Verfahrensgang
LG Berlin (Urteil vom 11.07.2003) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 11. Juli 2003 aufgehoben, soweit der Angeklagte in den Fällen II 2 und 3 der Urteilsgründe verurteilt worden ist. Insoweit wird das Verfahren – auf Kosten der Staatskasse – eingestellt. Der Gesamtstrafausspruch entfällt.
In die Einstellung des Verfahrens nach § 154 Abs. 2 StPO werden zwei weitere der angeklagten Fälle 2 bis 147 einbezogen.
Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen. Er ist wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
2. Auf die Revision der Nebenklägerin wird das genannte Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist.
Insoweit wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die verbleibenden Kosten der Revisionen – an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Diese hat auch über die Aussetzung der Vollstreckung der gegen den Angeklagten verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung zu entscheiden, sofern keine neue Gesamtfreiheitsstrafe verhängt wird.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes und zweier Fälle des sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Beischlaf zwischen Verwandten zu drei Jahren Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Von drei Anklagevorwürfen – 283 weitere Fälle wurden gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt – hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen. Das Urteil hat auf die Revisionen der Nebenklägerin und des Angeklagten nur teilweise Bestand.
1. Die Revision des Angeklagten, der die allgemeine Sachrüge erhoben hat, bleibt allerdings ohne Erfolg, soweit der Beschwerdeführer im Fall II 1 der Urteilsgründe wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes zu einer (Einzel-)Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden ist.
a) Mit rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung hat sich das Landgericht von der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage der Nebenklägerin, der am 22. Dezember 1978 geborenen leiblichen Tochter des Angeklagten, überzeugt. Danach hat dieser zwischen Anfang 1990 und Mitte 1999 in einer Vielzahl von Fällen – wahrscheinlich mehrere Hundert – den Beischlaf mit der Nebenklägerin vollzogen.
b) Rechtsfehlerfrei ausgeurteilt als Vergehen nach § 176 Abs. 1 StGB a.F. ist der Initialfall, begangen zum Nachteil der damals elfjährigen Tochter in einer zur Wohnung des Bruders des Angeklagten in Berlin-Neukölln gehörenden Außentoilette. Die Tat ist nicht verjährt, da die Verjährung – bei zehnjähriger Verjährungsfrist (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB) – bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres der Nebenklägerin (Dezember 1996) geruht hat (§ 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB).
c) Strafrahmenwahl (§ 176 Abs. 3 StGB a.F.) und Einzelstrafbemessung – unter Abzug von vier Monaten mit Rücksicht auf eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung – lassen einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht erkennen. Auch hätte bei der Schwere des Vergehens gegen den nicht geständigen Angeklagten keine noch mildere Strafe verhängt werden dürfen, wenn weitere Schuldsprüche nicht erfolgt wären.
2. Hinsichtlich der beiden weiteren Schuldsprüche wegen – rechtsfehlerfrei festgestellter – zwischen Anfang 1993 und November 1994 begangener jeweils tateinheitlicher Vergehen nach § 173 Abs. 1 und § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist das Verfahren einzustellen. Diese Taten sind verjährt. Bereits zum Zeitpunkt der ersten verjährungsunterbrechenden Handlung – Anordnung der Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens an den Angeklagten am 9. November 2000 (Bl. 75 / Bd. I d.A.; § 78c Abs. 1 Nr. 1 StGB) – war die fünfjährige Verjährungsfrist (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB) abgelaufen; bei Urteilsverkündung war zudem möglicherweise – und daher zugunsten des Angeklagten anzunehmen – absolute Verjährung (§ 78c Abs. 3 Satz 2 StGB) eingetreten. Die Ruhensvorschrift des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB gilt für die insoweit abgeurteilten Vergehen (noch) nicht (vgl. jedoch Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003, BGBl I 3007). Da die Staatsanwaltschaft die Verjährungsproblematik bereits bei Anklageerhebung zutreffend beurteilt und die Zeit zwischen dem 14. Geburtstag der Nebenklägerin und dem 9. November 1995 von der Anklage der Tatserie ausgenommen hat, fehlt es zudem insoweit am Erfordernis der Anklageerhebung.
Die in diesem Umfang gebotene Urteilsaufhebung und Einstellung des Verfahrens entzieht zugleich dem Gesamtstrafausspruch die Grundlage.
Zur Klarstellung und Erschöpfung der Anklage bezieht der Senat auf Antrag des Generalbundesanwalts zwei weitere Fälle der Anklage (aus den Fällen 2 bis 147) in die in der Hauptverhandlung vor dem Tatgericht vorgenommene weitgehende Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO ein; die unterbliebene Einstellung dieser beiden Fälle beruhte gleichermaßen auf der rechtsfehlerhaften Beurteilung der Verjährung und des Anklageumfangs.
3. Der Teilfreispruch, auf den die Nebenklägerin ihr Rechtsmittel beschränkt hat, hält sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.
Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsfeststellungen (UA S. 6, 7 f., 14 f.) ist zu entnehmen, daß das Tatgericht aufgrund der als glaubhaft angesehenen Angaben der Nebenklägerin an folgendem nicht gezweifelt hat: Der Angeklagte vollzog in einem zur Familienwohnung in Berlin-Neukölln gehörenden Toilettenraum im Sommer 1991 – und zwar wiederholt, nach dem Einzug am 1. August 1991 etwa zweimal wöchentlich – den Beischlaf mit der damals zwölfjährigen Nebenklägerin; gleiches tat er – mehrfach – mit seiner damals 13-jährigen Tochter an Wochenenden im Sommer 1992 im Gebüsch an einem bestimmten Spielplatz in Berlin-Kreuzberg; schließlich vollzog er zwischen einer am 23. November 1995 erfolgten gynäkologischen Behandlung seiner damals 16-jährigen Tochter und Anfang Dezember 1995 – wiederholt, mindestens viermal – wiederum in der Familienwohnung mit ihr den Beischlaf. Das Landgericht hat den Angeklagten gleichwohl von den Anklagevorwürfen zweier weiterer Vergehen nach § 176 Abs. 1 StGB a.F. und eines – wegen der späteren Tatzeit nicht verjährten – tateinheitlichen Vergehens nach § 173 Abs. 1 und § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB freigesprochen. Es sah sich an einer Verurteilung gehindert, da sich in keinem der drei Fälle die konkret abzuurteilende Tat aufgrund ihrer Verwechselbarkeit mit den jeweiligen Wiederholungsfällen „hinreichend bestimmen” lasse. Diese Beurteilung erweist sich als rechtsfehlerhaft.
Das Tatgericht hat mit seinen Erwägungen die Möglichkeit, bei der Beurteilung von Serienstraftaten der hier zur Überprüfung stehenden Art eine Verurteilung auf Mindestfeststellungen zu stützen, vernachlässigt. Damit hat es sich seiner hieraus folgenden Verpflichtung entzogen, zur Ausschöpfung einer – wie hier – ordnungsgemäß erhobenen Anklage solcher Taten derartige Mindestfeststellungen auch zu treffen. Dabei ist hier schon im Vorfeld durch Zusammenwirken von Tatgericht und Staatsanwaltschaft in Anwendung des § 154 Abs. 2 StPO mit der Reduzierung der Anzahl innerhalb der jeweils zeitlich und räumlich zu differenzierenden Teilserien auf jeweils (mindestens) nur noch eine zur möglichen Aburteilung gestellte Tat höchste Vorsicht geübt worden (vgl. ähnlich BGHR StGB § 176 Serienstraftaten 5; vor § 1 / Serienstraftaten – Kindesmißbrauch 4; vgl. zur Methodik auch BGHR StGB § 176 Serienstraftaten 6 und 8; StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 Mindestfeststellungen 6 und 7 sowie Sachdarstellung 9). Das vom Landgericht rechtsfehlerhaft zur Begründung der Freisprechung herangezogene Argument, ungeachtet sicherer tatrichterlicher Überzeugung an der Begehung (mindestens) einer näher konkretisierten und damit ausreichend individualisierten Tat mangele es an deren Unterscheidbarkeit von anderen gleichermaßen individualisierten Taten, mag nach rechtskräftiger Aburteilung bereits einer derartigen Tat aus der konkreten Tatserie zur Vermeidung doppelter Bestrafung, möglicherweise auch schon bei anderweitiger Rechtshängigkeit, einer Verurteilung entgegenstehen. Derartige Probleme ergaben sich hier deshalb nicht, weil der Angeklagte bislang unbestraft ist und auch nicht weitergehend belangt wird.
Die Möglichkeit, auf der Grundlage der vom Landgericht getroffenen Feststellungen in den drei Fällen auf die Verhängung von Schuldsprüchen durchzuerkennen, ist dem Senat aus grundsätzlichen Erwägungen versagt, da dem bestreitenden Angeklagten, der die Freisprüche nicht anfechten konnte, hierdurch insoweit eine Instanz genommen würde (BGHSt 48, 77, 99 m.w.N.). Die Gleichartigkeit der Tatvorwürfe mit den Verurteilungsfällen und die im wesentlichen identische Beweisgrundlage rechtfertigen nicht die Annahme eines Ausnahmefalles.
Über die Vorwürfe muß daher ein neues Tatgericht entscheiden, das auch nicht an die zu jenen Fällen bislang getroffenen – den weiteren rechtsfehlerfreien Schuldspruch indes nicht tragenden – Feststellungen gebunden ist, die der Angeklagte nicht angreifen konnte und die daher ebenfalls der Aufhebung unterliegen (§ 353 Abs. 2 StPO).
Im Verurteilungsfalle wird das neue Tatgericht mit der im angefochtenen Urteil nunmehr rechtskräftig verhängten (Einzel-)Strafe eine neue Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden haben. Sollte es indes in diesen Fällen zu keiner Verurteilung kommen, wird ihm die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung jener rechtskräftig verhängten zweijährigen Freiheitsstrafe gemäß § 56 Abs. 2 StGB obliegen.
Unterschriften
Harms, Häger, Basdorf, Gerhardt, Raum
Fundstellen
Haufe-Index 2558436 |
NStZ 2005, 113 |