Leitsatz (amtlich)

a) Hätte ein Geschädigter ohne den Unfall seinen Jahresunterhalt aus den Einkünften einer nur während einzelner Monate ausgeübten Erwerbstätigkeit bestritten, so kann die gesamte ihm wegen seiner unfallbedingten Erwerbsunfähigkeit im betreffenden Jahr gezahlte Sozialhilfe seinem ersatzfähigen Verdienstausfall zeitlich und sachlich kongruent sein.

b) Die vom Schädiger für die Zukunft zu entrichtende Verdienstausfallrente darf wegen des Subsidiaritätsgrundsatzes in § 2 BSHG nicht von vornherein im Hinblick auf dem Geschädigten für den Fall seiner Mittellosigkeit zustehende Sozialhilfeansprüche gekürzt werden.

 

Normenkette

BGB § 842

 

Verfahrensgang

OLG Celle (Urteil vom 21.06.1995)

LG Hildesheim

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 21. Juni 1995 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1988 bis 9. Juni 2001 Ersatz eines Verdienstausfallschadens aberkannt worden ist. Die weitergehende Revision wird zurückgewiesen.

Im Umgang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Der 1936 geborene Kläger wurde am 27. März 1987 bei der Benutzung eines von der Beklagten vertriebenen Schweißgerätes verletzt, als durch eine Explosion eine Schraube aus dem Gerät herausgeschleudert wurde, die den Kläger an der Stirn und am rechten Auge traf. Dadurch erblindete er auf diesem Auge und verlor seinen Geruchssinn. Die vollständige Einstandspflicht der Beklagten steht rechtskräftig fest.

Der Kläger verlangt neben der Zahlung von Schmerzensgeld den Ersatz seines durch den Unfall erlittenen Verdienstausfallschadens. Dazu macht er geltend, er sei vor dem Unfall als Leasing-Reisender für Tierfutter tätig gewesen. Er habe unfallbedingt auch nach Abschluß der ärztlichen Behandlung im Oktober 1987 nicht wieder arbeiten können. Bei Belastungen träten häufig starke Kopfschmerzen auf, so daß er sich nicht mehr konzentrieren könne.

Das Landgericht hat dem Kläger – neben Schmerzensgeld – für entgangenen Verdienst vom 1. April 1987 bis 30. Juni 1994 abzüglich erhaltener Sozialhilfeleistungen 154.853,68 DM zugesprochen und ihm ab 1. Juli 1994 bis längstens 9. Juni 2001 eine monatliche Rente von zunächst 2.157,37 DM und ab Rechtskraft seines Urteils vom 12. Juli 1994 4.222,40 DM zuerkannt. Das Oberlandesgericht hat dem Kläger 2.500 DM für entgangenen Verdienst im April 1987 zugesprochen; im übrigen hat es die auf Ersatz von Verdienstausfall gerichtete Klage abgewiesen. Mit der Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

 

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht ist der Auffassung, der Kläger sei nach Abschluß der ärztlichen Behandlung seit Mitte April 1987 wieder arbeitsfähig gewesen. Für die von ihm geklagten Kopfschmerzen gebe es keine organischen Hinweise; sie seien therapierbar und stünden einer Wiederaufnahme der Arbeit nicht entgegen. Der Kläger hätte daher in Erfüllung seiner Schadensminderungspflicht zumindest einen Arbeitsversuch machen müssen. Die Verletzung dieser Pflicht habe den vollständigen Ausschluß der Schadensersatzpflicht zur Folge.

Überdies habe der Kläger nicht bewiesen, daß er, wäre es nicht zu dem Unfall gekommen, kontinuierlich bis zu seinem 65. Lebensjahr gearbeitet hätte. In den 17 Jahren vor dem Unfall habe er nur ca. 3 Monate pro Jahr eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt. Hieraus und aus anderem müsse entnommen werden, daß er auch im Unfalljahr nur bis Ende April 1987 für seine bisherige Firma gearbeitet und sich daran wieder eine beschäftigungslose Zeit angeschlossen hätte. Es sei daher lediglich gerechtfertigt, ihm für den Monat April 1987 einen Verdienstausfall von netto 2.500 DM zuzusprechen.

Für die anschließende Zeit von Mai 1987 bis 30. Juni 1994 könne er wegen des Forderungsübergangs auf den Sozialhilfeträger keinen Verdienstausfallschaden mehr geltend machen, da er ab 31. August 1987 Sozialhilfe bezogen habe, deren jährliche Summe in etwa seinem Jahresverdienst entsprechen habe, so daß ihm kein Verdienstausfallschaden verblieben sei. Da sich an diesen Verhältnissen bis zu seinem 65. Lebensjahr voraussichtlich nichts ändere, könne er auch für die Zukunft keinen Ersatz von Verdienstausfall beanspruchen.

II.

Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision nicht stand.

Die Revision beanstandet zu Recht, daß das Berufungsgericht dem Antrag des Klägers auf Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens nicht nachgekommen ist und dem Kläger hilfsweise wegen des Forderungsübergangs auf den Sozialhilfeträger – mit Ausnahme für das Jahr 1987 – jeglichen Ersatz von Verdienstausfall versagt hat.

1. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger sei durch den Unfall nicht auf Dauer arbeitsunfähig geworden, gründet sich auf die Gutachten der augenärztlichen, HNO-ärztlichen und neurologischen Sachverständigen. Es hält den Sachverhalt aufgrund dieser Gutachten für genügend aufgeklärt. Der Kläger habe auch nicht erläutert, was unter der von ihm behaupteten „nicht kontrollierbaren psychogenen Überlagerung” seiner Beschwerden zu verstehen sei. Das Berufungsgericht hat daher keine Notwendigkeit gesehen, das vom Kläger zum Beweise seiner Arbeitsunfähigkeit beantragte psychologische Gutachten einzuholen. Das rügt die Revision zu Recht als verfahrensfehlerhaft.

a) Der Senat hat in seinem Urteil vom 30. April 1996 (BGHZ 132, 341 = VersR 1996, 990 m.w.N.) in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung noch einmal klargestellt, daß der Unfallschädiger grundsätzlich für die psychischen Auswirkungen einer von ihm verursachten Körperverletzung einzustehen hat, und zwar auch dann, wenn diese keine organische Ursache haben. Es genügt vielmehr die hinreichende Gewißheit, daß die psychisch bedingten Ausfälle ohne den Unfall nicht aufgetreten wären. Die Zurechnung psychosomatischer Beschwerden findet ihre Grenze erst dann, wenn es sich um eine ausgesprochene Begehrensneurose handelt oder das schädigende Ereignis eine Bagatelle darstellt und nicht gerade speziell die Schadensanlage des Verletzten trifft, wenn also die psychische Reaktion derart in einem groben Mißverhältnis zu dem Anlaß steht, daß sie nicht mehr verständlich ist (vgl. ebenso Senatsurteil v. 25. Februar 1997 – VI ZR 101/96 – zur Veröffentlichung vorgesehen).

b) Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe reichen die bisher eingeholten Gutachten nicht aus, um die Frage einer unfallbedingten, der Beklagten haftungsrechtlich zurechenbaren Arbeitsunfähigkeit des Klägers ausreichend zu beurteilen.

Der Senat versteht das Berufungsgericht dahin, daß es zwar „aufgrund unfallbedingter psychischer Ereignisse” Kopfschmerzen und andere Beschwerden bei, dem Kläger für möglich hält, solche aber, weil nicht objektivierbar, als nicht bewiesen ansieht. Soweit das Berufungsgericht die Möglichkeiten einer weiteren Aufklärung für ausgeschöpft hält und deshalb von der Einholung eines psychologischen Gutachtens, das der Kläger zum Beweise seiner Arbeitsunfähigkeit beantragt hatte, abgesehen hat, rügt die Revision dies zu Recht als verfahrensfehlerhaft.

Zu einer weiteren Aufklärung in dieser Richtung bestand vor allem deshalb Anlaß, weil der Sachverständige Dr. K. unfallbedingte psychische Ursachen für die vom Kläger geklagten Beschwerden nicht ausschließen konnte, die Amtsärztin Dr. D. solche Beschwerden mit Sicherheit als psychogen etwas überlagert ansah und auch der Sachverständige Prof. E. leichte psychosomatische Störungen bei dem Kläger feststellte. Warum eine weitere Aufklärung in dieser Richtung nicht möglich sein soll, hat das Berufungsgericht nicht dargelegt. Eine Begutachtung durch einen Psychiater oder Psychologen, die bisher nicht stattgefunden hat, kann nach allgemeiner Erfahrung zur Aufhellung psychosomatischer Vorgänge durchaus beitragen. Eine solche umfassende Begutachtung wird durch die von dem neurologischen Sachverständigen Prof. E. veranlaßte neuropsychologische Zusatzuntersuchung nicht ersetzt. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts brauchte der Kläger seine unter Beweis gestellte Behauptung einer „nicht kontrollierbaren psychischen Überlagerung” seiner Beschwerden nicht näher zu erläutern. Eine unzulässige Ausforschung durch Behauptung ins Blaue kann darin nicht gesehen werden (vgl. Senatsurteil vom 10. Januar 1995 – VI ZR 31/94 – VersR 1995, 433, 434). Sofern die Begutachtung eine unfallursächliche Arbeitsunfähigkeit ergibt, könnte dem Kläger nicht der Vorwurf gemacht werden, keinen Arbeitsversuch unternommen zu haben.

2. Das Urteil kann auch nicht mit der vom Berufungsgericht gegebenen Hilfsbegründung gehalten werden. Insoweit rügt die Revision zu Recht, daß das Berufungsgericht dem Kläger für die Jahre von 1988 bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres keinen Verdienstausfallschaden zugebilligt hat. Die Kürzung des in der Vergangenheit, d.h. vom Januar 1988 bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung erlittenen Verdienstentganges um die für diesen Zeitraum gezahlten Sozialhilfeleistungen wird von den Feststellungen nicht getragen. Des weiteren durfte das Berufungsgericht den Ersatz des in der Zukunft entgehenden Verdienstes nicht mit der Begründung ablehnen, der Kläger werde Sozialhilfe beziehen.

a) Das Berufungsgericht nimmt an, daß der Kläger, der in den 17 Jahren vor dem Unfall durchschnittlich nur drei Monate im Jahr gearbeitet habe, auch ohne den Unfall nur in diesem Umfang einer Versicherungspflichtigen Tätigkeit nachgegangen wäre. Dies greift die Revision nicht an. Sie nimmt auch die Feststellung hin, daß der Kläger im Jahre 1987 seine bisherige Tätigkeit nur bis Ende April ausgeübt hätte und er für den Rest des Jahres wiederum beschäftigungslos gewesen wäre.

Auf der Grundlage dieser Feststellungen hat es dem Kläger daher für 1987 nur einen Verdienstausfallschaden für den Monat April in Höhe von netto 2.500 DM als ersatzfähig zugestanden und für das übrige Jahr einen Verdienstentgang verneint. Das ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Für die folgenden Jahre hat das Berufungsgericht ebenfalls in rechtlich nicht zu beanstandender Weise zugrundegelegt, daß der Kläger nicht mehr als drei Monate jährlich gearbeitet hätte.

b) Hingegen wird die Beurteilung des Berufungsgerichts, dem Kläger stehe für die Zeit vom 1. Januar 1988 bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung im Berufungsrechtszug im Hinblick auf die erhaltene Sozialhilfe und den Forderungsübergang auf den Sozialhilfeträger kein Anspruch auf Ersatz von Verdienstausfall mehr zu, von den bisherigen Feststellungen nicht getragen. Es ist dem Berufungsurteil nicht hinreichend zu entnehmen, ob die Voraussetzungen vorliegen, unter denen die vom Sozialhilfeträger jeweils im Laufe eines Jahres erbrachten Leistungen in vollem Umfang als dem ersatzfähigen Verdienstausfall zeitlich und sachlich kongruent anzusehen sind. Vielmehr kommen zwei Fallgestaltungen in Betracht:

aa) Bei dem Verdienst, den der Kläger im Laufe von drei Monaten während eines Jahres erzielt hätte, kann es sich um ein Jahreseinkommen handeln, aus dem der Kläger seine Bedürfnisse während eines Jahres befriedigt hätte. In einem solchen Fall wäre die Verrechnung dieses Einkommens mit der während des Jahres insgesamt bezogenen Sozialhilfe im Hinblick auf die gegebene zeitliche Kongruenz rechtlich nicht zu beanstanden.

bb) Es ist aber auch denkbar, daß der Kläger seine Bedürfnisse aus dem Verdienst nur für die Dauer von drei Monaten eines Jahres hätte befriedigen können und zur Bestreitung seines Lebensunterhalts in der restlichen Zeit auf andere Quellen hätte zurückgreifen müssen. In diesem Fall könnte eine Verrechnung mit dem Jahresbetrag der erhaltenen Sozialhilfe wegen Fehlens der zeitlichen Kongruenz nicht, sondern nur mit einem dreimonatigen Anteil vorgenommen werden.

cc) Sollte es nach erneuter Verhandlung wieder zu einer Abrechnung auf Jahresbasis kommen, wird das Berufungsgericht zu beachten haben, daß einer jahresübergreifenden Berücksichtigung, wie dies im angefochtenen Urteil geschehen ist, der Grundsatz der zeitlichen Kongruenz der Sozialhilfeleistungen entgegensteht.

c) Für die Zukunft, d.h. für die Zeit vom Schluß der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres käme ein Anspruch auf Rentenzahlung für den während dreier Monate eines jeden Jahres entgehenden Verdienst ohne Berücksichtigung etwaiger Sozialhilfeverpflichtungen eines Sozialhilfeträgers in Betracht. Das ergibt sich aus dem in § 2 BSHG normierten Grundsatz der Nachrangigkeit der Sozialhilfe (vgl. dazu BGHZ 115, 228, 230; 131, 274, 281). Dieser Grundsatz bedeutet, daß Sozialhilfe erst dann zu leisten ist, wenn der Betreffende sich nicht selbst helfen kann. Hat der Geschädigte einen titulierten Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger, so muß er, bevor er Sozialhilfe in Anspruch nehmen kann, zunächst diesen Anspruch zur Deckung seines Bedarfes verwirklichen (BGHZ 131, 274 m.w.N.; Senatsurteil vom 9. Juli 1996 – VI ZR 5/95 – VersR 1996, 1258 – zur Veröffentlichung in BGHZ 133, 129 vorgesehen). Demgemäß müßte auch der Kläger in der Zukunft, in der Sozialhilfeleistungen noch nicht erbracht sind, zunächst seinen Lebensbedarf aus der Schadensersatzforderung gegen die Beklagte decken. Aus diesem Grunde müßten ihm Rentenbeträge, auf die er für entgehende Verdienste in der Zukunft Anspruch hat, ohne jede Berücksichtigung etwaiger Sozialhilfe zuerkannt werden.

 

Unterschriften

Groß, Bischoff, Dr. v. Gerlach, Dr. Müller, Dr. Dressler

 

Fundstellen

Haufe-Index 1398941

NJW 1997, 2175

NWB 1997, 1928

Nachschlagewerk BGH

MDR 1997, 645

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