Verfahrensgang
LG Lüneburg (Urteil vom 15.02.2011) |
Tenor
1. Auf die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 15. Februar 2011 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeichnete Urteil darüber hinaus mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist mit Ausnahme des Freispruchs zu den Fällen unter C.X. der Urteilsgründe (Fälle 940 bis 942 der Anklageschrift).
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel und die dem Angeklagten durch die Revision der Staatsanwaltschaft entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision der Staatsanwaltschaft wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Abgabe von Betäubungsmitteln in 49 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Vom Vorwurf des Verschreibens von Betäubungsmitteln in 829 Fällen und vom Vorwurf des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen hat es den Angeklagten freigesprochen. Weiter hat es das Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung festgestellt und für den Fall, dass die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen werde, angeordnet, dass zwei Monate der Gesamtfreiheitsstrafe für vollstreckt gelten. Es hat dem Angeklagten untersagt, für die Dauer von drei Jahren Substitutionsbehandlungen durchzuführen. Die zuungunsten des Angeklagten eingelegte, vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie das Verfahren beanstandet und die allgemeine Sachrüge erhebt, ist zum überwiegenden Teil begründet. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat mit der Sachbeschwerde Erfolg.
A.
Rz. 2
I. Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage hatte die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten, der über eine Erlaubnis zum Verkehr mit Betäubungsmitteln nicht verfügt, zur Last gelegt, in der Zeit von Januar 2004 bis Mai 2006 in 110 Fällen (Fälle 830 bis 939 der Anklageschrift) Betäubungsmittel unerlaubt abgegeben zu haben, indem er in seiner Eigenschaft als mit der Substitution Betäubungsmittelabhängiger befasster Arzt für Patienten bestimmtes Methadon oder Levomethadon („L-Polamidon”) an Dritte mit dem Auftrag übergeben habe, es den an der Substitutionsbehandlung Teilnehmenden auszuhändigen. Weiter hatte sie dem Angeklagten vorgeworfen, in diesem Tatzeitraum in 829 Fällen (Fälle 1 bis 829 der Anklageschrift) Betäubungsmittel entgegen den Vorgaben des Betäubungsmittelgesetzes verschrieben zu haben, da die Substitutionsbehandlung des Angeklagten, in deren Rahmen die Verschreibungen vorgenommen worden seien, den gesetzlichen Bestimmungen nicht entsprochen habe, und in drei Fällen (Fälle 940 bis 942 der Anklageschrift) mit Betäubungsmitteln gehandelt zu haben, indem er einem Patienten Methadon gegen Zahlung eines Entgelts überlassen habe. Im Übrigen hatte sie gemäß § 154 Abs. 1 StPO von der Verfolgung weiterer, nicht angeklagter Taten abgesehen bzw. gemäß § 154a Abs. 1 StPO die Strafverfolgung auf die angeklagten Gesetzesverletzungen beschränkt.
Rz. 3
II. Das Landgericht hat nach Einstellung des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 2 StPO in neun Fällen den Angeklagten in 49 Fällen (Fälle A.IV.3 der Urteilsgründe) der Abgabe von Betäubungsmitteln (Methadongemisch mit einem Anteil von 1% Methadonhydrochlorid) schuldig gesprochen. Dabei hat es einzelne Fälle einer Herausgabe von Methadon zugunsten des Angeklagten zu einer Bewertungseinheit zusammengefasst, da es nicht habe ausschließen können, dass die Gaben aus einer einheitlichen größeren Lieferung einer Apotheke gestammt hätten. In einem Teil der Fälle hat es die zusätzliche oder neuerliche Mitgabe von Methadon verneint, in einem Fall hat es sich nicht von einer Tatbeteiligung des Angeklagten zu überzeugen vermocht. Insoweit hat es aufgrund seiner konkurrenzrechtlichen Bewertung – tateinheitliche statt, wie angeklagt und zur Grundlage des Eröffnungsbeschlusses gemacht, tatmehrheitliche Begehung – von einem Teilfreispruch abgesehen. Von einem gewerbsmäßigen Handeln des Angeklagten ist es nicht ausgegangen, weil für sein Tun nicht leitend gewesen sei, sich eine fortlaufende Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer zu verschaffen.
Rz. 4
In den Fällen 1 bis 829 der Anklageschrift (Fälle C.I. der Urteilsgründe) hat es den Angeklagten freigesprochen und hierzu ausgeführt, eine Strafbarkeit wegen einer Verschreibung von Betäubungsmitteln im Zuge einer ärztlichen Substitutionsbehandlung komme nur dann in Betracht, wenn der Arzt Substitutionsmittel entweder einem nicht-opiatabhängigen Patienten verschreibe oder dies mit der Zielsetzung einer intravenösen Anwendung oder in Kenntnis nachfolgender körperlicher Beeinträchtigungen oder in dem Wissen um eine anderweitige Substitutionsbehandlung tue; diese Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt gewesen. Es hat weiter angenommen, dem Angeklagten, einem approbierten niedergelassenen Arzt, der im Jahr 2000 einen insgesamt fünfzigstündigen Lehrgang zu den betäubungsmittelrechtlichen Vorgaben einer Substitutionsbehandlung absolviert habe, habe jedenfalls der erforderliche Vorsatz gefehlt, sofern eine Verschreibung engeren Voraussetzungen als den vom Landgericht angenommenen unterlegen habe.
Rz. 5
In den Fällen 940 bis 942 der Anklageschrift (Fälle C.X. der Urteilsgründe) ist es zu einem Freispruch gelangt, weil es nicht die Überzeugung gewonnen hat, Zahlungen des Patienten an den Angeklagten hätten in Zusammenhang mit der Überlassung von Betäubungsmitteln gestanden.
B.
Rz. 6
I. Die Revision der Staatsanwaltschaft, mit der der gesamte Urteilsausspruch zur Überprüfung des Senats steht, ist mit der allgemeinen Sachrüge überwiegend erfolgreich. Die nach § 301 StPO zugunsten des Angeklagten gebotene Überprüfung hat Rechtsfehler auch zu seinem Nachteil ergeben, soweit er verurteilt worden ist. Auf die von der Staatsanwaltschaft erhobenen Verfahrensrügen kommt es nicht an.
Rz. 7
1. Die Verurteilung des Angeklagten wegen Abgabe von Betäubungsmitteln in 49 Fällen, bei der das Landgericht im Ausgangspunkt zutreffend die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juni 2008 – 2 StR 577/07, BGHSt 52, 271, 273 f.; Beschluss vom 28. Juli 2009 – 3 StR 44/09, BGHR BtMG § 13 Abs. 1 Abgabe 1) zugrunde gelegt hat, hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
Rz. 8
a) Die getroffenen Feststellungen ergeben keine hinreichende Grundlage für die konkurrenzrechtliche Bewertung des Landgerichts, in den Fällen 1 bis 3, 5, 6, 8, 10 bis 12, 14, 16 bis 23, 27 bis 32, 34 bis 36, 38 und 47 bis 49 unter A.IV.3 der Urteilsgründe sei von einer tateinheitlichen statt von einer durchgängig tatmehrheitlichen Begehungsweise auszugehen.
Rz. 9
aa) Sämtliche Betätigungen, die sich auf den Vertrieb derselben, in einem Akt erworbenen Betäubungsmittel beziehen, sind als eine Tat anzusehen, wenn bereits der Erwerb der Betäubungsmittel, die zum Zweck der Weitergabe beschafft werden, den Tatbestand einer Variante des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG in Bezug auf die Gesamtmenge erfüllt; denn in diesem Fall bilden die aus dem einheitlich bezogenen Betäubungsmittelvorrat vorgenommenen Weitergaben von Einzelmengen lediglich unselbständige Teilakte ein und desselben strafbaren Güterumsatzes im Sinne einer strafrechtlichen Bewertungseinheit (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juli 1997 – 4 StR 222/97, BGHR BtMG § 29 Bewertungseinheit 15). Ist der Erwerb des Betäubungsmittelvorrats dagegen für sich nicht strafbewehrt und greift eine Strafnorm des Betäubungsmittelgesetzes erst mit der Weitergabe hieraus entnommener Teilmengen ein, fehlt es an einem die Einzeltaten zu einer Bewertungseinheit verbindenden einheitlichen Güterumsatz.
Rz. 10
bb) Ob schon der Erwerb der Substitutionsmittel den Straftatbestand des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG erfüllte, lässt sich den Feststellungen des Landgerichts nicht entnehmen, weil die Urteilsgründe über den Hinweis, sie hätten aus dem Bestand einer Apotheke gestammt, keine weitere Aufklärung darüber geben, auf welche Weise der Angeklagte an die Substitutionsmittel gelangte. Feststellungen zu einem Erwerb nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a BtMG fehlen. Insbesondere zu den Voraussetzungen der § 2 Abs. 3, § 5 Abs. 5 Satz 2, Abs. 7 Satz 2 BtMVV bzw. zu einem Erwerb zu gesetzlich zulässigen Zwecken und nicht schon mit dem Ziel einer Abgabe entgegen betäubungsmittelrechtlicher Vorschriften ist den Urteilsgründen hinreichendes nicht zu entnehmen. Deshalb kommt eine Änderung des Schuldspruchs durch den Senat in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO nicht in Betracht. Vielmehr wird der neue Tatrichter die angeklagten Taten trotz der Beschränkung der Strafverfolgung auf die Abgabe von Betäubungsmitteln unter dem Aspekt der tateinheitlichen (§ 264 StPO) Mitverwirklichung weiterer Varianten des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG zu untersuchen und danach das Konkurrenzverhältnis zu bestimmen haben; denn die Verfahrensbeschränkung nach § 154a Abs. 1 StPO hat auf die konkurrenzrechtliche Bewertung keinen Einfluss (vgl. BGH, Beschluss vom 6. September 1988 – 1 StR 481/88, BGHR StPO § 154a Klammerwirkung 1).
Rz. 11
b) Rechtsfehlerhaft hat das Landgericht in diesem Tatkomplex darüber hinaus zulasten des Angeklagten von einem Teilfreispruch abgesehen, soweit es sich nicht von einer Täterschaft des Angeklagten hat überzeugen können. Sämtliche Fälle der unerlaubten Abgabe von Betäubungsmitteln waren als tatmehrheitlich begangen (§ 53 StGB) angeklagt; dem ist das Landgericht im Eröffnungsbeschluss gefolgt. Es hätte deshalb, um den Eröffnungsbeschluss zu erschöpfen, ohne Rücksicht auf die dem Urteil zugrunde gelegte konkurrenzrechtliche Bewertung den Angeklagten teilweise freisprechen müssen (vgl. BGH, Urteil vom 24. September 1998 – 4 StR 272/98, BGHSt 44, 196, 202; Beschluss vom 30. Mai 2008 – 2 StR 174/08, NStZ-RR 2008, 287; Beschluss vom 3. Juni 2008 – 3 StR 163/08, NStZ-RR 2008, 316; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 260 Rn. 13).
Rz. 12
c) Der Senat hebt den gesamten Schuldspruch samt der zugehörigen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO) auf, um dem neuen Tatrichter in Anbetracht der eng verwobenen Tatvorwürfe eine umfassende Beurteilung zu ermöglichen. Damit entfällt der gesamte Rechtsfolgenausspruch.
Rz. 13
2. Weiter unterliegt das Urteil samt den insoweit getroffenen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO, vgl. Meyer-Goßner, aaO, § 353 Rn. 15a) der Aufhebung, soweit das Landgericht den Angeklagten vom Vorwurf des unerlaubten Verschreibens von Betäubungsmitteln in den Fällen unter C.I. der Urteilsgründe (Fälle 1 bis 829 der Anklageschrift) freigesprochen hat; denn es hat hierzu aufgrund eines rechtsfehlerhaften Beurteilungsmaßstabs nur unzureichende Feststellungen getroffen.
Rz. 14
a) Ein im Rahmen der Substitutionsbehandlung von Betäubungsmittelabhängigen tätiger Arzt verstößt gegen § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. a BtMG, wenn er als Substitutionsmittel verwendete Betäubungsmittel der in Anlage III zum Betäubungsmittelgesetz bezeichneten Art entgegen § 13 Abs. 1 BtMG verschreibt (BGH, Urteil vom 4. Juni 2008 – 2 StR 577/07, BGHSt 52, 271, 273). Nach § 13 Abs. 1 BtMG dürfen die in Anlage III zum Betäubungsmittelgesetz bezeichneten Betäubungsmittel von Ärzten nur dann verschrieben werden, wenn ihre Anwendung am oder im menschlichen Körper begründet ist.
Rz. 15
Eine Substitutionsbehandlung ist nach § 13 Abs. 1 Satz 2 BtMG nur als ultima ratio zulässig (vgl. Nestler, MedR 2009, 211, 214). Eine Verschreibung von Betäubungsmitteln ohne Indikationsstellung und ohne Prüfung von Behandlungsalternativen ist unbegründet und nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. a BtMG strafbar (Körner/Patzak, BtMG, 7. Aufl., § 29 Teil 15 Rn. 14 a.E.), weil sie nicht gewährleistet, dass gegebenenfalls andere und damit vorrangige Behandlungsmethoden zur Anwendung kommen.
Rz. 16
b) Gleiches gilt, wenn der Substitutionsbehandlung eine unzureichende ärztliche Kontrolle zugrunde liegt (Körner/Patzak, aaO, § 29 Teil 15 Rn. 21 a.E.), wobei § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 BtMVV der Umfang der erforderlichen ärztlichen Begleitung und damit die innerhalb der § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. a, § 13 BtMG verbindliche Richtschnur der sorgfältigen Substitutionsbehandlung zu entnehmen ist (Körner/Patzak, aaO, § 29 Teil 15 Rn. 41 a.E.).
Rz. 17
Einer Strafbarkeit nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. a BtMG wegen einer unzureichenden ärztlichen Begleitung der Substitutionsbehandlung steht nicht entgegen, dass eine Verschreibung unter Missachtung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 BtMVV nicht nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 14 BtMG, § 16 Nr. 2 Buchst. a BtMVV bestraft werden kann. § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 14 BtMG in Verbindung mit der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung sanktioniert Verstöße gegen formelle Voraussetzungen der Substitutionsbehandlung. Materielle Zuwiderhandlungen, zu denen es gehört, wenn der Arzt Substitutionsmittel verschreibt, obwohl er sich nicht fortlaufend in Übereinstimmung mit der Subsidiaritätsregel des § 13 Abs. 1 Satz 2 BtMG über die Fortschritte der Behandlung unterrichtet, sind nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. a BtMG strafbar, ohne dass § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 14 BtMG Sperrwirkung entfaltet (Nestler, MedR 2009, 211, 215; aA von Glahn, ZAP Fach 21, S. 213, 215 f.).
Rz. 18
c) Diese Maßgaben einer zulässigen Substitutionsbehandlung sind aus den §§ 29, 13 BtMG, § 5 BtMVV ohne weiteres ersichtlich, so dass für den Arzt als Adressaten der Strafnorm – den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Mai 1991 – 3 StR 8/91, BGHSt 37, 383, 384 f.; Nestler, MedR 2009, 211, 215) – klar erkennbar ist, unter welchen Voraussetzungen er sich durch das Verschreiben eines zur ärztlichen Medikation zugelassenen Substitutionsmittels strafbar macht.
Rz. 19
d) Zu den gesetzlichen Voraussetzungen ordnungsgemäßer Verschreibungen fehlen hinreichende Feststellungen. Das Landgericht hat sich lediglich mit der Ermittlung des für die Erfüllung der Verschreibungsvoraussetzungen im Rahmen einer Substitutionsbehandlung nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 2 und 4 Buchst. c BtMVV gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 BtMVV maßgebenden Standes der medizinischen Wissenschaft befasst und sich weitestgehend auf die Prüfung beschränkt, ob dieser vom Angeklagten gewahrt wurde. Ob die in § 5 Abs. 2 Satz 1 BtMVV aufgezählten sonstigen rechtlichen Voraussetzungen einer zulässigen Verschreibung zu Substitutionszwecken erfüllt wurden, hat es dagegen nicht oder nur unzureichend in den Blick genommen. Insbesondere der Frage der Eingangs- und fortlaufender Kontrolluntersuchungen (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 BtMVV) durch den Angeklagten und der Erstellung eines auf das Erreichen einer Betäubungsmittelabstinenz zielenden Behandlungskonzepts als Voraussetzungen einer betäubungsmittelrechtlich unbedenklichen Verschreibung von Substitutionsmitteln ist es nicht weiter nachgegangen. Eine regelmäßige oder gar wöchentliche Konsultation des Angeklagten hat es nicht festgestellt, sondern festgehalten, ein „direkter Arzt-Patienten-Kontakt” habe hauptsächlich stattgefunden, „wenn der Patient ein konkretes Anliegen, z.B. körperliche Beschwerden und/oder den Wunsch nach Änderung der Dosierung”, gehabt habe. Regelmäßiger, vom Angeklagten initiierter Konsultationen hätte es indessen bedurft, um eine Verschreibung von Substitutionsmitteln in Einklang mit § 13 BtMG zu bringen. „[A]ußerhalb einer förmlichen Untersuchungssituation, z.B. am Tresen”, „im Vorbeigehen” oder über den Mobilfunkanschluss geführte Gespräche des Angeklagten mit Patienten, bei denen eine körperliche Untersuchung oder eine Unterredung unter vier Augen nicht stattfand und entsprechend der Fortschritt der Substitutionstherapie und die weiter unabdingbare Verschreibung von Substitutionsmitteln nicht überprüft werden konnten, waren entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht geeignet, den gesetzlichen, insoweit einer abweichenden Bewertung aufgrund sachverständiger Beweiserhebung zu alternativen Behandlungsansätzen nicht zugänglichen Anforderungen Genüge zu tun.
Rz. 20
e) Das Landgericht hat darüber hinaus ein vorsätzliches – im Gegensatz zu einem bloß fahrlässigen und damit im Gegenschluss nach § 29 Abs. 4 BtMG nicht strafbaren – Handeln des Angeklagten aufgrund unzureichender Feststellungen verneint. Der das Substitutionsmittel entgegen § 13 BtMG verschreibende Arzt handelt vorsätzlich, wenn er zumindest billigend in Kauf nimmt, dass seine Verschreibung nicht den gesetzlichen Vorschriften entspricht und Verschreibungen von Betäubungsmitteln ohne Untersuchung oder ohne medizinische Indikation bzw. ohne ausreichende Kontrolle einen ärztlichen Kunstfehler darstellen (Körner/Patzak, aaO, § 29 Teil 15 Rn. 47). Mit der Frage diesbezüglicher (Er-)Kenntnisse des Angeklagten hat sich das Landgericht nicht hinreichend befasst. Es hat allein aufgrund des Umstands erhebliche Zweifel am subjektiven Tatbestand des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. a BtMG gehegt, dass es bei der Ermittlung des allgemein anerkannten Stands der medizinischen Wissenschaft nach § 5 Abs. 2 Satz 2 BtMVV in der Hauptverhandlung erhebliche Zeit aufgewandt und divergierende Auffassungen ermittelt hat. Der Stand der medizinischen Wissenschaft spielt indessen für die rechtliche Voraussetzung hinreichender Untersuchungen als Maßgabe einer zulässigen Substitutionsbehandlung keine Rolle. Das Landgericht hätte daher der Frage nachgehen müssen, ob der Angeklagte im Zuge des von ihm im Jahr 2000 absolvierten Lehrgangs – den Vorwurf bedingt vorsätzlichen Handelns im angeklagten Zeitraum begründend – über die gesetzlichen Voraussetzungen einer Substitutionsbehandlung unterrichtet worden war.
Rz. 21
3. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist dagegen unbegründet, soweit sie sich gegen den Freispruch in den Fällen unter C.X. der Urteilsgründe (Fälle 940 bis 942 der Anklageschrift) richtet.
Rz. 22
a) Das Landgericht ist für sich genommen rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, der Angeklagte könne in diesen drei Fällen nicht des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln schuldig gesprochen werden, weil ihm ein eigennütziges Verhalten als Voraussetzung eines täterschaftlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juni 1986 – 5 StR 153/86, BGHSt 34, 124, 126; Beschluss vom 28. Juli 2009 – 3 StR 44/09, BGHR BtMG § 13 Abs. 1 Abgabe 1; Beschluss vom 18. Januar 2011 – 3 StR 479/10, juris; st. Rspr.) nicht nachweisbar sei. Es hat in einer den Anforderungen des § 267 Abs. 5 StPO genügenden Weise dargelegt, es habe Zahlungen zugunsten des Angeklagten Zug um Zug gegen die Übergabe von Methadon nicht festgestellt.
Rz. 23
b) Dass das Landgericht die angeklagten Taten nicht (auch) unter dem Gesichtspunkt der unerlaubten Abgabe von Betäubungsmitteln gewertet hat, führt nicht zum Erfolg der Revision der Staatsanwaltschaft.
Rz. 24
Zwar ist der Tatrichter grundsätzlich gehalten, die angeklagte Tat unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu würdigen. Dieser Kognitionspflicht dürfen aber keine verfahrensrechtlichen Hindernisse entgegenstehen. Wird die Strafverfolgung wie hier durch die Staatsanwaltschaft vor Anklageerhebung nach § 154a Abs. 1 StPO auf eine Gesetzesverletzung – konkret das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln – beschränkt, so können, wie sich aus der Notwendigkeit einer formellen Wiedereinbeziehung nach § 154a Abs. 3 Satz 1 StPO ergibt, zunächst ausgeschiedene Gesetzesverletzungen nur dann Gegenstand einer Verurteilung sein, wenn die Entscheidung über die Beschränkung zuvor rückgängig gemacht wird. Da es sich hierbei um einen Verfahrensvorgang handelt, kann die unterbliebene Wiedereinbeziehung als Verfahrensverstoß nur mit einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden, von der Staatsanwaltschaft indessen nicht erhobenen Verfahrensbeschwerde gerügt werden. Die Beanstandung einer Verletzung materiellen Rechts genügt nicht (vgl. BGH, Urteil vom 14. Dezember 1995 – 4 StR 370/95, BGHR StPO § 154a Abs. 3 Wiedereinbeziehung 3; Meyer-Goßner, aaO, § 264 Rn. 12 a.E.).
Rz. 25
Der Senat ist an der daher gebotenen teilweisen Verwerfung der Revision der Staatsanwaltschaft nicht durch das Urteil des 1. Strafsenats vom 18. Juli 1995 (1 StR 320/95, NStZ 1995, 540) gehindert. Denn soweit dort die Ansicht vertreten wird, das Unterlassen einer Wiedereinbeziehung ausgeschiedener Gesetzesverletzungen könne mit der Sachrüge geltend gemacht werden, handelt es sich nicht um eine die Entscheidung tragende Erwägung (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Mai 1963 – GSSt 2/62, BGHSt 19, 7, 9; Kissel/Mayer, GVG, 6. Aufl., § 132 Rn. 20). In dem genannten Fall unterlag der Freispruch (auch) der Aufhebung, weil das Landgericht den festgestellten Sachverhalt unter weiteren rechtlichen Gesichtspunkten zu würdigen unterlassen hatte, die von der Beschränkung nach § 154a StPO nicht erfasst waren. Das Urteil des 2. Strafsenats vom 19. Februar 1997 (2 StR 561/96, BGHR StPO § 154a Abs. 3 Wiedereinbeziehung 4) lässt die Beachtlichkeit eines Verstoßes gegen § 154a Abs. 3 StPO auf die allgemeine Sachrüge ausdrücklich dahinstehen.
Rz. 26
II. Die Revision des Angeklagten gegen seine Verurteilung in den Fällen unter A.IV.3 der Urteilsgründe ist mit der Sachbeschwerde aus den oben dargelegten Gründen gerechtfertigt. Auf die Verfahrensbeanstandungen kommt es daher nicht mehr an.
Rz. 27
III. Mit der Aufhebung und Zurückverweisung nach § 354 Abs. 2 StPO entfällt die Kostenentscheidung des Landgerichts. Die Kostenbeschwerde des Angeklagten (§ 464 Abs. 3 StPO) ist damit gegenstandslos (Meyer-Goßner, aaO, § 464 Rn. 20).
Unterschriften
Becker, von Lienen, Schäfer, Mayer, Menges
Fundstellen
Haufe-Index 2923254 |
NStZ 2012, 337 |
MedR 2012, 654 |
GesR 2013, 122 |
StV 2013, 157 |
A&R 2012, 89 |