Leitsatz (amtlich)
a) Der Betroffene ist in Betreuungssachen als verfahrensfähig anzusehen, ohne dass es auf seine Fähigkeit ankommt, einen natürlichen Willen zu bilden.
b) Die Verfahrensfähigkeit umfasst auch die Befugnis, einen Verfahrensbevollmächtigten zu bestellen.
Normenkette
FamFG §§ 275, 11
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des LG Mannheim vom 31.5.2013 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das LG zurückverwiesen.
Beschwerdewert: 3.000 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Für die unter einer schweren Demenz leidende Betroffene bestand seit November 2011 eine Betreuung mit den Aufgabenkreisen der Vermögenssorge, der Gesundheitsfürsorge und der Aufenthaltsbestimmung. Mit Beschluss vom 18.1.2013 ist das AG der Bitte des als berufsmäßiger Betreuer bestellten Rechtsanwalts O., aus seinem Betreueramt entlassen zu werden, nachgekommen und hat die Beteiligte zu 1) zur neuen Betreuerin bestellt. Zudem hat es für den Aufgabenkreis der Vermögenssorge einen Einwilligungsvorbehalt angeordnet.
Rz. 2
Hiergegen hat Rechtsanwalt R. ausdrücklich namens und in Vollmacht der Betroffenen Beschwerde eingelegt. Nach Anhörung der Betroffenen hat das Beschwerdegericht die Beschwerde als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen.
II.
Rz. 3
Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung der angefochtenen Beschwerdeentscheidung.
Rz. 4
1. Das LG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, es fehle an einer wirksamen Vollmachterteilung an Rechtsanwalt R. durch die Betroffene. Zwar sei sie ohne Rücksicht auf ihre Geschäftsfähigkeit verfahrensfähig. Für die Erteilung einer Vollmacht sei aber weiter erforderlich, dass sie sich einen eigenen natürlichen Willen zum Gegenstand der Mandatserteilung bilden könne sowie sich gebildet und dann auch artikuliert habe. Dass dies der Fall sei, könne trotz dreier Vollmachten vom 1.12.2011, 3.2.2012 und 14.1.2013 nicht festgestellt werden.
Rz. 5
2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die dem Rechtsanwalt R. durch die Betroffene erteilte Verfahrensvollmacht ist wirksam, so dass dieser in zulässiger Weise für die Betroffene die Beschwerde eingelegt hat.
Rz. 6
a) Gemäß § 275 FamFG ist der Betroffene im Betreuungsverfahren ohne Rücksicht auf seine Geschäftsfähigkeit verfahrensfähig. Die Verfahrensfähigkeit umfasst dabei das gesamte Verfahren, so dass dem Betroffenen insoweit alle Befugnisse eines Geschäftsfähigen zur Verfügung stehen.
Rz. 7
Die ganz herrschende Meinung leitet daraus auch die grundsätzliche Befugnis des Betroffenen ab, jederzeit selbst einen Verfahrensbevollmächtigten zu bestellen (KG FamRZ 2010, 835; OLG Schleswig FamRZ 2007, 1126; BayObLG BtPrax 2005, 148; BayObLG Beschluss vom 3.3.2004 - 3Z BR 268/03 - juris Rz. 5; OLG Saarbrücken FGPrax 1999, 108, 109; Keidel/Budde FamFG 17. Aufl., § 275 Rz. 5; MünchKommFamFG/Schmidt-Recla 2. Aufl., § 275 Rz. 3; Prütting/Helms/Fröschle FamFG 3. Aufl., § 275 Rz. 11; Bork/Jacoby/Schwab/Heiderhoff FamFG 2. Aufl., § 275 Rz. 2; Damrau/Zimmermann Betreuungsrecht 4. Aufl., § 275 FamFG Rz. 5; Knittel Betreuungsrecht [Stand: 1.3.2013] § 275 FamFG Rz. 9; Horndrasch/Viefhues/Beermann FamFG § 275 Rz. 2; Brosey in Bahrenfuss FamFG § 275 Rz. 2; Schulte-Bunert/Weinreich/Rausch FamFG 3. Aufl., § 275 Rz. 5; Grabow in Holzer FamFG § 275 Rz. 2; BeckOK-FamFG/Günter [Stand: 1.7.2013] § 275 Rz. 2; Heidebach in Haußleiter FamFG § 275 Rz. 3; Jurgeleit/Meier Betreuungsrecht 3. Aufl., § 275 FamFG Rz. 3; HK-BUR/Bauer [Stand: Juli 2011] § 275 Rz. 7; a.A. Prütting/Helms/Roth FamFG 3. Aufl., § 316 Rz. 3 f.). Der Senat teilt diesen Ansatz.
Rz. 8
Die Norm des § 275 FamFG ersetzt § 66 FGG, der wiederum auf das Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige (Betreuungsgesetz) vom 12.9.1990 (BGBl. I, 2002) zurückging. Ein wesentliches Ziel der mit dem Betreuungsgesetz vorgenommenen Änderungen des Gesetzes über die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit war es, die Rechtsposition des Betroffenen auch im Verfahren zu stärken. In einem fairen Verfahren sollte er eigenständiger Beteiligter und nicht "Verfahrensobjekt" sein. Als Kernstück der Verfahrensvorschriften wurde daher schon in § 66 FGG die Verfahrensfähigkeit des Betroffenen ausdrücklich geregelt und auf alle die Betreuung betreffenden Verfahren ausgedehnt. Damit sollte der Betroffene in die Lage versetzt werden, seinen Willen nach Kräften selbst zu vertreten, ohne auf Andere, insb. gesetzliche Vertreter, angewiesen zu sein (vgl. BGH v. 4.5.2011 - XII ZB 632/10, FamRZ 2011, 1049 Rz. 10; BT-Drucks. 11/4528, 89 und 170).
Rz. 9
Der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck einer Stärkung der verfahrensrechtlichen Position des Betroffenen würde ohne die Möglichkeit, selbst einen Verfahrensbevollmächtigten zu bestellen, in vielen Fällen verfehlt. Denn wie schon der Blick auf die in § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB genannten medizinischen Voraussetzungen der Betreuung verdeutlicht, wird es dem Betroffenen häufig nur mit anwaltlicher Vertretung möglich sein, seine Rechte im Betreuungsverfahren effektiv wahrzunehmen.
Rz. 10
b) Unterschiedliche Auffassungen werden in Rechtsprechung und Literatur allerdings dazu vertreten, ob die Erteilung einer wirksamen Verfahrensvollmacht durch den Betroffenen zumindest das Vorliegen eines auf die Vertretung durch einen Bevollmächtigten gerichteten natürlichen Willens erfordert.
Rz. 11
aa) Die Befürworter einer solchen Einschränkung des § 275 FamFG (Prütting/Helms/Fröschle FamFG 3. Aufl., § 275 Rz. 11; HK-BUR/Bauer [Stand: Juli 2011] § 275 FamFG Rz. 8; vgl. auch OLG Saarbrücken FGPrax 1999, 108, 109; wohl auch BayObLG BtPrax 2005, 148 und Beschluss vom 3.3.2004 - 3Z BR 268/03 - juris Rz. 7; unklar Grabow in Holzer FamFG § 275 Rz. 2) verweisen auf die Natur der Vollmachterteilung als Willenserklärung und darauf, dass die gesetzgeberische Vorstellung vom Betroffenen als selbstbestimmtem Verfahrenssubjekt zuweilen nicht verwirklicht werden könne, wenn der Betroffene durch seine Erkrankung jegliche Fähigkeit eingebüßt habe, sich verständlich zu artikulieren, den Sinn und die Folgen seiner Erklärung auch nur ansatzweise zu erkennen oder sich eine wenigstens ungefähre Vorstellung von seiner Lage zu bilden. Die Anerkennung von Äußerungen des Betroffenen als rechtserheblich berge dann die Gefahr, den Betroffenen - mehr oder weniger wohlmeinender - privater Herrschaft Dritter zu unterwerfen.
Rz. 12
bb) Demgegenüber hält die in der Literatur herrschende Meinung (MünchKommFamFG/Schmidt-Recla 2. Aufl., § 275 Rz. 2 und 6; Bork/Jacoby/Schwab/Heiderhoff FamFG 2. Aufl., § 275 Rz. 3; Knittel Betreuungsrecht [Stand: 1.3.2013] § 275 FamFG Rz. 9; Sonnenfeld in Bienwald/Sonnenfeld/Hoffmann Betreuungsrecht 5. Aufl., § 275 FamFG Rz. 13; Damrau/Zimmermann Betreuungsrecht 4. Aufl., § 275 FamFG Rz. 5; Horndasch/Viefhues/Beermann FamFG § 275 Rz. 3; Bassenge in Bassenge/Roth FamFG 12. Aufl., § 275 Rz. 1; Schulte-Bunert/Weinreich/Rausch FamFG 3. Aufl., § 275 Rz. 5; BeckOK-FamFG/Günter [Stand: 1.7.2013] § 275 Rz. 2a; Heidebach in Haußleiter FamFG § 275 Rz. 2; Jurgeleit/Meier 3. Aufl., § 275 FamFG Rz. 4; Schmidt FGPrax 1999, 178, 179; vgl. auch OLG Schleswig FamRZ 2007, 1126) das Erfordernis eines natürlichen Willens für mit Wortlaut und Zweck der Vorschrift unvereinbar und in der Praxis problematisch.
Rz. 13
c) Die letztgenannte Auffassung ist zutreffend.
Rz. 14
aa) Nach dem Wortlaut des § 275 FamFG besteht die Verfahrensfähigkeit des Betroffenen uneingeschränkt und ist an keine weiteren Voraussetzungen geknüpft. Den Gesetzesmaterialien lässt sich nichts dazu entnehmen, dass der Gesetzgeber gleichwohl eine Differenzierung etwa nach unterschiedlichen Graden der geistigen Leistungsfähigkeit oder aber nach der Schwere der psychischen und physischen Beeinträchtigungen des Betroffenen vornehmen wollte. Vielmehr ging es ihm darum, die Rolle des Betroffenen als eigenständigem Verfahrensbeteiligten zu sichern (BT-Drucks. 11/4528, 89 und 170). Damit trug der Gesetzgeber Art. 1 Abs. 1 GG Rechnung, aus dem folgt, dass niemand zum bloßen Objekt eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens werden darf (BVerfGE 63, 332, 337).
Rz. 15
Mit dieser gesetzgeberischen Intention wäre es nicht vereinbar, aus den das Betreuungsverfahren erst auslösenden krankheitsbedingten Beeinträchtigungen der Willensbildungsfähigkeit eines Betroffenen wiederum auf Einschränkungen der Verfahrensfähigkeit - und der daraus folgenden Fähigkeit zur Erteilung einer Verfahrensvollmacht - rückzuschließen. Dies würde § 275 FamFG einen maßgeblichen Teil seiner Wirkung nehmen und zu einer gegenüber der Geschäftsfähigkeit nur wenig erweiterten Verfahrensfähigkeit führen (vgl. Bork/Jacoby/Schwab/Heiderhoff FamFG 2. Aufl., § 275 Rz. 3). Das war jedoch vom Gesetzgeber ersichtlich nicht gewollt.
Rz. 16
bb) Hinzu kommt, dass es dem Merkmal eines natürlichen Willens in dem von seinen Befürwortern vertretenen Bedeutungsgehalt an der für § 275 FamFG erforderlichen Trennschärfe fehlt (vgl. MünchKommFamFG/Schmidt-Recla 2. Aufl., § 275 Rz. 2; Damrau/Zimmermann Betreuungsrecht 4. Aufl., § 275 FamFG Rz. 5; Horndasch/Viefhues/Beermann FamFG § 275 Rz. 3).
Rz. 17
Grundsätzlich liegt ein (nur) natürlicher Wille vor, wenn es einem Betroffenen an einem der beiden für eine freie Willensbestimmung erforderlichen Elemente, der Einsichtsfähigkeit oder der Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln, fehlt (BGH v. 9.2.2011 - XII ZB 526/10, FamRZ 2011, 630 Rz. 7; v. 14.3.2012 - XII ZB 502/11, FamRZ 2012, 869 Rz. 14). Die im Zusammenhang mit § 275 FamFG verwendeten - zudem uneinheitlichen - Definitionen des "natürlichen Willens" greifen daher teilweise auf Begrifflichkeiten wie "ungefähre Vorstellung" und "ansatzweise" zurück (vgl. dazu Keidel/Budde FamFG 17. Aufl., § 275 Rz. 7 m.w.N.; HK-BUR/Bauer [Stand: Juli 2011] § 275 FamFG Rz. 8). Das ist folgerichtig, weil die Unterscheidung zur "einfachen" Geschäftsunfähigkeit, bei der § 275 FamFG noch Platz greifen soll, nur mittels gradueller Kriterien möglich ist. Diese entziehen sich jedoch weitgehend einer für die gerichtliche Praxis brauchbaren Handhabung.
Rz. 18
cc) Die von den Befürwortern des Erfordernisses eines natürlichen Willens angeführte Möglichkeit eines Missbrauchs der Befugnis des Betroffenen zur Erteilung einer Verfahrensvollmacht (vgl. insb. OLG Saarbrücken FGPrax 1999, 108, 109) steht der Annahme einer uneingeschränkten Verfahrensfähigkeit des Betroffenen ebenso wenig entgegen wie die allgemeine Gefahr, dass der Betroffene Verfahrenshandlungen zu seinem Nachteil vornehmen kann.
Rz. 19
Zum einen schließt die Sollvorschrift des § 276 Abs. 4 FamFG die Bestellung eines Verfahrenspflegers etwa bei Vorliegen eines Interessenkonflikts auch dann nicht aus, wenn der Betroffene durch einen Rechtsanwalt oder einen anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten vertreten wird (vgl. KG FGPrax 2004, 117; Keidel/Budde FamFG 17. Aufl., § 276 Rz. 15). Zum anderen war dem Gesetzgeber bewusst, dass mit der uneingeschränkten Verfahrensfähigkeit des Betroffenen Probleme einhergehen können (vgl. OLG Schleswig FamRZ 2007, 1126 m.w.N.; ausführlich Sonnenfeld in Bienwald/Sonnenfeld/Hoffmann Betreuungsrecht 5. Aufl., § 275 FamFG Rz. 9; Jurgeleit/Meier 3. Aufl., § 275 FamFG Rz. 4; MünchKommFamFG/Schmidt-Recla 2. Aufl., § 275 Rz. 6). Gleichwohl hat er in § 275 FamFG keine Einschränkungen aufgenommen.
Rz. 20
d) Von der aus der unbeschränkten Verfahrensfähigkeit folgenden Befugnis des Betroffenen zur Erteilung einer Verfahrensvollmacht ist die Frage zu trennen, ob der Betroffene eine Bevollmächtigungserklärung abgegeben hat. Eine solche ist mündlich, schriftlich oder konkludent möglich. Für den Nachweis gilt § 11 FamFG.
Rz. 21
e) Die von der Betroffenen an Rechtsanwalt R. erteilte schriftliche Verfahrensvollmacht ist mithin wirksam. Darauf, ob sich - wie die Rechtsbeschwerde rügt - das Beschwerdegericht mit seiner jetzigen Auffassung in Widerspruch zu seinen früheren Ausführungen und insb. dazu setzt, dass es in einem Vorverfahren die von der Betroffenen erklärte Beschwerderücknahme für wirksam erachtet hatte, kommt es danach nicht an.
Rz. 22
3. Der angefochtene Beschluss ist deshalb aufzuheben und das Verfahren an das LG zur Entscheidung in der Sache zurückzuverweisen.
Fundstellen