Honorarstreit um Reform der Drogentherapie

Eines der wichtigsten gesundheitspolitischen Reformvorhaben der Bundesregierung ist ins Stocken geraten: die Verbesserung der Versorgung Opioidabhängiger mit Substitutionspräparaten. Großpraxen und Drogenambulanzen fürchten um ihre Einnahmen.

Etwa 160.000 Menschen in Deutschland sind von Schmerz- und Betäubungsmitteln wie Opium, Morphin oder Heroin abhängig. Die Behandlung erfolgt in der Regel ambulant mit einem Substitutionsmittel, einer Art „Ersatzdroge“. Diese verhindert, dass die Patientin oder der Patient Entzugserscheinungen bekommt, hat aber selbst keine berauschende Wirkung. Die Betroffenen können sich an ein Leben ohne Rauschzustand gewöhnen und sich sozial und beruflich integrieren. Allerdings ist die Zahl der Praxen, die eine Substitutionsbehandlung anbieten, seit vielen Jahren rückläufig und laut dem Bericht zum Substitutionsregister von Januar 2024 auf ihren bisherigen Tiefstand von 2.436 gesunken. Rund die Hälfte der Opioidabhängigen in Deutschland ist ohne ärztliche Versorgung, was unter anderem in der Zahl der Drogentoten seinen Niederschlag findet. Im Jahr 2022 stieg sie erneut um 10 Prozent, gegenüber dem Vorjahr auf 1.990.  

Durchbruch bei der BtMVV

Diesem Notstand sollte mit einer Aktualisierung der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) abgeholfen werden. Seit April 2023 ist es leichter möglich, Patientinnen und Patienten das Drogenersatzmittel zur eigenverantwortlichen Einnahme („take-home“) auf Rezept zu verschreiben oder langwirksame Depottherapien einzusetzen, bei denen der Wirkstoff sukzessiv freigesetzt wird.  Allerdings werden diese Therapieformen nach der Gebührenordnung der Kassenärzte, dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM), um bis zu 50 Prozent schlechter honoriert als die weiterhin privilegierte tägliche Vergabe, d. h. das persönliche Erscheinen der Patientinnen und Patienten in der Arztpraxis und die Einnahme der Substitute „unter Sicht“. Denn als die medikamentengestützte Opioidsuchtbehandlung in den 1990er-Jahren in den Leistungskatalog aufgenommen wurde, standen diese Möglichkeiten noch am Beginn der Entwicklung.

Im Arbeitskreis 4 des Dezernats Vergütung und Gebührenordnung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) wird seit Frühjahr 2023 darüber beraten, wie im EBM eine gebührentechnische Gleichstellung erfolgen kann. Diskutiert wird ein von der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS) favorisiertes Modell, bei dem die bisherigen Gebührenziffern 01950 (tägliche Vergabe), 01949 ("take-home“-Vergabe) und 01953 (Depotpräparat-Verabreichung) durch eine einheitliche Quartalspauschale für die Steuerung und Koordination der Behandlung ersetzt werden. 

„Monetäre Interessen zurückstellen“

Nachdem auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin im November 2023 die Eckpunkte bekannt geworden waren, ist in Fachkreisen eine kontroverse Diskussion entbrannt. Denn die Ziffer 01950 (tägliche Vergabe) ist die Haupteinnahmequelle großer Substitutionsambulanzen und -praxen. „Eine ersatzlose Streichung würde beispielsweise in unserer Praxis einen Ausfall von 48 Prozent der Erstattungen nach sich ziehen“, berichtet der Bonner Substitutionsmediziner Dr. Dirk Lichtermann im Forum Substitutionspraxis. Zudem werde übersehen, dass der weitaus größte Anteil von Patientinnen und Patienten nicht in hausärztlichen Praxen, sondern einer geringen Zahl substituierender Ärzte in Schwerpunktpraxen, versorgt werden.

DGS-Vorstand Dr. Konrad Isernhagen hält dem entgegen, dass an eine ersatzlose Streichung der Ziffer 01950 gar nicht gedacht sei. Vielmehr solle diese durch eine neu einzuführende Gebührenordnungsposition ersetzt werden, weil die Einzelabrechnung fehleranfällig sei und die Behandlungsrealität nicht widerspiegele. Gerade deshalb könnten Haus- und Fachärzte die Substitutionsbehandlung nur schwer in den Praxisalltag integrieren und es würden Fehlanreize gegen „take-home“ und Depot–Therapien geschaffen.

Aus „nicht-ärztlicher Sicht“ erklärt Dirk Schäffer, Referent für Drogen und Strafvollzug bei der Deutschen Aidshilfe, dass die vielfach über Jahre und Jahrzehnte praktizierte tägliche Vergabe des Medikaments für die soziale und berufliche Reintegration eher hinderlich gewesen sei. „Das ist unstrittig. Es geht darum, jenen, die eine enge Anbindung an die Praxis benötigen, diese weiter zu ermöglichen und jenen, die diese nicht benötigen, schrittweise aus dem Praxisalltag zu entlassen. Dabei sollten monetäre Interessen in den Hintergrund treten.“ 

Begrenzter Einfluss der Politik

„Die Beratungen dauern an. Es laufen weiterhin Gespräche, sowohl auf innerärztlicher Ebene als auch mit den Krankenkassen“, heißt es vonseiten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV).

Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) möchte mit Blick auf die Vertraulichkeit noch laufender Verhandlungen keine weitergehende Stellungnahme abgeben. 

Dem Drogenbeauftragten der Bundesregierung, dessen wichtigstes Reformvorhaben nun - je nach Betrachtungswinkel - auf der Kippe oder in der Schwebe steht, ist es im Moment nicht möglich, ein Statement abzugeben.

Die Gesundheitspolitikerin Linda Heitmann (Bündnis90/Grüne), die seit langem die Bevorteilung der täglichen Vergabe bei der Honorierung kritisiert, verweist auf den „begrenzten Einfluss der Politik auf Umsetzung bezüglich der speziellen Ziffern des EBM in den Händen der Selbstverwaltungen.“ 

Im Ziel einig

In der Sache besteht, ungeachtet der unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen, unter den Medizinern weitgehend Einigkeit. Maßnahmen wie „take-home“- und Depot-Abgabe ermöglichen mehr Behandlungsvielfalt, eine bessere wohnortnahe Versorgung sowie mehr Flexibilität für Patientinnen und Patienten im beruflichen und familiären Alltag. Die Übertragung von Eigenverantwortung ist zudem eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. Ärztinnen und Ärzte müssten nicht mehr befürchten, in ein schlechtes Licht zu geraten, wenn „Junkies“ bei ihnen Schlange stehen; es würden nur noch in größeren Abständen persönliche Konsultationen erfolgen. Es würden viele der Umstände entfallen, die zu einer Stigmatisierung der Personengruppe der Drogenabhängigen, aber auch der substituierenden Ärztinnen und Ärzte beigetragen haben.

Dass Reformbemühungen in Anbetracht unterschiedlicher Interessen und zugleich begrenzter Budgets zu Verteilungskämpfen führen, ist kein ganz neuer Sachverhalt und wird als systemimmanent hingenommen. Aus dem Blick gerät häufig, dass auch eine Fehl- oder Unterversorgung zu Buche schlagen kann. Dies zwar an anderer Stelle, aber ebenfalls zulasten der Gemeinschaft beziehungsweise der Sozialsysteme. Die Gesundheitsökonomie befasst sich seit längerer Zeit mit den Folgekosten illegalen oder nicht behandelten Drogenkonsums. Diese wurden bereits im Jahr 2001 im internationalen Vergleich auf zwischen 0,2 Prozent und 1,1 Prozent des Bruttosozialprodukts beziffert, je nach Abgrenzung der möglichen Kostenarten. Dazu gehören Arbeitsunfähigkeit, Schäden durch Kriminalität und Kosten der Strafverfolgung sowie häufig aus der Opioidabhängigkeit resultierende Erkrankungen. Die Behandlung ohne Berücksichtigung von Folgeschäden oder -erkrankungen von Hepatitis C kostet im Durchschnitt 30.000 bis 50.000 Euro pro Behandlungsfall  und die von AIDS ein Leben lang rund 1.500 Euro pro Monat. Dem kann die Kosten-Nutzen-Analyse der Substitutionstherapie aus der PREMOS-Studie (Predictors, Moderators and Outcomes of Substitution Treatment) gegenübergestellt werden. Diese ergab „bei einer konservativen Berücksichtigung von Gesundheitskosten und Kosten der Sozialbetreuung sowie der Folgen kriminellen Verhaltens“ ein Verhältnis von 1:9,5 bis 1:19. 
 


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