Verfahrensgang
LG Duisburg (Urteil vom 27.07.2020; Aktenzeichen 33 KLs – 728 Js 75/20-8/20) |
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 27. Juli 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen räuberischer Erpressung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat.
Rz. 2
Mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision erachtet die Staatsanwaltschaft die Anwendung von Jugendstrafrecht als rechtsfehlerhaft; auch habe das Landgericht seiner Strafzumessung einen zu geringen Schuldumfang zugrunde gelegt. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
Rz. 3
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Rz. 4
1. Der Angeklagte, der Verurteilte M. sowie ein weiterer unbekannter Mittäter vereinbarten am 13. Juli 2019, den Geschädigten G. in dessen Zimmer einer „Sozial-Wohngemeinschaft” zu „überfallen”, um an die Kette, die Uhr sowie das Mobiltelefon des Opfers im Gesamtwert von 1.340 EUR zu gelangen. Hierzu informierte der Verurteilte M. die beiden anderen über die Lage des Zimmers und übergab ihnen einen Schlüssel für die Hauseingangstür des Wohnheims. Nach dem gemeinsamen Tatplan sollte der unbekannte Mittäter das Opfer nach Betreten des Raums aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit in eine Ecke drängen. Der durch diese Vorgehensweise sowie die Statur und die dunkle Stimme des Mittäters eingeschüchterte Geschädigte sollte sodann zur Herausgabe der genannten Gegenstände aufgefordert werden. Körperlich wirkender Zwang sollte nicht angewendet werden.
Rz. 5
In Umsetzung dieses Tatplans begaben sich der Angeklagte und der unbekannte Mittäter zu dem Zimmer des Geschädigten. Unmittelbar nachdem einer der beiden an der Türe geklopft hatte, äußerte der Mittäter „Ach, Scheiß drauf” und trat die Zimmertür ein. Der von diesem Vorgehen überraschte Angeklagte leuchtete mit seiner Taschenlampe in den Raum, während der Mittäter schnellen Schrittes auf den Geschädigten zutrat und ihm entgegen dem gemeinsam gefassten Tatplan mit der Faust ins Gesicht schlug. Sodann forderte er das Opfer zur Herausgabe der genannten Preziosen auf und trat auf den zu Boden gefallenen Geschädigten mehrfach ein, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Der Angeklagte, der in der Zimmertür stehen geblieben war und „die Situation im Wohnhaus” beobachtet hatte, um eine Entdeckung der Tat zu verhindern, war mit der Anwendung körperlicher Gewalt nicht einverstanden und billigte diese auch nicht im Nachhinein. Dennoch begab er sich nach den Schlägen und Tritten in das Zimmer des Opfers, um nach den Wertgegenständen zu suchen, ohne diese jedoch zu finden.
Rz. 6
Währenddessen holte der Mittäter einen schwarzen, ausziehbaren, insgesamt etwa 50 cm langen Teleskopschlagstock aus seiner Jacke. Durch die vorangegangene Gewaltanwendung und den Schlagstock eingeschüchtert übergab der Geschädigte schließlich die geforderten Gegenstände. Sodann drückte ihm der Mittäter das Knie in den Rücken und forderte ihn zur Preisgabe des Entsperrcodes für das Mobiltelefon auf. Auch dem kam das Opfer aus Angst nach. Der Angeklagte nahm den nicht mehr dem Tatplan entsprechenden Einsatz des Teleskopschlagstockes nicht wahr und billigte diesen auch nicht im Nachhinein.
Rz. 7
2. Die Jugendkammer hat den Sachverhalt rechtlich als räuberische Erpressung (§§ 255, 253 Abs. 1 und 2, § 249 Abs. 1, § 25 Abs. 2 StGB) gewürdigt. Sie hat auf den zum Tatzeitpunkt 20 Jahre und elf Monate alten Angeklagten nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG Jugendstrafrecht angewendet und ihn zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung sie zur Bewährung ausgesetzt hat.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 8
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.
Rz. 9
1. Das Rechtsmittel ist unbeschränkt eingelegt.
Rz. 10
Die Ermittlungsbehörde hat sich zwar in ihrer Revisionsbegründung ausschließlich gegen die Anwendung von Jugendstrafrecht und Erwägungen zur Strafzumessung gewandt, was grundsätzlich für eine Beschränkung des Rechtsmittels auf den Strafausspruch sprechen könnte. Sie hat dabei jedoch geltend gemacht, das Tatgericht habe dem Angeklagten den Schuldumfang vergrößernde tatsächliche Umstände – die durch den Mittäter ausgeübte körperliche Gewalt – rechtsfehlerhaft nicht zugerechnet. Werden – wie hier – Schuldfeststellungen angegriffen, kommt eine Revisionsbeschränkung auf den Strafausspruch indes nicht in Betracht (vgl. BGH, Urteile vom 23. August 1956 – 4 StR 266/56, NJW 1956, 1845; vom 21. September 2017 – 3 StR 288/17, juris Rn. 8; LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 344 Rn. 10). Im Übrigen hat die Staatsanwaltschaft ausdrücklich die Aufhebung des angefochtenen Urteils „in vollem Umfang” beantragt.
Rz. 11
2. Das Urteil hält materiell-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Das Landgericht hat dem Angeklagten lediglich die durch den unbekannten Mittäter ausgeübten Drohungen, nicht jedoch die von ihm in Form von Faustschlägen und Tritten angewandte Gewalt zugerechnet.
Rz. 12
Die dem zugrunde liegende Beweiswürdigung der Jugendkammer erweist sich als lücken- und damit rechtsfehlerhaft, weil nicht hinreichend dargelegt ist, warum das Landgericht eine naheliegende Schlussfolgerung nicht zu ziehen vermocht hat (vgl. BGH, Urteile vom 23. Juli 2008 – 2 StR 150/08, NJW 2008, 2792, 2793; vom 28. Januar 2021 – 3 StR 279/20, juris Rn. 17; KK-StPO/Ott, 8. Aufl., § 260 Rn. 208).
Rz. 13
Nach den Feststellungen wandte der Mittäter unmittelbar nach Betreten des Zimmers des Geschädigten körperliche Gewalt an. Der Angeklagte stand während dieser Zeit in der Zimmertür. Sodann durchsuchte er, während das Opfer unter dem Eindruck der schon ausgeübten Gewalt stand und durch den Mittäter (für den Angeklagten nicht ausschließbar nicht erkennbar) weiter körperlich misshandelt wurde, das Zimmer des Geschädigten nach Wertgegenständen.
Rz. 14
Unter Zugrundelegung dieser Feststellungen hätte der Schluss nahegelegen, dass der Angeklagte die ausgeübte Gewalt zumindest in Form der Faustschläge und Tritte billigte und sich diese für die weitere Tatausführung zunutze machte (vgl. BGH, Urteil vom 19. September 2001 – 2 StR 224/01, NStZ-RR 2002, 9). Das Landgericht hat seine gegenteilige Überzeugung ausschließlich auf die Einlassung des Angeklagten gestützt, ohne darzulegen, warum die konkrete Tatsituation – insbesondere die Durchsuchung des Raums nach der von ihm zur Kenntnis genommenen, in unmittelbarer räumlicher Nähe stattgefundenen körperlichen Misshandlung des Geschädigten – nicht gegen die Richtigkeit derselben sprechen könnte.
Rz. 15
3. Der aufgezeigte Mangel berührt nicht nur den Strafausspruch, sondern auch den Schuldspruch, weshalb das Urteil vollständig der Aufhebung unterliegt (vgl. BGH, Urteil vom 23. August 1956 – 4 StR 266/56, NJW 1956, 1845 f.) und die Sache insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung bedarf.
Rz. 16
Der Senat weist hierfür hinsichtlich der Anwendung von Jugendstrafrecht auf Nachfolgendes hin:
Rz. 17
Nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG ist auf einen Heranwachsenden Jugendstrafrecht anzuwenden, wenn die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand. Das Jugendgerichtsgesetz geht bei der Beurteilung des Reifegrades nicht von festen Altersgrenzen aus, sondern stellt auf eine dynamische Entwicklung des noch jungen Menschen zwischen 18 und 21 Jahren ab. Einem Jugendlichen gleichzustellen ist der noch ungefestigte und prägbare Heranwachsende, bei dem Entwicklungskräfte noch im größeren Umfang wirksam sind. Hat der Angeklagte dagegen bereits die einen jungen Erwachsenen kennzeichnende Ausformung erfahren, dann ist er nicht mehr einem Jugendlichen gleichzustellen, vielmehr ist auf ihn allgemeines Strafrecht anzuwenden. Dabei steht die Anwendung von Jugendstrafrecht oder allgemeinem Strafrecht nicht im Verhältnis von Regel und Ausnahme; § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG stellt keine Vermutung für die grundsätzliche Anwendung des einen oder anderen Rechts dar. Nur wenn bei dem Tatgericht nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten Zweifel verbleiben, muss es die Sanktionen dem Jugendstrafrecht entnehmen (BGH, Urteile vom 6. Dezember 1988 – 1 StR 620/88, BGHSt 36, 37, 38 ff.; vom 5. Dezember 2002 – 3 StR 297/02, NStZ 2003, 495 Rn. 3; vom 11. März 2003 – 1 StR 507/02, BGHR JGG § 105 Abs. 1 Nr. 1 Entwicklungsstand 9; vom 26. Oktober 2016 – 2 StR 376/15, juris Rn. 12; Beschluss vom 15. März 2011 – 5 StR 35/11, BGHR JGG § 105 Abs. 1 Nr. 1 Entwicklungsstand 10 Rn. 5).
Rz. 18
Gemessen an diesen Maßstäben wird es vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte zur Tatzeit 20 Jahre und elf Monate alt war, mithin die Schwelle zur zwingenden Anwendung des Erwachsenenstrafrechts fast erreicht hatte, eingehenderer Darlegung bedürfen, warum es sich bei diesem um einen „noch prägbaren Menschen” (MüKoStPO/Laue, 3. Aufl., JGG, § 105 Rn. 14) handelt und inwieweit er mit den Mitteln des Jugendstrafrechts weiterhin zu erreichen ist. Zu berücksichtigen wird insoweit auch sein, dass der Angeklagte, der nicht mehr im elterlichen Haushalt, sondern zusammen mit seiner Freundin lebt und selbständig eine Shisha-Bar betrieben hat, bereits einen gewissen Grad an selbständiger Lebensführung erlangte.
Unterschriften
Schäfer, Wimmer, Paul, Anstötz, Erbguth
Fundstellen
Haufe-Index 14970302 |
NStZ 2022, 758 |
NStZ 2022, 8 |
NStZ-RR 2022, 6 |