Verfahrensgang
LG Stade (Urteil vom 14.08.2001) |
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Stade vom 14. August 2001 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen, wobei es sich zum Kerngeschehen der Tat mangels Erinnerung des geschädigten Nebenklägers und wegen des Fehlens unmittelbarer Tatzeugen allein auf die Angaben des Angeklagten stützt und mehrfach den Zweifelssatz zu dessen Gunsten zur Anwendung bringt:
Der Angeklagte hatte sich am 7. März 2001 gegen 0.30 Uhr in erheblich angetrunkenem Zustand zusammen mit zwei Freunden in die Gaststätte „E. Treff” in S. begeben. Als ihm dort der Zeuge J. schließlich mit dem Hinweis, er habe bereits genug getrunken, den Ausschank eines weiteren Bieres verweigerte, warf der Angeklagte einen Aschenbecher nach dem Zeugen, der ihn daraufhin im Ausgangsbereich der Gaststätte in den Schwitzkasten nahm und ihm Schläge ins Gesicht versetzte. Der Angeklagte blutete stark aus der Nase, seine Lippe war aufgeplatzt. Sein Freund D. half ihm, sich von dem Zeugen J. zu lösen, und brachte ihn zu der Wohnung der Zeugin C., der Freundin des Angeklagten, wo er sich von diesem trennte. Der Angeklagte holte sich in der Küche der Wohnung ein „Tomatenmesser” und ging zu der Gaststätte zurück. Er wollte sich seine Latschen holen, die er bei der Auseinandersetzung mit dem Zeugen J. verloren hatte, und diesen zur Rede stellen. Das Messer nahm er mit, um im Falle einer weiteren Auseinandersetzung mit dem Zeugen, mit der er rechnete, einen besseren Schutz zu haben. Zwar wollte er den Zeugen nicht unbedingt mit dem Messer angreifen, er wollte jedoch sichergehen, daß ihn der körperlich überlegene Zeuge nicht wieder verletzen werde.
Die Gaststätte war zwischenzeitlich verschlossen. Jedoch wurde im Inneren weiter ein Geburtstag gefeiert. Nachdem der Angeklagte seine Latschen, die der Zeuge J. mit in die Gastwirtschaft genommen hatte, auf der Straße nicht finden konnte, klopfte er an die Tür und rief, er wolle seine Latschen wiederhaben. Die Zeugin W. – die Wirtin – öffnete und gab dem Angeklagten seine Latschen. Dieser packte die Tür und fragte in aggressivem Ton, ob der Mann noch da sei, womit er den Zeugen J. meinte, „mit dem er sich auseinandersetzen wollte”. Die Zeugin W., die neuen Streit befürchtete, verneinte und versuchte die Tür zuzuziehen, was ihr jedoch nicht gelang. Der Angeklagte zog die Tür wieder auf und äußerte nun, er wolle noch ein Bier. Als er die Zeugin W. mit der Tür fast aus der Gaststätte herausgezogen hatte, griff der Nebenkläger, der Zeuge … St., der sich bei der Geburtstagsgesellschaft befand, ein. Er ging auf den Angeklagten zu, versetzte ihm einen Stoß und unmittelbar danach zwei Faustschläge oder Ohrfeigen in das Gesicht. Der Angeklagte ging im Bereich der Tür zu Boden. Als er sich wieder aufrappelte, gab ihm der Nebenkläger erneut einen Stoß. Der Angeklagte taumelte zurück und stürzte auf dem Bürgersteig wiederum zu Boden. Der Nebenkläger folgte ihm, möglicherweise aufgrund der mit dem Stoß verbundenen Eigenbewegung oder weil ihn der Angeklagte mitzog, eventuell aber auch aufgrund seines eigenen Entschlusses, „sich weiter mit dem Angeklagten auseinander zu setzen”. Als sich der Angeklagte aufsetzte, war der Nebenkläger dicht bei ihm. Der Angeklagte befürchtete, vom Nebenkläger erneut angegriffen und verprügelt zu werden. Er zog daher das Messer aus der Kleidung und führte, ohne den Nebenkläger vorher zu warnen oder mit dem Messer zu bedrohen, zwei bogenförmige Bewegungen in Richtung auf den Nebenkläger. Hierbei brach seine latente Aggression durch. Er wollte nicht wieder unterlegen sein und sich nicht erneut, wie zuvor von dem Zeugen J., verprügeln lassen, sondern sich zur Wehr setzen. Er wollte sich auch nicht aus der Gefahrenzone wegbewegen oder dem Nebenkläger mitteilen, daß er aufgeben und gehen werde, „obwohl ihm dies möglich gewesen wäre”. Er erkannte, daß der Nebenkläger ihn nicht zusammenschlagen, „sondern lediglich vertreiben wollte”. Bei der ersten bogenförmigen Bewegung des Messers traf der Angeklagte den Nebenkläger am linken Oberschenkel. Die zweite Bewegung führte zu einer Schnitt-/Stichverletzung im Bereich des Bauches mit Durchtrennung der Bauchdecke und Eröffnung des Dünndarms, wodurch sich Darminhalt in die Bauchhöhle ergoß, was zu lebensgefährdenden Entzündungen führte.
2. Das Landgericht ist der Ansicht, die Tat des Angeklagten sei nicht durch Notwehr gerechtfertigt (§ 32 StGB). Zwar habe sich der Angeklagte im Zeitpunkt des Messereinsatzes an sich in einer Notwehrlage befunden. Denn nur die „ursprüngliche Aktion” des Nebenklägers im Bereich der Gaststättentür zur Abwehr des bevorstehenden Hausfriedensbruchs des Angeklagten sei durch ein Nothilferecht zugunsten der Gastwirtin W. gerechtfertigt gewesen; da es aber genügt habe, den Angeklagten von der Tür wegzuschieben und diese dann zu verschließen, habe der Nebenkläger durch seine weiteren Angriffe die Grenzen seines Nothilferechts überschritten und seinerseits rechtswidrig gehandelt. Jedoch habe der Angeklagte seine nunmehr bestehende Notwehrlage durch den Versuch des Hausfriedensbruchs „provoziert”, so daß seine Abwehrrechte eingeschränkt gewesen seien. Die Grenzen dieses eingeschränkten Notwehrrechts habe er bei seiner Verteidigung überschritten, seine Tat sei daher nicht gerechtfertigt. Sie sei auch nicht gemäß § 33 StGB entschuldigt. Hiergegen wendet sich die Revision im Ergebnis ohne Erfolg.
a) Es bedarf dabei keiner Entscheidung, ob die Ansicht des Landgerichts zutrifft, der Angeklagte habe sich im Zeitpunkt des Messereinsatzes in einer Notwehrsituation befunden. Hiergegen könnten Bedenken bestehen, denn die getroffenen Feststellungen lassen nicht eindeutig erkennen, ob in dem Moment, als der Nebenkläger den Angeklagten zum zweiten Mal zu Boden gestoßen hatte und erneut auf ihn eindrang, der Angriff des Angeklagten auf das Hausrecht und die Freiheit der Willensbetätigung der Gastwirtin W. bereits endgültig abgewehrt und damit ohne Befürchtung unmittelbarer Wiederholung vollständig abgeschlossen war (vgl. BGHSt 27, 336, 339; BGH NStZ 1987, 20; Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 32 Rdn. 10 m.w.N.), so daß sich das weitere Vorgehen des Nebenklägers als gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf den Angeklagten darstellte. Das Landgericht stellt nicht fest, daß der Angeklagte aufgrund des Eingreifens des Nebenklägers erkennbar seine Absicht aufgegeben hätte, eine Auseinandersetzung mit dem Zeugen J. oder den Ausschank eines weiteren Bieres zu erzwingen. Hiergegen könnte sprechen, daß er bei dem Messereinsatz immer noch durch die aggressive Stimmung beherrscht war, die aus der vorangegangenen Auseinandersetzung mit dem Zeugen J. resultierte. Doch kann dies dahinstehen, weil dem Landgericht im Ergebnis jedenfalls darin beizupflichten ist, daß der Angeklagte gegenüber einem rechtswidrigen Angriff des Nebenklägers in seinen Verteidigungsrechten eingeschränkt war, weil er die Notwehrlage durch sein vorangegangenes Verhalten selbst schuldhaft herbeigeführt hatte (vgl. allg. BGHSt 24, 356; 26, 256; 39, 374; 42, 97); durch den Messereinsatz überschritt er die Grenzen dieses eingeschränkten Notwehrrechts; er handelte daher seinerseits rechtswidrig.
b) Allein aus dem Umstand, daß der Angegriffene seine Lage (mit-) verschuldet hat, läßt sich allerdings keine allgemeine Aussage ableiten, in welchem Maße er sich im Vergleich zu einem schuldlos in eine Notwehrsituation Geratenen bei der Abwehr des Angriffs zurückzuhalten hat. Dies hängt vielmehr von den Umständen des konkreten Einzelfalles ab. Je schwerer einerseits die rechtswidrige und vorwerfbare Verursachung der Notwehrlage durch den Angegriffenen wiegt, um so mehr Zurückhaltung ist ihm bei der Abwehr zuzumuten; andererseits sind die Beschränkungen des Notwehrrechts um so geringer, je schwerer das durch den Angriff drohende Übel einzustufen ist (BGHSt 39, 374, 379; 42, 97, 101; Lenckner/Perron in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 32 Rdn. 60).
Im Rahmen dieser Abwägung ist dem Angeklagten hier sein Angriff auf das Hausrecht und die Freiheit der Willensbetätigung der Gastwirtin W. anzulasten, weil er versuchte, widerrechtlich in die Gaststätte einzudringen und dabei die Wirtin gewaltsam am Schließen der Türe hinderte, um die beabsichtigte Auseinandersetzung mit dem Zeugen J. bzw. den Ausschank eines weiteren Bieres, der ihm wegen seiner Alkoholisierung schon bei seinem ersten Aufenthalt in der Gaststätte verweigert worden war, zu erzwingen. Demgegenüber ist nach den insoweit nicht ganz eindeutigen Feststellungen des Landgerichts zugunsten des Angeklagten davon auszugehen, daß ihm jedenfalls weitere Schläge des Nebenklägers drohten. Lebensgefährdende oder seine Gesundheit nachhaltig schädigende Verletzungshandlungen des Nebenklägers standen jedoch ersichtlich nicht zu erwarten.
Die Abwägung zwischen der dem Angeklagten durch den Angriff des Nebenklägers danach drohenden weiteren Verletzung seiner körperlichen Integrität und dem Maß seines Verschuldens an der Entstehung seiner Notwehrlage ergibt für die Einschränkung seiner Notwehrbefugnisse folgendes:
Der Angeklagte mußte zunächst versuchen, dem Angriff des Nebenklägers auszuweichen (BGHSt 24, 356, 358; 42, 97, 100). Konnte er dem Angriff dadurch nicht entgehen, war er zwar nicht verpflichtet, auf den Einsatz des Messers als Abwehrmittel unter allen Umständen zu verzichten (vgl. BGHSt 24, 356, 358 f.). Denn allein aufgrund dessen, daß er rechtswidrig und schuldhaft die Ursache für seine Notwehrlage gesetzt hatte, war ihm sein Notwehrrecht nicht vollständig genommen. Vielmehr war dieses Recht lediglich Beschränkungen unterworfen, die ihrerseits nicht unbegrenzt andauerten (BGHSt 39, 374, 379 m.w.N.). Auch war sein vorhergegangener Angriff auf die Rechtsgüter der Gastwirtin W. nicht so gewichtig, daß er allein deshalb unabhängig von der weiteren Entwicklung der „Kampflage” unter allen Umständen die weitere Auseinandersetzung mit dem Nebenkläger nur mit bloßen Händen hätte führen dürfen (vgl. BGHSt 24, 356, 359; 39, 374, 379; 42, 97, 100). Jedoch war er vor und bei dem Einsatz des Messers zu besonderer Zurückhaltung verpflichtet. Er hatte daher den Messereinsatz zunächst anzudrohen, um dem Nebenkläger das erhöhte Risiko eines weiteren Angriffs aufzuzeigen, und zwar auch dann, wenn er durch dieses Androhen Zeit für eine effektivere Verteidigung verlor und daher Gefahr lief, zunächst weitere Schläge des Nebenklägers hinnehmen zu müssen. Erst wenn auch dies erfolglos blieb, durfte er das Messer einsetzen, wenn auch nicht sofort in lebensgefährdender Weise, sondern zunächst nur zur Schutzwehr. Nur wenn der Nebenkläger auch hierdurch nicht von weiteren Angriffen abzuhalten war, durfte der Angeklagte zur Trutzwehr übergehen.
Nach diesen Maßstäben war das Verteidigungsverhalten des Angeklagten nicht durch Notwehr gerechtfertigt. Der Angeklagte hat schon nicht den gebotenen Versuch unternommen, sich dem Angriff des Nebenklägers durch tatsächliches Ausweichen oder den mündlichen Hinweis, er werde jetzt Ruhe geben, zu entziehen. Dabei kann dahinstehen, ob die Überzeugung des Landgerichts, der Nebenkläger hätte sich hierdurch tatsächlich von einem weiteren Vorgehen gegen den Angeklagten abhalten lassen, eine tragfähige tatsächliche Grundlage im Beweisergebnis findet. Hierauf kommt es nicht an, da der Angeklagte aufgrund seines Verschuldens der Notwehrsituation auch dann versuchen mußte, sich dem Angriff des Nebenklägers durch Ausweichen zu entziehen, wenn der Erfolg dieses Versuchs zweifelhaft war und daher die Gefahr bestand, zunächst weitere Schläge des Nebenklägers hinnehmen zu müssen. Gleiches gilt bezüglich der gebotenen Warnung vor dem Messereinsatz. Auch insoweit ist nicht entscheidend, ob ein mündlicher Hinweis auf das Messer oder eine schlüssige Warnung vor dessen Einsatz vor den drohenden weiteren Schlägen noch so rechtzeitig möglich gewesen wäre, daß auch im Falle eines Mißerfolgs der Warnung noch ein effektiver Messereinsatz zur Schutzwehr gewährleistet war. Vielmehr mußte der Angeklagte das Risiko eingehen, daß seine Warnung nichts fruchtete und er in der konkreten Kampflage wegen der durch die Warnung eingetretenen Verzögerung einer wirksameren Verteidigung zunächst weitere Mißhandlungen erleiden werde; denn schwere oder gar lebensgefährdende Verletzungen drohten ihm unmittelbar nicht. Schon danach kommt eine Rechtfertigung des Messereinsatzes nach § 32 StGB nicht in Betracht, so daß es keiner Erörterung mehr bedarf, ob der Angeklagte bei diesem Einsatz mit der gebotenen Zurückhaltung vorgegangen ist.
3. Soweit die Revision darüber hinaus rügt, daß das Landgericht die Voraussetzungen des § 33 StGB verkannt habe, und sich außerdem gegen die Strafrahmenwahl wendet, ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Unterschriften
Tolksdorf, Rissing-van Saan, Winkler, von Lienen, Becker
Fundstellen
Haufe-Index 2559860 |
NStZ 2002, 425 |
JA 2003, 8 |
NStZ-RR 2002, 205 |