Leitsatz (amtlich)
Der Haftantrag muss auch dann Ausführungen zu dem Einvernehmen der Staatsanwaltschaft mit der Abschiebung enthalten, wenn das Einvernehmen generell erteilt wurde und dies gerichtsbekannt ist.
Normenkette
FamFG § 417 Abs. 2 Nr. 5; AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1
Verfahrensgang
LG Saarbrücken (Beschluss vom 06.06.2011; Aktenzeichen 5 T 106/11) |
AG Saarbrücken (Beschluss vom 19.02.2011; Aktenzeichen 7 XIV 19/11) |
Tenor
Dem Betroffenen wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des LG Saarbrücken vom 6.6.2011 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des AG Saarbrücken vom 19.2.2011 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Betroffene, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste am 19.2.2011 aus Frankreich in die Bundesrepublik ein und wurde in Saarbrücken von der Bundespolizei aufgegriffen. Er gab an, mit Hilfe von Schleusern nach Deutschland gelangt zu sein und einen Asylantrag stellen zu wollen. Eine Überprüfung im Eurodac-System ergab, dass er in Großbritannien einen Asylantrag gestellt hatte.
Rz. 2
Auf Antrag der Beteiligten zu 2), die beabsichtigte, den Betroffenen nach Großbritannien zurückzuschieben, ordnete das AG am selben Tag die Zurückschiebungshaft gegen den Betroffenen bis zum 18.5.2011 und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung an.
Rz. 3
Am 28.2.2011 stellte der Betroffene einen Asylantrag bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Dieses teilte der Beteiligten zu 2) am 28.3.2011 mit, dass das Rückübernahmeersuchen von Großbritannien abgelehnt worden sei. Der Betroffene wurde daraufhin aus der Haft entlassen. Sein Antrag, die Rechtswidrigkeit des Haftbeschlusses festzustellen, ist von dem LG zurückgewiesen worden. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, deren Zurückweisung die Beteiligte zu 2) beantragt.
II.
Rz. 4
Das Beschwerdegericht meint, die Haft sei zu Recht angeordnet worden. Der Haftantrag habe den Anforderungen des § 417 FamFG genügt. Zwar habe dieser keine Angaben zu einem Einvernehmen der Staatsanwaltschaft mit einer Zurückschiebung enthalten, obwohl der Betroffene nach den vorgelegten Unterlagen wegen der Straftat der unerlaubten Einreise als Beschuldigter vernommen worden sei. Es sei aber gerichtsbekannt, dass die zuständige Staatsanwaltschaft Saarbrücken generell ihr Einvernehmen mit Abschiebungen erklärt habe, soweit gegen den Betroffenen ein Ermittlungsverfahren wegen unerlaubter Einreise bzw. unerlaubten Aufenthalts geführt werde.
III.
Rz. 5
1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Der Betroffene hat zwar die rechtzeitige Begründung der Rechtsbeschwerde versäumt. Da dies auf seiner Bedürftigkeit beruhte, also unverschuldet war, und er die Begründung nach der Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe fristgerecht nachgeholt hat, ist ihm aber gem. § 17 Abs. 1 FamFG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Rz. 6
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet, weil die Ausführungen des Beschwerdegerichts rechtlicher Nachprüfung nicht standhalten.
Rz. 7
a) Die Haftanordnung des AG hat den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, weil es bereits an einem zulässigen Haftantrag nach § 417 FamFG fehlte. Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung (BGH, Beschl. v. 29.4.2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211, Rz. 12; Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511, 1512, Rz. 7). Der Haftantrag muss nach § 417 Abs. 2 Satz 1 FamFG begründet werden. Erforderlich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Ein Verstoß gegen den Begründungszwang führt zur Unzulässigkeit des Haftantrags (BGH, Beschl. v. 29.4.2010 - V ZB 218/09, a.a.O., Rz. 14; Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 28/10, a.a.O., Rz. 8; Beschl. v. 7.4.2011 - V ZB 133/10, Rz. 7, juris).
Rz. 8
aa) Zu den in dem Haftantrag darzulegenden Abschiebungsvoraussetzungen gehört das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG notwendige Einvernehmen der Staatsanwaltschaft. Ergibt sich - wie hier - aus dem Haftantrag oder den ihm beigefügten Unterlagen, dass gegen den Betroffenen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist, muss der Antrag daher Angaben zu dem Vorliegen des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft enthalten (vgl. BGH, Beschl. v. 20.1.2011 - V ZB 226/10, FGPrax 2011, 144 Rz. 9). Das gilt entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts auch dann, wenn die Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen generell erteilt hat, und dies dem Gericht bekannt ist (Beschl. v. 7.6.2011 - V ZB 44/11, Rz. 10, juris). Denn der Haftantrag richtet sich nicht nur an das Gericht, sondern auch an den Betroffenen; die darin enthaltenen Darlegungen sollen ihm eine Grundlage für seine Verteidigung gegen den Haftantrag geben (BGH, Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511, 1512 Rz. 12). Der Betroffene muss daher erkennen können, woraus die antragstellende Behörde die Zustimmung der Staatsanwaltschaft entnimmt (hier: Verfügung bzw. Mitteilung des Saarländischen Innenministeriums vom 17.5.1992); andernfalls kann er nicht überprüfen, ob das Einvernehmen tatsächlich generell erteilt worden ist und auch seinen Fall erfasst.
Rz. 9
Der Mangel des Haftantrags wäre zwar - mit Wirkung für die Zukunft - geheilt worden, wenn die Beteiligte zu 2) die fehlenden Angaben nachgeholt und der Betroffene Gelegenheit erhalten hätte, dazu in einer persönlichen Anhörung Stellung zu nehmen (vgl. Senat, Beschl. v. 29.9.2011 - V ZB 61/11, Rz. 8, juris; Beschl. v. 6.10.2011 - V ZB 188/11, Rz. 12 f., juris). Hierzu ist es aber nicht gekommen.
Rz. 10
bb) Ein weiterer Mangel des Haftantrags liegt darin, dass entgegen § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 und 5 FamFG jegliche Begründung zu der Durchführbarkeit der Zurückschiebung und zu der Erforderlichkeit der beantragten Haftdauer von drei Monaten fehlt. Anzugeben ist, ob und innerhalb welchen Zeitraums Abschiebungen bzw. Zurückschiebungen in das betreffende Land üblicherweise möglich sind. Erforderlich sind konkrete Angaben zum Ablauf des Verfahrens und eine Darstellung, in welchem Zeitraum die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden können (vgl. BGH, Beschl. v. 31.1.2012 - V ZB 127/11, Rz. 7 f., juris; Beschl. v. 27.10.2011 - V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82, 83 Rz. 12 f.). Diese Angaben waren hier nicht deshalb entbehrlich, weil bei Rückübernahmen nach der Dublin II-Verordnung (Verordnung [EG] Nr. 343/2003 des Rates vom 18.2.2003, ABl. EG Nr. L 50/1 vom 25.2.2003) grundsätzlich davon auszugehen ist, dass die Zurückschiebung in einen Mitgliedstaat innerhalb von drei Monaten seit der Haftanordnung wird erfolgen können. Denn das gilt nur, wenn festgestellt ist, dass der Mitgliedstaat zur Rückübernahme verpflichtet ist (BGH, Beschl. v. 29.9.2010 - V ZB 233/10, Rz. 13, juris [insoweit in NVwZ 2011, 320 nicht abgedruckt]). Angaben zu der Rücknahmeverpflichtung Großbritanniens nach der Dublin II-Verordnung enthält der Haftantrag jedoch nicht. Konnte die Behörde unmittelbar nach der Verhaftung des Betroffenen noch keine solchen Angaben machen, hätte sie sich darauf beschränken müssen, eine vorläufige Freiheitsentziehung gem. § 427 FamFG zu beantragen.
Rz. 11
b) Ob der Haftantrag dem Betroffenen weder übersetzt noch ausgehändigt worden ist, wie die Rechtsbeschwerde weiter geltend macht, und die Haftanordnung auch deshalb rechtswidrig ist (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 330 Rz. 16 f.; Beschl. v. 21.7.2011 - V ZB 141/11, FGPrax 2011, 257, 258 Rz. 6 ff.), bedarf keiner Entscheidung.
IV.
Rz. 12
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 83 Abs. 2, 81 Abs. 1, 430 FamFG. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, die Bundesrepublik Deutschland zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten (vgl. BGH, Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 28/10, FGPrax 2010, 316, 317). Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.
Fundstellen