Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 09.05.2022; Aktenzeichen 542 KLs 20/21) |
Tenor
Die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 9. Mai 2022 werden verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen. Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
- Von Rechts wegen -
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Der Angeklagte wendet sich mit einer Verfahrensbeanstandung und der Sachrüge gegen seine Verurteilung. Die zuungunsten des Angeklagten eingelegte, nur mit der Sachrüge geführte und vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft richtet sich allein gegen den Strafausspruch. Beide Rechtsmittel bleiben ohne Erfolg.
I.
Rz. 2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts meldete sich der Angeklagte auf eine Anzeige der Nebenklägerin, in der sie ihre Dienste als „Escort“ anbot, das heißt gegen Honorar für eine vereinbarte Zeit ihre Gesellschaft andiente, was einschloss, mit Interessenten gegen Entgelt sexuelle Handlungen durchzuführen. Der Angeklagte vereinbarte mit ihr für den 6. September 2021 in der Zeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr ein sogenanntes „Overnight“ in seiner Wohnung, bei dem der Grundpreis für den geschützten vaginalen Geschlechtsverkehr 1.200 Euro betragen sollte.
Rz. 3
Spätestens nachdem die Nebenklägerin am vereinbarten Abend seine Wohnung betreten hatte, entschloss sich der Angeklagte, das vereinbarte Entgelt nicht zu entrichten und die von ihm gewünschten sexuellen Handlungen auch gegen den Willen der Nebenklägerin zu erzwingen. Um für diesen Fall sicherzustellen, dass sich die Nebenklägerin der Situation nicht entziehen konnte, schloss der Angeklagte die Wohnungstür ab und steckte den Schlüssel ein, ohne dass sie dies bemerkte.
Rz. 4
Als sich der Angeklagte im weiteren Verlauf entkleidete und sexuelle Handlungen aus Sicht der Nebenklägerin bevorstanden, sprachen beide nochmals über das von dem Angeklagten zu entrichtende Geld. Sie einigten sich auf einen Preis von 1.350 Euro, der neben vaginalem Geschlechtsverkehr entsprechend den zusätzlichen Wünschen des Angeklagten u.a. noch ungeschützten Oralverkehr umfasste. Die Nebenklägerin stellte dabei gegenüber dem Angeklagten unmissverständlich klar, dass sie die Bezahlung als Vorkasse erwarte und sexuelle Handlungen mit ihm nur bei Erhalt des im Voraus zu entrichtenden Geldes vornehmen werde.
Rz. 5
Der Angeklagte stimmte diesen Bedingungen zum Schein zu, worauf sich die Nebenklägerin bis auf Büstenhalter und Slip auszog. Der Angeklagte zog nun ein Küchenmesser mit einer etwa 15 cm langen Klinge hervor, das er in einem Abstand von etwa einem Meter auf die völlig überraschte Nebenklägerin richtete. Er erklärte ihr u.a., dass sie alles machen werde, was er ihr sage. Wenn sie „Faxen“ mache, werde sie sehen, was passiere. Aus Angst erklärte die Nebenklägerin, dass sie tun werde, was er wolle, und sicherte ihm dies auf sein Verlangen hin wiederholte Male zu.
Rz. 6
Der Angeklagte warf das Messer auf ein unweit befindliches Hochbett. Aus Angst, er könne ihr mit dem Messer etwas antun, übte die Nebenklägerin in der Folge mehrmals kurzzeitigen, ungeschützten Oralverkehr am Angeklagten aus, der sie dazu jeweils - ohne dabei körperliche Gewalt anzuwenden - an ihren Haaren oder ihrem Kopf an sein Glied führte. Dabei war dem Angeklagten klar, dass sie ohne Bezahlung mit dem Oralverkehr nicht einverstanden war, sondern diesen nur auf Grund seiner vorangegangenen Drohung mit dem Messer erduldete.
Rz. 7
Nachdem es der Nebenklägerin im weiteren Verlauf gelang, unbemerkt einen Notruf abzusetzen, wurde die Wohnungstür durch Polizeibeamte geöffnet, der Angeklagte zu Boden gebracht und die Nebenklägerin aus der Wohnung begleitet.
Rz. 8
2. Die Strafkammer hat das Verhalten des Angeklagten als besonders schwere Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1 und Nr. 2, Abs. 6 Satz 2 Nr. 1, Abs. 8 Nr. 1 StGB gewertet. Bei der Bemessung der Strafe hat sie einen minder schweren Fall angenommen und ist daher vom Strafrahmen des § 177 Abs. 9 Var. 3 StGB ausgegangen, wobei sie die Sperrwirkung der Strafrahmenuntergrenze des Regelbeispiels des § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB beachtet hat. In der hierzu vorgenommenen Gesamtbewertung hat sie u.a. strafmildernd berücksichtigt, dass „der ungeschützte Oralverkehr Teil der ursprünglichen - wenn auch nicht eingehaltenen - Vereinbarung“ gewesen sei, so dass „die Nebenklägerin zumindest mit keiner völlig unvorhergesehenen Sexualpraktik konfrontiert“ worden sei.
II.
Rz. 9
Die Revision des Angeklagten ist unbegründet. Seine Verfahrensrüge erweist sich aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift ausgeführten Gründen als unzulässig. Die Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zu seinen Lasten ergeben.
III.
Rz. 10
Die Revision der Staatsanwaltschaft bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Die Strafzumessungsentscheidung des Landgerichts enthält keine zugunsten des Angeklagten wirkenden Rechtsfehler.
Rz. 11
1. Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Das Revisionsgericht kann nur eingreifen, wenn Rechtsfehler vorliegen. Dies ist der Fall, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, von unzutreffenden Tatsachen ausgehen, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe so weit von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein, dass sie nicht mehr innerhalb des dem Tatgericht eingeräumten Spielraums liegt. Eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ist ausgeschlossen. In Zweifelsfällen muss das Revisionsgericht die vom Tatgericht vorgenommene Bewertung bis an die Grenze des Vertretbaren hinnehmen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 14. April 2022 - 5 StR 313/21, NStZ-RR 2022, 201; vom 24. Juni 2021 - 5 StR 545/20 mwN). Die revisionsrichterliche Überprüfung der Strafzumessung hat sich dabei am sachlichen Gehalt der Ausführungen des Tatgerichts zu orientieren, nicht an dessen - möglicherweise missverständlichen oder sonst unzureichenden - Formulierungen (BGH, Beschluss vom 10. April 1987 - GSSt 1/86, BGHSt 34, 345).
Rz. 12
2. Daran gemessen ist die Strafzumessungsentscheidung der Strafkammer nicht zu beanstanden. Das gilt auch, soweit sie in den Urteilsgründen eine zugunsten des Angeklagten vorgenommene Wertung dahin umschrieben hat, dass „der ungeschützte Oralverkehr Teil der ursprünglichen - wenn auch nicht eingehaltenen - Vereinbarung“ mit dem Angeklagten gewesen sei, „sodass die Nebenklägerin zumindest mit keiner völlig unvorhergesehenen Sexualpraktik konfrontiert“ worden sei. Das Landgericht hat mit dieser Erwägung nach ihrem allein maßgeblichen sachlichen Gehalt strafmildernd berücksichtigt, dass die Nebenklägerin das Handeln des Angeklagten aufgrund der konkreten Umstände als weniger stark belastend empfunden hat. Die Strafkammer hat damit im Einklang mit den Vorgaben des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB die bei der Nebenklägerin eingetretenen Tatfolgen individuell festgestellt und in ihre Gesamtbewertung einbezogen (a). Dabei hat sie nicht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstoßen (b). Insbesondere hat das Landgericht den Umstand, dass die Nebenklägerin mit dem Angeklagten die Durchführung von Oralsex vereinbart hatte, weder zum Anlass genommen, die Schutzwürdigkeit ihrer sexuellen Selbstbestimmung zu relativieren (b.aa), noch ist es aufgrund dessen ohne weiteres von einer geringeren psychischen Belastung der Nebenklägerin ausgegangen (b.bb). Im Einzelnen:
Rz. 13
a) Dem sachlichen Gehalt nach hat das Landgericht mit seiner Wendung einer nicht „völlig unvorhergesehenen Sexualpraktik“ - sprachlich zu kurz greifend - strafmildernd berücksichtigt, dass die Nebenklägerin die mit der Tat verbundene psychische Belastung als weniger schwerwiegend erlebt hat. Diese Bewertung der Auswirkungen der Tat auf das Opfer ist auf konkrete, rechtsfehlerfrei festgestellte Zumessungstatsachen gestützt und daher rechtlich nicht zu beanstanden. Denn aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe geht hervor, dass sich die Strafkammer hierbei keineswegs allein auf Wirkungen der ursprünglichen Vereinbarung entgeltlichen Sexualverkehrs bezogen hat, sondern vor allem darauf, dass die Nebenklägerin den allein erzwungenen Oralverkehr als bei weitem weniger gravierend empfand als einen - an sich ebenfalls vereinbarten - Vaginalverkehr. Dies konnte das Landgericht etwa daran festmachen, dass sie den Oralverkehr sogar durch Unterbrechungen und Gespräche in die Länge zog, um so befürchtete weitergehende sexuelle Handlungen hinauszuzögern. Zudem suchte sie nach Fluchtmöglichkeiten aus Angst, „vergewaltigt“ zu werden, was nach ihrem Verständnis erst mit einem erzwungenen Vaginalverkehr geschehen wäre, nicht aber mit einem Oralverkehr. Schließlich erwähnte sie den durchgeführten Oralverkehr in ihrer ersten polizeilichen Befragung am Tatort überhaupt nicht und verneinte die Frage, ob es zu Geschlechtsverkehr gekommen sei, weshalb das Landgericht auf eine weniger schwerwiegende Belastung durch diese Tathandlung geschlossen hat.
Rz. 14
Das vorstehende Verständnis der Zumessungserwägung des Landgerichts wird nicht dadurch infrage gestellt, dass zugunsten des Angeklagten auch noch berücksichtigt wurde, dass „die Nebenklägerin das Geschehen verhältnismäßig gut verarbeitet und keine nachhaltigen Folgen davongetragen hat“. Hierbei hat die Strafkammer nicht - ein weiteres Mal - auf das Erleben der akuten Tatsituation abgestellt, sondern auf die langfristigen und überdauernden Konsequenzen der Tat für das Opfer.
Rz. 15
Trotz der Bezugnahme auf die anfängliche Verabredung sexueller Handlungen hat die Strafkammer zudem nicht versäumt, die gegenläufige Wirkung des nachfolgenden Einsatzes von Nötigungsmitteln auf die Nebenklägerin in den Blick zu nehmen. So hat sie Feststellungen zur Angst der Nebenklägerin vor dem Angeklagten und zu ihrem Widerwillen beim erzwungenen Oralverkehr getroffen und dies strafschärfend eingestellt. Ausdrücklich hat sie die Indizwirkung des Regelbeispiels nach § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB nicht wegen des ursprünglichen Einverständnisses mit sexuellen Handlungen, namentlich dem ungeschützten Oralverkehr, entfallen lassen, sondern sie hat zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, dass die Nebenklägerin die sexuellen Handlungen nur ausführte, weil der Angeklagte sie mit einem Messer bedrohte und sie Angst um ihr Leben hatte.
Rz. 16
b) Die Strafzumessungserwägungen des Landgerichts verstoßen nicht gegen anerkannte Strafzwecke, sondern stehen im Einklang mit den Vorgaben des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB.
Rz. 17
aa) Entgegen der vom Generalbundesanwalt in der Revisionshauptverhandlung vertretenen Auffassung besorgt der Senat nicht, dass das Landgericht die Verletzung der Nebenklägerin in ihrem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung deshalb als weniger gewichtig angesehen haben könnte, weil sie den Angeklagten als Prostituierte aufgesucht und mit ihm vor der Tat sexuellen Verkehr gegen Entgelt vereinbart hatte. Ein solcher Zusammenhang zwischen dem Schutzgut des § 177 StGB und der Prostitutionstätigkeit der Nebenklägerin ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen; die Strafkammer hat ihn insbesondere nicht durch die in Rede stehende Wendung in der Strafzumessung hergestellt.
Rz. 18
Es wäre auch rechtsfehlerhaft, das Recht der sexuellen Selbstbestimmung der Nebenklägerin dergestalt mit ihrer Bereitschaft, gegen Entgelt mit dem Angeklagten sexuell zu verkehren, zu verknüpfen (vgl. zuletzt schon BGH, Beschluss vom 9. August 2022 - 6 StR 279/22; zudem bereits BGH, Urteile vom 18. Februar 1998 - 2 StR 510/97; vom 16. August 2000 - 2 StR 159/00; vom 11. Juli 2001 - 3 StR 214/01, NStZ 2001, 646; Beschluss vom 10. Dezember 2008 - 2 StR 517/08, NStZ 2009, 207). Soweit früherer Rechtsprechung des Senats (BGH, Beschluss vom 19. September 2000 - 5 StR 404/00, NStZ 2001, 29) eine gegenteilige Rechtsauffassung entnommen werden kann, hält der Senat hieran nicht fest. Denn es mindert weder die generelle Schutzwürdigkeit der sexuellen Selbstbestimmung des Tatopfers noch das Ausmaß der Verletzung dieses Rechts, wenn die betroffene Person unter anderen Bedingungen, etwa gegen eine Bezahlung, sexuelle Handlungen auch freiwillig vorzunehmen oder zu erdulden bereit gewesen wäre, die dann aber erzwungen wurden.
Rz. 19
So hat der Bundesgerichtshof schon wiederholt ausgesprochen, dass das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung auch Prostituierten uneingeschränkt zusteht (BGH, Urteile vom 18. Februar 1998 - 2 StR 510/97; vom 27. Mai 2004 - 3 StR 500/03; vgl. zudem BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2008 - 2 StR 517/08, NStZ 2009, 207). Gegenteilige Differenzierungen werden auch im heutigen strafrechtlichen Schrifttum einhellig abgelehnt (vgl. nur LK/Hörnle, StGB, 13. Aufl., § 177 Rn. 214; MüKo-StGB/Renzikowski, 4. Aufl., § 177 Rn. 201; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 177 Rn. 168; SK-StGB/Wolters/Noltenius, 9. Aufl., § 177 Rn. 80, 88; Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 177 Rn. 149; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 1621).
Rz. 20
Eine Vereinbarung entgeltlicher sexueller Handlungen bleibt auch ohne Einfluss auf das Ausmaß des in einem nachfolgenden sexuellen Übergriff liegenden Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung. Wird die Grundbedingung einer solchen Einigung - freiwilliger Verkehr gegen Bezahlung - nicht eingehalten, so vermag allein der Umstand, dass es zu der Einigung überhaupt gekommen war, die Divergenz zwischen dem Handeln des Täters und dem Willen des Opfers nicht anteilig aufzufangen oder abzumildern. Denn ein Eingriff in das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist jedenfalls nicht in dem Sinne teilbar, dass die Missachtung des Willens eines Sexualpartners sich auf dessen Wunsch nach Gewaltfreiheit und Bezahlung beschränken und hinsichtlich der sexuellen Handlung „an sich“ aber noch ein das Erfolgsunrecht zumindest reduzierender Rest an Konsens verbleiben könnte (vgl. auch MüKo-StGB/Renzikowski aaO unter Verweis auf Hörnle, StV 2001, 454, 455).
Rz. 21
Derartige Graduierungen des Schutzgutes der sexuellen Selbstbestimmung wären im Übrigen nicht vereinbar mit der heutigen Fassung des § 177 StGB und dessen grundlegender Neukonzeption durch das 50. StrÄndG vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2460). Denn für die Erfüllung des § 177 StGB soll es nach dem Willen des Gesetzgebers nunmehr unerheblich sein, aus welchen Gründen das Opfer eine sexuelle Handlung ablehnt. Geschützt werden soll die Freiheit des Opfers, jederzeit seinen Willen zu ändern, unabhängig von einer zuvor erteilten Zustimmung, von der Beziehung der Beteiligten oder etwaigen Abreden oder Gegenleistungen (BT-Drucks. 18/9097, S. 23; zur Maßgeblichkeit des Willens in Fällen des sogenannten „Stealthing“ BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2022 - 3 StR 372/22 mwN).
Rz. 22
Dieses Schutzkonzept entspricht zugleich den rechtlichen Maßgaben aus Art. 36 des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011 (Istanbul-Konvention), umgesetzt in deutsches Recht durch Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarats vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (BGBl. II 2017, S. 1026 ff.; BT-Drucks. 18/12037, S. 76 f.; vgl. bereits BGH, Beschluss vom 9. August 2022 - 6 StR 279/22).
Rz. 23
bb) Das Landgericht hat aus der vorherigen Vereinbarung entgeltlicher sexueller Handlungen auch nicht pauschal geschlossen, dass deren nachfolgende Erzwingung für die Nebenklägerin psychisch weniger belastend gewesen wäre. Die Annahme eines derartigen Automatismus wäre ebenfalls rechtsfehlerhaft. Zwar bilden die verschuldeten Auswirkungen der Tat nach § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB einen möglichen Strafzumessungsfaktor. Bei einem sexuellen Übergriff nach § 177 StGB kann zu diesen die seelische Beeinträchtigung des Opfers jedenfalls insoweit gehören, als sie das mit derartigen Taten typischerweise verbundene Maß über- oder unterschreitet (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 598, 1622 mwN). Es besteht jedoch kein Erfahrungssatz des Inhalts, dass ein sexueller Übergriff stets leichter zu ertragen ist für solche Opfer, die zu dem sexuellen Verhalten unter bestimmten, nicht eingehaltenen Bedingungen freiwillig bereit gewesen wären. Vielmehr verbietet sich hier - wie allgemein bei der Strafzumessung - jeder Schematismus (vgl. BGH, Beschluss vom 10. April 1987 - GSSt 1/86, BGHSt 34, 345).
Rz. 24
So hat sich das Gericht bei der Zumessung der Strafe auf die von ihm festgestellten Tatsachen zu beschränken und darf die Strafe nicht an einem hypothetischen Sachverhalt messen, der zu dem zu beurteilenden keinen Bezug hat (BGH aaO). In diesem Sinn hypothetisch wäre auch ein ins Auge gefasstes Einverständnis mit sexuellen Handlungen, wenn diese letztlich gegen den Willen des Opfers vollzogen wurden (vgl. bereits BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2008 - 2 StR 517/08, NStZ 2009, 207). Ein solches, nicht verwirklichtes Einverständnis kann sich auf die Bestrafung des sexuellen Übergriffs daher nur in dem Maß auswirken, in dem es gleichwohl noch Einfluss auf die vom Opfer erlebten Tatfolgen hatte. Soll dies in die Strafzumessungsentscheidung eingehen, so sind hierzu konkrete, beweiswürdigend unterlegte Feststellungen zu treffen.
Rz. 25
Schon die primäre Frage, ob sich ein einvernehmliches Vorgeschehen überhaupt noch auf das subjektive Erleben der Tat ausgewirkt hat oder aber durch den plötzlichen Einsatz von Nötigungsmitteln in den Hintergrund gedrängt worden ist, kann dabei allein anhand des Empfindens des individuell betroffenen Opfers beantwortet werden. Dies kann nicht für bestimmte Fallgruppen - zum Beispiel für Taten gegenüber Prostituierten oder für Taten innerhalb einer bestehenden Intimbeziehung - generell entschieden werden. Der Strafrahmen des § 177 Abs. 1 StGB ist auch nicht etwa auf den „Normalfall“ eines Übergriffs ohne vorherigen Kontakt zwischen Täter und Opfer ausgerichtet. Das Strafzumessungsrecht kennt keine normativen Normalfälle; über die Strafhöhe ist vielmehr stets anhand der Verhältnisse des Einzelfalls zu entscheiden (vgl. BGH, Beschluss vom 10. April 1987 - GSSt 1/86, BGHSt 34, 345).
Rz. 26
Genauso wenig schematisch zu beurteilen ist, in welche Richtung ein - im Einzelfall tatsächlich noch auf das Tatopfer fortwirkendes - Vorgeschehen die Strafzumessung beeinflusst. Die Bewertungsrichtung und das Gewicht der Strafzumessungstatsachen bestimmt in erster Linie das Tatgericht, dem hierbei von Rechts wegen ein weiter Entscheidungs- und Wertungsspielraum eröffnet ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 14. April 2022 - 5 StR 313/21, NStZ-RR 2022, 201; vom 24. Juni 2021 - 5 StR 545/20 mwN). Haben es dem Opfer etwa Elemente des Vertrauten leichter gemacht, eine erzwungene sexuelle Handlung zu ertragen, so kann dies im Einzelfall strafmildernd wirken; hat das Opfer einen in der Tat liegenden Vertrauensbruch als zusätzliche Belastung erlebt, so kann hierin ein strafschärfender Umstand zu sehen sein.
Rz. 27
Die maßgeblichen Tatfolgen nicht generalisierend, sondern anhand des vom individuellen Opfer empfundenen Leids zu bestimmen, entspricht zugleich den Vorgaben der Istanbul-Konvention. So liegt der dort enthaltenen Verpflichtung zur Pönalisierung sexueller Gewalt auch die Forderung an die Mitgliedstaaten des Europarats zugrunde, dass die in entsprechenden Fällen eingeleiteten Strafverfolgungsmaßnahmen nicht von Geschlechter-Stereotypen und Mythen zur männlichen bzw. weiblichen Sexualität beeinflusst werden dürfen (Erläuterungsbericht Ziff. 192 zu Art. 36 der Istanbul-Konvention, Council of Europe Treaty Series Nr. 210 vom 11. Mai 2011; dazu näher Steinl, ZStW 2021, 819). Auf die Ermittlung von Strafzumessungstatsachen übertragbar ist dabei zugleich das Gebot, das der Erläuterungsbericht zur Konvention für die Beurteilung eines möglichen Einverständnisses mit sexuellen Handlungen formuliert: Beweise sind kontextabhängig zu beurteilen, um für jeden Fall gesondert entscheiden zu können. Die gesamte Bandbreite von Verhaltensreaktionen auf sexuelle Gewalt und auf eine Vergewaltigung, die das Opfer zeigen kann, ist zu berücksichtigen. Eine Entscheidung darf nicht auf Vermutungen zum typischen Verhalten in einer solchen Situation begründet werden (vgl. Erläuterungsbericht aaO).
Rz. 28
In Übereinstimmung hiermit verzichtet die Istanbul-Konvention auf starre Vorgaben zu Strafschärfungsgründen. So knüpft Art. 46 lit. a der Istanbul-Konvention zwar an eine vor der Tat bestehende Beziehung zwischen Täter und Opfer an, verlangt von den Mitgliedstaaten des Europarats allerdings nur die Möglichkeit vorzusehen, eine solche strafschärfend zu berücksichtigen. Für die Tatgerichte folgt hieraus wie schon aus § 46 StGB die Pflicht, gegebenenfalls entsprechende Strafschärfungsgründe abzuwägen, ohne aber zu deren Anwendung verpflichtet zu sein (Erläuterungsbericht aaO Ziff. 235 zu Art. 46 der Istanbul-Konvention). Damit verbindet sich keine - dem deutschen Strafrecht fremde - einzelfallunabhängige Bestimmung der Bewertungsrichtung, was die Konvention auch durch die ausdrückliche Bezugnahme auf die „einschlägigen Bestimmungen des internen Rechts“ der Mitgliedstaaten und damit auf deren verschiedene Ansätze bei den Strafschärfungsgründen unterstreicht (vgl. auch hierzu Erläuterungsbericht aaO; aA LK/Hörnle, StGB, 13. Aufl., § 177 Rn. 129, vgl. zudem Rn. 218, 263: die in Art. 46 lit. a der Istanbul-Konvention genannten Tathintergründe dürften „regelmäßig“ nicht strafmildernd berücksichtigt werden; ähnlich wohl Steinl aaO).
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Gericke |
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RiBGH Prof. Dr. Mosbacher ist im Urlaub und kann nicht unterschreiben. |
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Resch |
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Werner |
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Fundstellen
Haufe-Index 15627330 |
JR 2024, 39 |
NStZ 2023, 340 |
NStZ-RR 2023, 202 |
NStZ-RR 2023, 5 |
NStZ-RR 2024, 6 |
NJW-Spezial 2023, 216 |