Verfahrensgang
LG Aurich (Urteil vom 11.12.2003) |
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Aurich vom 11. Dezember 2003 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Heimtückemordes unter Anwendung der in der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen (BGHSt 30, 105) entwickelten Grundsätze zur außergewöhnlichen Strafmilderung zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt. Mit ihrer auf den Strafausspruch beschränkten Revision rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung materiellen Rechts und beanstandet, daß das Landgericht keine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt hat. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts bewohnte der Angeklagte mit vier anderen Chinesen ein Zimmer in einem Asylbewerberheim. Am Morgen des 27. Mai 2003 tötete er den dort in seinem Bett schlafenden … W. ohne Vorwarnung durch mindestens 14 Stiche mit einem Küchenmesser in Hals und Brust. Der Tat war folgendes Geschehen vorausgegangen: In der Nacht zum 26. Mai 2003 hatte … W. dem Angeklagten in erheblich alkoholisiertem Zustand eine teilweise gefüllte Bierflasche an den Kopf geworfen und ihm dadurch eine Platzwunde zugefügt, die im Krankenhaus versorgt werden mußte. Er hatte zudem gesagt, er schlage den Angeklagten tot. Obwohl er sich Stunden später beim Angeklagten für sein Verhalten in der Nacht entschuldigt hatte, entwickelte dieser eine zunehmende Furcht vor weiteren körperlichen Angriffen. Im Verlauf des Tages entwarf der der deutschen Sprache nicht mächtige Angeklagte unter Zuhilfenahme eines Wörterbuches einen Antrag, mit dem er erreichen wollte, von … W. getrennt zu werden. Als er den Leiter des Asylbewerberheims am Abend nicht mehr antraf, entschied er sich, den Antrag am nächsten Tag abzugeben. An diesem Morgen blieb er im Bett liegen, bis die drei anderen Chinesen das Zimmer verlassen hatten. Nachdem er ungefähr eineinhalb Stunden darüber nachgedacht hatte, tötete er den … W. aus der – unbegründeten – Furcht, dieser werde sonst ihn töten, sowie aus Wut über die in der vorvergangenen Nacht erlittene Verletzung. Dabei war ihm bewußt, eine Trennung von seinem Opfer auch durch den von ihm vorbereiteten Antrag an den Leiter des Wohnheims erreichen zu können; er sah dies aber nicht mehr als hinreichend sicher an.
2. Die vom Landgericht unter Anwendung der sog. Rechtsfolgenlösung (BGHSt 30, 105) vorgenommene Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 StGB hält rechtlicher Prüfung nicht stand.
Diese Rechtsprechung trägt dem Umstand Rechnung, daß das Mordmerkmal der Heimtücke auch in Fällen erfüllt sein kann, bei denen die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe wegen des sonstigen Gepräges der Tat das aus dem Grundgesetz abzuleitende Verbot unverhältnismäßigen staatlichen Strafens verletzen würde. Eine abschließende Definition oder eine Aufzählung der außergewöhnlichen Umstände, die in Fällen heimtückischer Tötung zur Verdrängung der lebenslangen Freiheitsstrafe führen können, hat der Große Senat für Strafsachen für unmöglich gehalten, jedoch auf beispielhaft in Betracht kommende Fallkonstellationen hingewiesen, u. a. auf in großer Verzweiflung begangene oder aus gerechtem Zorn auf Grund einer schweren Provokation verübte Taten, ebenso auf Taten, die in einem vom Opfer verursachten und ständig neu angefachten, zermürbenden Konflikt oder in schweren Kränkungen des Täters durch das Opfer, die das Gemüt immer wieder heftig bewegen, ihren Grund haben. Allerdings reicht nicht jeder Entlastungsfaktor, der nach § 213 StGB Berücksichtigung finden würde, zur Annahme der Unverhältnismäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe aus. Vielmehr kann das Gewicht des Mordmerkmals der Heimtücke nur durch Entlastungsfaktoren, die den Charakter außergewöhnlicher Umstände haben, so verringert werden, daß jener Grenzfall eintritt, in welchem die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe trotz der Schwere des tatbestandsmäßigen Unrechts wegen erheblich gemilderter Schuld unverhältnismäßig wäre (vgl. Senat NStZ 1982, 69). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, hat der Tatrichter aufgrund einer umfassenden Würdigung der Tat sowie der zu ihr hinführenden Umstände zu prüfen (Senat NStZ 1982, 69; BGH NStZ 1984, 20; BGHR StGB § 211 Abs. 1 Strafmilderung 2 und 3).
Wie der Generalbundesanwalt zutreffend dargelegt hat, wird das angefochtene Urteil dieser Anforderung nicht gerecht. Das Landgericht hat zu Gunsten des Angeklagten gewertet, daß sich dieser, nachdem er kurz zuvor Opfer einer grundlosen gefährlichen Körperverletzung des Getöteten geworden war, zum Zeitpunkt der Tat in einem Zustand tatsächlicher Todesangst befand. Ob sich die Tat deshalb – wie das Landgericht meint – im Grenzbereich des § 35 Abs. 2 StGB bewegte (freilich ohne die Voraussetzungen dieser Vorschrift zu erfüllen), kann dahinstehen; denn jedenfalls hat die Strafkammer nicht berücksichtigt, daß sich bis zu jener Körperverletzung das Verhältnis zwischen dem Angeklagten und dem Opfer als gut und problemlos dargestellt hatte, der Übergriff des Opfers auf den Angeklagten in erkennbar erheblich alkoholisiertem Zustand geschehen war, sich das Opfer alsbald danach dafür entschuldigt hatte und seither nur eine kurze Zeit vergangen war, weshalb das Bestehen einer für den Angeklagten zermürbenden, nahezu ausweglosen, notstandsnahen Situation schwerster seelischer Bedrängnis oder Erregung, die der Tat den Stempel des Außergewöhnlichen aufgedrückt hätte (vgl. BGH NJW 1983, 54, 55; NStZ 1983, 553, 554; 1984, 20; 1990, 490; 1995, 231; 2003, 146), eher ferngelegen hatte. Zudem läßt das Urteil unerörtert, daß der Angeklagte zu der Tat auch durch die Wut über den in seinen Augen grundlosen Wurf mit der Bierflasche und die damit einhergehende Ehrkränkung und Verletzung motiviert worden war.
Unterschriften
Tolksdorf, Miebach, Winkler, Pfister, Becker
Fundstellen
Haufe-Index 2557829 |
NStZ-RR 2004, 294 |
RÜ 2004, 484 |