die Strafkammer, daß es keinen schlechthin glaubwürdigen oder schlechthin unglaubwürdigen Menschen gibt. Die Strafkammer unterläßt es, die sich widersprechenden Aussagen des Geschädigten und seiner Schwester zu einem entscheidungserheblichen Punkt auf ihren konkreten Aussagegehalt zu untersuchen.
2. Auch im angefochtenen Urteil fehlt wiederum die vom Senat für unerläßlich gehaltene Gesamtwürdigung aller Aussagen, die für oder gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage des Geschädigten sprechen. Die Strafkammer setzt sich mit den Aussagen der Mutter und der Schwestern jeweils einzeln auseinander und legt dar, weshalb jede einzelne Aussage die Überzeugung von der Glaubhaftigkeit der Aussage des Geschädigten nicht erschüttern kann. Dies läßt besorgen, daß die Kammer mit ihrer Vorgehensweise nicht nur jede einzelne Aussage der Familienangehörigen unzulässig relativiert. Die Kammer hat auch verkannt, daß die im Kern den Angeklagten entlastenden Aussagen aus dem familiären Umfeld in der Summe von besonderem Gewicht sind. Sprechen in der Gesamtwürdigung daher ganz erhebliche Zweifel gegen wesentliche Teile der Aussage des Geschädigten, bedarf es der Abwägung und der Darlegung ganz erheblicher Gründe, warum die Strafkammer der Aussage des Geschädigten dennoch glaubt.
3. Die Sache bedarf somit erneuter Verhandlung und Entscheidung. Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).
Mit dieser Entscheidung erledigt sich die sofortige Beschwerde, die der Angeklagte gegen die Kostenentscheidung des angefochtenen Urteils eingelegt hat.
Unterschriften
Schäfer, Dr. Maul ist wegen Urlaubs an der Unterschrift verhindert. Schäfer, Granderath, Nack, Boetticher
Fundstellen
Haufe-Index 540149 |
NStZ 2000, 551 |
StV 2002, 14 |
StraFo 2000, 308 |