Tenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Frankfurt übertragen.

 

Tatbestand

I.

Rz. 1

Der Angeschuldigte befindet sich seit dem 11. Mai 2021 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 7. Mai 2021 (6 BGs 25/21) ununterbrochen in Untersuchungshaft.

Rz. 2

Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe sich als Mitglied an der ausländischen terroristischen Vereinigung „Arbeiterpartei Kurdistans” („Partiya Karkeren Kurdistan”, PKK) beteiligt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord, Totschlag, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a oder § 239b StGB zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1 und 2, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB. Der Angeschuldigte soll von August 2019 bis Juni 2020 die Funktion des Verantwortlichen für die PKK-Regionen H. und S. sowie das PKK-Gebiet F., von Juni 2020 bis zu seiner Festnahme für das PKK-Gebiet St. ausgeübt haben.

Rz. 3

Unter dem 9. November 2021 hat der Generalbundesanwalt wegen des im Haftbefehl aufgeführten Tatvorwurfs Anklage gegen den Angeschuldigten vor dem Oberlandesgericht Frankfurt erhoben.

 

Entscheidungsgründe

II.

Rz. 4

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

Rz. 5

1. Der Angeschuldigte ist der ihm zur Last gelegten Tat dringend verdächtig.

Rz. 6

a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

Rz. 7

aa) Die PKK wurde 1978 unter anderem von Abdullah Öcalan in der Türkei als Kaderorganisation mit dem Ziel gegründet, einen kurdischen Nationalstaat unter ihrer Führung zu schaffen. Zur Verwirklichung dieses Plans initiierte die PKK verschiedene Organisationen, die mehrfach ihre Bezeichnung wechselten. So besteht seit 2007 – unter dieser Bezeichnung – die „Koma Civakên Kurdistan” („Vereinigte Gemeinschaften Kurdistan”, im Folgenden: KCK), die auf einen staatsähnlichen „konföderalen” Verbund der kurdischen Siedlungsgebiete in der Türkei, in Syrien, im Iran und im Irak zielt und dabei umfangreiche staatliche Attribute beansprucht wie Parlament, Gerichtsbarkeit, Armee und Staatsbürgerschaft.

Rz. 8

Die KCK ist, ebenso wie die PKK, auf die Person Abdullah Öcalan ausgerichtet. Daneben vollzieht sich die Willensbildung innerhalb der Organisation etwa über den „Kongra Gele Kurdistan” (KONGRA GEL – „Volkskongress Kurdistans”) und den KCK-Exekutivrat. Die Führungskader folgen grundsätzlich dieser Willensbildung und setzen die getroffenen Entscheidungen um. Zur Überprüfung haben sie den Kadern der übergeordneten Ebene regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten.

Rz. 9

Fester Bestandteil der Strukturen der PKK/KCK sind auch die „Hêzên Parastina Gel” („Volksverteidigungskräfte”, fortan: HPG), die nach dem Willen der Führung handeln. Sie betrachten im Rahmen der von ihnen vorgenommenen „Selbstverteidigung” einen Guerillakrieg als legitimes Mittel. Die HPG verübten vor allem im Südosten der Türkei mittels Sprengstoff und Waffen Anschläge gegen türkische Soldaten sowie Polizisten, wobei sie eine Vielzahl von ihnen verletzten oder töteten. Die HPG bekannten sich seit der Aufkündigung eines „Waffenstillstands” zum 1. Juni 2004 zu über hundert Anschlägen.

Rz. 10

Das Präsidium des Exekutivrats der KCK erklärte, nachdem Abdullah Öcalan aus der Haft heraus eine Friedensbotschaft verlesen und zu einer gewaltfreien politischen Lösung des Konflikts aufgerufen hatte, ab dem 23. März 2013 eine Feuerpause. In der Folge verübten die HPG zwar deutlich weniger Anschläge, ohne dass damit aber eine Abkehr von der Ausrichtung der Organisation auf die Begehung von Tötungsdelikten verbunden gewesen wäre; vielmehr enthielt die Erklärung bereits den Vorbehalt, dass im Fall von Angriffen von dem „Recht auf Selbstverteidigung” Gebrauch gemacht und Vergeltung geübt werde.

Rz. 11

Nachdem der „Friedensprozess” im Juli 2015 endgültig zum Erliegen gekommen war, kam es in der Folge zu Gefechten mit den türkischen Streitkräften, die ihrerseits mit massiver militärischer Gewalt vorgingen. In diesen Auseinandersetzungen spielte die „Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung” (YDGH – Yurtsever Devrimci Genclik Hareketi), die sich mit den Selbstverteidigungskräften der HPG zusammenschloss, eine bedeutsame Rolle. Parallel dazu nahmen die Anschläge der HPG, bei denen Angehörige der türkischen Sicherheitskräfte, aber auch Zivilisten getötet oder verletzt wurden, wieder erheblich zu.

Rz. 12

Der Schwerpunkt der Strukturen und das eigentliche Aktionsfeld der PKK liegen in den von Kurden bevölkerten Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran. Zahlreiche – regelmäßig nur auf die Unterstützung der politischen und militärischen Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat ausgerichtete – Aktivitäten betreibt die PKK indes auch in Deutschland und anderen Ländern Westeuropas. Dazu bediente sie sich bis Juli 2013 der „Civata Demokratîk a Kurdistan” („Kurdische Demokratische Gesellschaft”, im Folgenden: CDK), welche die Direktiven der KCK-Führung umzusetzen hatte und namentlich dazu diente, die in Europa lebenden Kurden zu organisieren. Entsprechend den Vorgaben des 10. CDK-Kongresses vom Mai 2013 zur Neustrukturierung der PKK in Europa benannte sich der europäische Dachverband PKK-naher Vereine „Konföderation der kurdischen Vereine in Europa” (KON-KURD) im Juli 2013 in „Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Europa” (KCD-E) um. Unter der Bezeichnung KCD-E werden nicht nur die Strukturen des KON-KURD, sondern auch diejenigen der CDK fortgeführt.

Rz. 13

Unterhalb der Führungsebene war und ist Europa in Organisationseinheiten verschiedener Ebenen eingeteilt. In Deutschland gab es seit 2002 die drei Sektoren („saha”) „Süd”, „Mitte” und „Nord”; 2012 wurde der Sektor „Süd” in die Sektoren „Süd 1” und „Süd 2” aufgeteilt. Im Jahr 2016 wurden in den vier Sektoren neun Regionen („eyalet”) mit insgesamt 31 Gebieten („bölge”) gebildet. Jede dieser Organisationseinheiten wird in der Regel von einem durch die Vereinigung eingesetzten und alimentierten, professionellen Führungskader geleitet. Die Organisationseinheiten stellen der PKK Finanzmittel bereit, rekrutieren Nachwuchs für den Guerillakampf und betreiben Propaganda. Dabei haben sie die Vorgaben der Europaführung umzusetzen und ihr über die Erfüllung ihrer Aufgaben regelmäßig Bericht zu erstatten.

Rz. 14

bb) Der aus der Türkei stammende Angeschuldigte ist kurdischer Volkszugehörigkeit. Innerhalb der PKK trägt er den Decknamen „X. „. In Kenntnis der Ziele, Programmatik und Methoden der Organisation nahm er spätestens ab August 2019 hauptamtlich typische Leitungsaufgaben eines Regions- und Gebietsverantwortlichen der Vereinigung wahr. Von August 2019 bis Juni 2020 koordinierte er die Angelegenheiten der aus den Gebieten F., M. und G. bestehenden PKK-Region H. und stand zugleich dem PKK-Gebiet F. vor. Außerdem übte er im genannten Zeitraum bestimmenden Einfluss auf die PKK-Region S. mit den zugehörigen Gebieten D., Ma. … und Sa. aus. Ab Juni 2020 bis zu seiner Festnahme leitete der Angeschuldigte das PKK-Gebiet St.. Während des gesamten Tatzeitraums stand er mit anderen Mitgliedern und Unterstützern in regelmäßiger persönlicher und telefonischer Verbindung, koordinierte deren Arbeit, gab ihnen Anweisungen und ließ sich über die jeweilige regionale Entwicklung berichten. Im Vorfeld von Propagandaveranstaltungen und Versammlungen tauschte er sich mit ihm nachgeordneten Kadern und Aktivisten aus und wirkte auf eine möglichst hohe Beteiligung hin. Außerdem leitete er in den von ihm jeweils geführten Gebieten die Sammlung von Spendengeldern, wobei er sich persönlich darum bemühte, potentielle Spender mit Nachdruck zu Zahlungen zu veranlassen. Seinerseits erhielt er Weisungen von der Europaführung der PKK, der gegenüber er berichtspflichtig war.

Rz. 15

b) Der dringende Tatverdacht hinsichtlich der außereuropäischen terroristischen Vereinigung PKK und ihrer Untereinheiten in Deutschland beruht auf Strukturermittlungen des Generalbundesanwalts. Diese gründen ihrerseits auf einer Vielzahl von Dokumenten und öffentlichen Verlautbarungen der Organisation, Zeugenaussagen sowie sonstigen Erkenntnissen. Sie bildeten bereits vielfach die Grundlage für Verurteilungen von Kadern der PKK durch verschiedene Oberlandesgerichte.

Rz. 16

Die Handlungen des Angeschuldigten, der sich bisher nicht zur Sache eingelassen hat, ergeben sich im Wesentlichen aus aufgezeichneter Telekommunikation, der akustischen Innenraumüberwachung des von ihm im Tatzeitraum geführten Fahrzeugs, Observationen, Standortdaten, Behördenzeugnissen, Zeugenvernehmungen sowie Erkenntnissen aus sichergestellten elektronischen Datenträgern und Unterlagen. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Haftbefehl und die Anklageschrift verwiesen.

Rz. 17

c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Angeschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar gemacht hat (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB). Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung der jeweiligen Verantwortlichen für die Regionen und Gebiete der PKK am 6. September 2011 erteilt (§ 129b Abs. 1 Satz 3 StGB).

Rz. 18

2. Es bestehen zumindest der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie – auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (s. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2019 – AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) – derjenige der Schwerkriminalität.

Rz. 19

Der Angeschuldigte hat im Fall seiner Verurteilung angesichts seiner herausgehobenen Stellung innerhalb der Vereinigung mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen, die einen hohen Fluchtanreiz bietet. Als mutmaßlicher ehemaliger Regionsverantwortlicher kann er im Fall seines Untertauchens auf die Strukturen der Organisation zurückgreifen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde er – wie im Tatzeitraum – auch weiterhin von der PKK alimentiert werden. Über fluchthemmende Faktoren ist dagegen nichts bekannt. In Deutschland verfügt der Angeschuldigte weder über einen festen Wohnsitz noch über eine Erwerbstätigkeit oder soziale Bindungen außerhalb der Organisation. Seine Ehefrau lebte mit den zwei Kindern 2001 in der Türkei. Er selbst ist in Fr. als Asylbewerber anerkannt und im e. Mü. gemeldet, obgleich er sich dort im Tatzeitraum nicht aufhielt. Im Jahr 2019 wurde er von einem Gericht in P. wegen Betätigung für die PKK zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

Rz. 20

Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass sich der Angeschuldigte, sollte er in Freiheit gelangen, dem weiteren Strafverfahren durch Flucht entziehen wird. Dieser Gefahr kann durch andere fluchthemmende Anordnungen nicht genügend begegnet werden, weshalb der Zweck der Untersuchungshaft nicht auf der Grundlage weniger einschneidender Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO erreicht werden kann.

Rz. 21

3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die Haftfortdauer.

Rz. 22

Das Verfahren ist bisher durchgehend mit der gebotenen Zügigkeit geführt worden. Die Auswertung der aufgezeichneten Telekommunikation, der Fahrzeuginnenraumgespräche sowie der sichergestellten elektronischen Datenträger hat sich besonders umfangreich gestaltet, zumal in weiten Teilen Übersetzungen erforderlich gewesen sind. Hinsichtlich der Einzelheiten wird insoweit auf die Zuschrift des Generalbundesanwalts vom 4. November 2021 Bezug genommen. Dieser hat gleichwohl bereits Anklage erhoben.

Rz. 23

4. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Angeschuldigten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits derzeit nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

 

Unterschriften

Schäfer, Berg, Erbguth

 

Fundstellen

Dokument-Index HI14970286

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