Entscheidungsstichwort (Thema)
Strafverfolgungsverjährung für Kommunalabgaben in Niedersachsen
Leitsatz (redaktionell)
Die Verjährungsfrist bei Abgabenhinterziehung (§ 16 KAG NI) bestimmt sich nach den allgemeinen Regeln (§ 78 Abs. 3 StGB), so dass die Verjährung grundsätzlich fünf Jahre nach Tatbeendigung eintritt. Zwar gilt § 376 AO, dessen Absatz 1 eine 15-jährige Verjährungsfrist vorsieht, in der jeweiligen Fassung nach § 16 Abs. 3 KAG NI entsprechend. § 376 Abs. 1 Halbsatz 1 AO setzt aber bereits nach dem Wortlaut das Vorliegen eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung voraus. Derartige besonders schwere Fälle sind in § 16 KAG NI, weder unmittelbar noch durch – eine nicht statuierte – Verweisung auch auf § 370 Abs. 3 AO geregelt. Insofern fehlt für eine entsprechende Anwendung des § 376 Abs. 1 Halbsatz 1 AO der tatbestandliche Anknüpfungspunkt.
Normenkette
StGB § 78 Abs. 3; AO §§ 376, 370 Abs. 3
Verfahrensgang
LG Essen (Entscheidung vom 09.12.2021; Aktenzeichen 21 KLs 14/21) |
Tenor
1. Der Beschluss des Landgerichts Essen vom 19. April 2022, mit dem die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 9. Dezember 2021 als unzulässig verworfen worden ist, wird aufgehoben.
2. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 9. Dezember 2021 wird
a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte und der Mitangeklagte H.
aa) wegen Hinterziehung von Umsatzsteuer 2012 und
bb) wegen Abgabenhinterziehung in den Fällen 1 bis 43 und 91 bis 105 der Urteilsgründe
verurteilt wurden; die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten fallen insoweit der Staatskasse zur Last;
b) das vorgenannte Urteil
aa) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der Steuerhinterziehung in sechs Fällen, der Abgabenhinterziehung in 100 Fällen und der Untreue in 41 Fällen, der Mitangeklagte H. der Steuerhinterziehung in sechs Fällen und der Abgabenhinterziehung in 100 Fällen schuldig ist und
bb) im Ausspruch über die Gesamtstrafen aufgehoben.
3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.
4. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die weiteren Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in sieben Fällen, Abgabenhinterziehung in 158 Fällen und Untreue in 42 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Des Weiteren hat es den Wert von Taterträgen aus 41 Untreuetaten in Höhe von 1.590.000 Euro eingezogen. Den nicht revidierenden Mitangeklagten H. hat es wegen Steuerhinterziehung in sieben Fällen und Abgabenhinterziehung in 158 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten, deren Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch mit Blick auf die Beanstandung des Schuldumfangs unwirksam ist, hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Rz. 2
1. Der Beschluss des Landgerichts Essen vom 19. April 2022, mit dem die Revision des Angeklagten als unzulässig verworfen worden ist, ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom Senat in eigener Zuständigkeit aufzuheben. Zwar hat das Landgericht zutreffend erkannt, dass die Revision nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Beschluss vom 3. Mai 2022 - 3 StR 89/22) zulässig war. Die Aufhebung des eigenen Beschlusses durch das Landgericht selbst ist allerdings unzulässig, ein entsprechender Beschluss unwirksam (Knauer/Kudlich in MüKo-StPO, 1. Aufl., § 346 Rn. 15; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 346 StPO Rn. 8).
Rz. 3
2. Das Verfahren gegen den Angeklagten ist unter Erstreckung auf den nicht revidierenden Mitangeklagten H. (§ 357 Satz 1 StPO; vgl. z.B. BGH, Beschluss vom 11. Februar 2014 - 1 StR 355/13 Rn. 39) wegen eines Teils der abgeurteilten Taten einzustellen (§ 206a Abs. 1 i.V.m. § 354 Abs. 1 StPO), weil insoweit bei Erlass des angefochtenen Urteils bereits Verfolgungsverjährung eingetreten war (§ 78 Abs. 1 StGB).
Rz. 4
a) Dies betrifft nicht nur die Hinterziehung von Umsatzsteuer 2012 - wie vom Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend beantragt -, sondern auch die Abgabenhinterziehungen zum Nachteil der Stadt Ba. (§ 16 des Niedersächsischen Kommunalabgabengesetzes - KAG NI) für die Monate März 2012 bis September 2015 (Taten 1 bis 43 der Urteilsgründe) und zum Nachteil der Stadt V. (§ 17 des Kommunalabgabengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen - KAG NW) für die Monate Januar 2012 bis September 2015 (Taten 91 bis 105 der Urteilsgründe).
Rz. 5
aa) Die Verjährungsfrist bei Abgabenhinterziehung (§ 16 KAG NI, § 17 KAG NW) bestimmt sich nach den allgemeinen Regeln (§ 78 Abs. 3 StGB), so dass die Verjährung grundsätzlich fünf Jahre nach Tatbeendigung eintritt. Zwar gilt § 376 AO, dessen Absatz 1 eine 15-jährige Verjährungsfrist vorsieht, in der jeweiligen Fassung nach § 16 Abs. 3 KAG NI und § 17 Abs. 1 Satz 2 KAG NW entsprechend. § 376 Abs. 1 Halbsatz 1 AO setzt aber bereits nach dem Wortlaut das Vorliegen eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 3 Satz 2 AO voraus. Derartige besonders schwere Fälle sind in § 16 KAG NI, § 17 KAG NW weder unmittelbar noch durch - eine nicht statuierte - Verweisung auch auf § 370 Abs. 3 AO geregelt. Insofern fehlt für eine entsprechende Anwendung des § 376 Abs. 1 Halbsatz 1 AO der tatbestandliche Anknüpfungspunkt (so auch Makee Mosa in Gosch, AO, 170. Ergänzungslieferung, § 376 Rn. 35 f.; a.A. ohne nähere Begründung Faiß, Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, 78. Ergänzungslieferung, § 7 Rn. 5). Die Verweisungen auf § 376 AO gehen gleichwohl nicht ins Leere, weil mit der entsprechenden Anwendung des § 376 Abs. 2 AO ein sinnvoller Anwendungsbereich verbleibt.
Rz. 6
bb) Die Verjährungsfrist beträgt mithin fünf Jahre (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB). Sie ist hinsichtlich der vorgenannten Abgabenhinterziehungen erstmals durch den Durchsuchungsbeschluss vom 20. Oktober 2020 unterbrochen worden (§ 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB). Zu diesem Zeitpunkt waren diese Taten schon mehr als fünf Jahre beendet.
Rz. 7
b) Die Verjährung ist als Verfahrensvoraussetzung von Amts wegen auch zu prüfen, wenn nur der Rechtsfolgenspruch angefochten wurde (sog. horizontale Teilrechtskraft; BGH, Beschluss vom 23. Februar 2017 - 3 StR 546/16, BGHR StPO § 404 Abs. 1 Antragstellung 10 Rn. 5), so dass es insoweit unbeachtlich ist, ob eine Revisionsbeschränkung wirksam wäre.
Rz. 8
3. Die Teileinstellung zieht die Änderung des Schuldspruchs nach sich. Der Senat berichtigt dabei die Anzahl der vom Angeklagten B. begangenen Untreuetaten hinsichtlich des vom Generalbundesanwalt aufgezeigten Zählfehlers. Die Aufhebung einer Einzelstrafe ist insoweit nicht veranlasst, weil das Landgericht keine Sachverhaltsfeststellungen getroffen und weder eine Einzelstrafe festgesetzt noch eine Einziehung angeordnet hat.
Rz. 9
4. Der Wegfall der für die verjährten Taten verhängten Einzelstrafen bedingt für den Angeklagten und den Mitangeklagten H. jeweils die Aufhebung der Gesamtstrafen. Auch unabhängig davon könnten die Gesamtstrafen wegen der von der Revision und vom Generalbundesanwalt aufgezeigten Additionsfehler bei der Ermittlung des Gesamtbetrages der verkürzten Abgaben keinen Bestand haben. Die für die nicht verjährten Taten festgesetzten Einzelstrafen sind von dem Rechenfehler jedoch nicht betroffen. Sie beruhen auf rechtsfehlerfreien Feststellungen und Berechnungen und können daher bestehen bleiben. Die Angriffe der Revision gegen die von der Strafkammer übernommene Schätzung der Finanzermittlerin dringen im Ergebnis nicht durch. Zwar hat die Strafkammer lediglich die Schätzungsmethode nachvollziehbar dargelegt, nicht aber die nicht erfassten Gelder als quantitative (zahlenmäßige) Schätzungsgrundlage (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. November 2009 - 1 StR 283/09, BGHR AO § 370 Abs. 1 Steuerschätzung 4 Rn. 12 und vom 7. September 2022 - 1 StR 229/22 Rn. 9 mwN). Die Strafkammer hat den Feststellungen in der Sache allerdings ohne Rechtsfehler die „separierten Geldbeträge“ in der von dem Angeklagten selbst eingeräumten Höhe zugrunde gelegt (insbesondere UA S. 51, 55). Daraus und aus der Finanzbuchhaltung (FIBU) konnte sie unabhängig von der Schätzung auf die tatsächlichen Einnahmen („Summe Brutto-Erlöse“) schließen.
Rz. 10
5. Der Ausspruch über die Einziehung ist rechtsfehlerfrei. Er beruht ausschließlich auf den Untreuehandlungen des Angeklagten und bleibt daher von der Teileinstellung wegen Steuer- und Abgabenhinterziehung unberührt. Die Strafkammer hat auch nur die tatsächlich veruntreuten Beträge eingestellt, so dass sich der vom Generalbundesanwalt aufgezeigte Zählfehler nicht auswirkt.
Rz. 11
6. Der Senat weist darauf hin, dass der nicht revidierende Mitangeklagte H. im Tenor für die 44 Taten der Abgabenhinterziehung zum Nachteil der Stadt G. verurteilt wurde, obwohl insofern weder strafbare Sachverhalte festgestellt noch Einzelstrafen verhängt wurden. Da insofern jedoch kein Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten B. vorliegt, kann der Senat den Schuldspruch nicht im Wege der Erstreckung (§ 357 Satz 1 StPO) ändern. Das Landgericht wird die Berichtigung eines etwaigen Versehens in eigener Zuständigkeit zu prüfen haben.
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Fundstellen
Haufe-Index 15768746 |
wistra 2023, 2 |
wistra 2024, 70 |
NZWiSt 2023, 466 |