Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherung. Allgemeine Unfallversicherungsbedingungen. Invaliditätsleistungen. Unfallbedingte Invalidität. Ausschlussklausel. Fristenregelung. Klärung der Einstandspflicht. Ärztlich festgestellte Invalidität. Invaliditätsbescheinigung. Unfallbedingter konkreter Dauerschaden. Eintritt der Invalidität binnen eines Jahres nach dem Unfall. Ärztliche Feststellung innerhalb von 15 Monaten
Leitsatz (amtlich)
Zu den Anforderungen an eine ärztliche Feststellung als Voraussetzung für den Anspruch auf Invaliditätsleistung nach § 7 I (1) AUB 95.
Normenkette
AUB 95 § 7 I (1)
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten und unter Zurückweisung der Anschlussrevision des Klägers wird das Urteil des 12. Zivilsenats des OLG Karlsruhe vom 2.5.2006 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als es zum Nachteil der Beklagten ergangen ist.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des LG Baden-Baden vom 2.4.2004 wird insgesamt zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Von Rechts wegen
Tatbestand
[1] Der Kläger unterhält bei der Beklagten eine Unfallversicherung, der u.a. die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB 95) zugrunde liegen.
[2] Am 7.4.1997 war er Fahrgast in einem Taxi, dessen Fahrerin einen Verkehrsunfall verschuldete. Der Kläger zog sich neben verschiedenen Prellungen und Schürfungen eine Hüftpfannenfraktur links zu, die den stationären Aufenthalt in einem Krankenhaus bis zum 16.4.1997 erforderte. Nach seiner Darstellung leidet der Kläger seit dem Unfall unter Schmerzattacken, Kopfschmerzen, Schwindel und Konzentrationsstörungen; zudem habe sich eine Depression entwickelt, die Folge der organischen Verletzung sei. Wegen des Hüftschadens und einer darauf beruhenden Invalidität von 10 % zahlte die Beklagte an den Kläger 33.000 DM (16.872,63 EUR). Weitere Versicherungsleistungen lehnte sie unter Hinweis auf § 2 Abs. 4 AUB 95 ab, der "krankhafte Störungen infolge psychischer Reaktionen" vom Versicherungsschutz ausnehme, gleichgültig wodurch diese verursacht seien.
[3] Das LG hat die Klage auf Zahlung einer Invaliditätsentschädigung in Höhe weiterer 1.467.000 DM (750.065,19 EUR), einer Invaliditätsrente von 1.500 DM (766,94 EUR) monatlich für die Zeit von April 1997 bis Februar 2000 und auf Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung einer monatlichen Rente in gleicher Höhe ab März 2000 - jeweils nebst Zinsen - abgewiesen. Das OLG hat dem Kläger die Invaliditätsrente im begehrten Umfang und eine Invaliditätsentschädigung in Höhe weiterer 236.216,84 EUR zzgl. Zinsen zuerkannt, wobei es von einem Invaliditätsgrad i.H.v. 50 % ausgegangen ist. Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision. Der Kläger hat sich dem Rechtsmittel angeschlossen und erstrebt eine Verurteilung der Beklagten zur Zahlung einer Invaliditätsentschädigung in voller Höhe.
Entscheidungsgründe
[4] Die Revision der Beklagten hat Erfolg, während die Anschlussrevision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen war.
[5] I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Die beim Kläger aufgetretene Depression und seine damit zusammenhängenden Beschwerden seien von § 2 IV AUB 95 nicht erfasst. Die Ausschlussklausel beziehe sich nicht auf psychische Störungen, welche sich durch eine unfallbedingte organische Beeinträchtigung erklären ließen, auch wenn im Einzelfall das Ausmaß, in dem sich die organische Ursache auswirke, von der psychischen Verarbeitung durch den Versicherten abhänge. Stehe - wie hier - eine unfallbedingte Invalidität fest, müsse der Versicherer für die geltend gemachte Leistungsfreiheit beweisen, dass und in welchem Umfang äußere Einwirkungen auf die Psyche oder eine psychische Fehlverarbeitung den krankhaften Zustand hervorgerufen hätten. Nach den überzeugenden und nachvollziehbaren Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass die - als solche unstreitige - Depression auf der körperlichen Primärverletzung und deren Folgen, insb. der damit verbundenen zeitweiligen Immobilität, beruhe, ohne dass sich insoweit eine psychische Fehlverarbeitung feststellen lasse.
[6] Auch die Voraussetzungen des § 7 I (1) AUB 95 für die begehrten Invaliditätsleistungen seien gegeben. Die Invalidität, die sich aus der Depression entwickelt habe, sei binnen Jahresfrist eingetreten. Das Vorliegen einer Dauerfolge sei vom Versicherungsnehmer dann nachgewiesen, wenn der sich nach einem Jahr ergebende unfallbedingte Zustand nach Ablauf von drei Jahren - unbeschadet gradueller Unterschiede - noch immer vorhanden sei und sich sein Ende nicht absehen lasse. Die dazu vernommenen Zeugen hätten übereinstimmend geschildert, dass sie zeitnah zum Unfallereignis vom 7.4.1997 eine Wesensveränderung und eine deutlich eingeschränkte Leistungsfähigkeit beim Kläger beobachtet hätten. Der den Kläger behandelnde Arzt für Neurologie und Psychiatrie, der Zeuge D., habe bereits am 26.6.1998 die Diagnose einer depressiven Störung gestellt. Der Arzt Dr. I. sei davon ausgegangen, dass dieser Zustand auf nicht absehbare Zeit (mindestens über drei Jahre) andauern werde. Diese ärztliche Prognose habe sich als zutreffend herausgestellt; aufgrund der eingetretenen Chronifizierung habe sich der Zustand des Klägers während der maßgeblichen Dreijahresfrist sogar noch verschlechtert.
[7] Die Invalidität sei binnen 15 Monaten nach dem Unfall ärztlich festgestellt und - unstreitig - innerhalb dieser Frist beim Versicherer geltend gemacht worden. Die Invaliditätsbescheinigung des Zeugen Dr. I. vom 26.6.1998 nenne als die Invalidität verursachende Funktionsstörungen ständige Cephalgie, Gedächtnisreduzierung sowie Schmerzen in der linken Hüfte und der Lendenwirbelsäule. Zwar werde eine Depression in der Invaliditätsbescheinigung nicht ausdrücklich aufgeführt. Die Feststellungswirkungen der ärztlichen Bescheinigung seien indes nicht eng auszulegen, da sie lediglich den vom Arzt benannten Verletzungsbereich beschränkten. Bei den in der ärztlichen Bescheinigung beschriebenen Funktionsstörungen und der später diagnostizierten Depression handele es sich zweifelsfrei um denselben Defekt, zumal Cephalgie und Gedächtnisreduzierung oftmals im Zusammenhang mit einer Depression aufträten.
[8] Allerdings sei aufgrund des Gutachtens des ärztlichen Sachverständigen eine Gesamtinvalidität von lediglich 50 % anzunehmen. Das ergebe unter Berücksichtigung der vereinbarten progressiven Invaliditätsstaffel, eines Treuebonus und unter Abzug der bereits erhaltenen Versicherungsleistung eine neben der Unfallrente zu zahlende Invaliditätsentschädigung von 236.216,84 EUR.
[9] II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob das Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrunde legen durfte, dass binnen Jahresfrist eine über den Hüftgelenkschaden hinausgehende unfallbedingte Invalidität eingetreten ist. Es fehlt jedenfalls an der Anspruchsvoraussetzung (BGH v. 19.11.1997 - IV ZR 348/96, BGHZ 137, 174, 176 = MDR 1998, 284) einer innerhalb weiterer drei Monate ärztlich festgestellten Invalidität.
[10] 1. Nach § 7 I (1) Abs. 2 AUB 95 genügt das Vorliegen einer durch den Unfall verursachten dauernden Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit, wie hier vom Kläger für die Depression als unfallbedingter Dauerschaden geltend gemacht, für sich allein nicht. Es bedarf für den Anspruch auf Invaliditätsleistung zusätzlich der Beachtung bestimmter Fristen. So muss die Invalidität binnen eines Jahres nach dem Unfall eingetreten und innerhalb von 15 Monaten ärztlich festgestellt worden sein. Das dient dem berechtigten Interesse des Versicherers an der baldigen Klärung seiner Einstandspflicht und führt selbst dann zum Ausschluss von Spätschäden, wenn den Versicherungsnehmer an der Nichteinhaltung der Frist kein Verschulden trifft. Auch eine Leistungsablehnung des Versicherers ändert nichts daran, dass der Anspruch des Versicherungsnehmers nicht entsteht, wenn die Invalidität nicht fristgerecht ärztlich festgestellt worden ist (vgl. BGH, Urt. v. 27.2.2002 - IV ZR 238/00, BGHReport 2002, 492 = MDR 2002, 878 = VersR 2002, 472 unter 1c a.E.; Beschl. v. 23.10.2002 - IV ZR 154/02, VersR 2002, 1578 unter 3). Allerdings sind an die Feststellung der Invalidität keine hohen Anforderungen zu stellen. So muss sie sich nicht abschließend zu einem bestimmten Invaliditätsgrad äußern. Die Feststellung der Unfallbedingtheit eines bestimmten Dauerschadens braucht noch nicht einmal richtig zu sein und dem Versicherer auch nicht innerhalb der Frist zuzugehen, sofern sie nur fristgerecht getroffen worden ist (vgl. BGH, Urt. v. 16.12.1987 - IVa ZR 195/86, MDR 1988, 387 = VersR 1988, 286 unter 2b; BGHZ a.a.O. S. 177). In dieser Auslegung hält die Fristenregelung einer sachlichen Inhaltskontrolle stand (§ 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BGB; BGHZ a.a.O. S. 175 ff.). Sie wird überdies dem Maßstab des Transparenzgebotes gerecht (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB; BGH v. 23.2.2005 - IV ZR 273/03, BGHZ 162, 210, 214 ff. = MDR 2005, 991 = BGHReport 2005, 773 m. Anm. Langheid).
[11] 2. Aus der Invaliditätsfeststellung müssen sich aber die ärztlicherseits dafür angenommene Ursache und die Art ihrer Auswirkungen ergeben. Denn die Invaliditätsbescheinigung soll dem Versicherer Gelegenheit geben, dem geltend gemachten Versicherungsfall nachzugehen und seine Leistungspflicht auf Grundlage der ärztlichen Feststellung zu prüfen. Zugleich soll sie eine Ausgrenzung von Spätschäden ermöglichen, die in der Regel nur schwer abklärbar und überschaubar sind und die der Versicherer deshalb von der Deckung ausnehmen will (Senatsurteil vom 16.12.1987a.a.O.). Deshalb können nur die in der ärztlichen Invaliditätsfeststellung beschriebenen unfallbedingten Dauerschäden Grundlage des Anspruchs auf Invaliditätsentschädigung sein.
[12] Daraus folgt: Erforderlich ist die Angabe eines konkreten, die Arbeitsfähigkeit des Versicherten beeinflussenden Dauerschadens (BGH v. 5.7.1995 - IV ZR 43/94, BGHZ 130, 171, 178 = MDR 1996, 51). Allein das wird den berechtigten Interessen des Versicherers gerecht, die dieser an der zeitnahen Klärung seiner Leistungspflicht hat. Nur einem Dauerschaden, zu dessen Ursache und Auswirkungen sich die Bescheinigung bereits verhält, kann der Versicherer nachgehen. Führt die ärztliche Bescheinigung hingegen einen Dauerschaden, auf den sich der Versicherungsnehmer später für seinen Anspruch auf Invaliditätsleistung beruft, noch gar nicht auf, kann der mit der Regelung in § 7 I (1) Abs. 2 AUB 95 verfolgte Zweck nicht erreicht werden. Der Versicherer hat für diesen Fall keinen Anlass, den Sachverhalt weiter abzuklären, weil ihm der Dauerschaden, den der Versicherungsnehmer später geltend macht, durch die ärztliche Feststellung nicht bekannt wird. Umgekehrt kann der Versicherungsnehmer nicht davon ausgehen, dass eine ärztliche Bescheinigung, die (nur) einen bestimmten Dauerschaden benennt, ihn davon enthebt, einen weiteren, dort nicht aufgeführten Dauerschaden, der nach seiner Auffassung zusätzlich vorliegt, ärztlich feststellen zu lassen.
[13] Dem Senatsurteil vom 16.12.1987 (a.a.O.) ist Entgegenstehendes nicht zu entnehmen. Die Entscheidung befasst sich lediglich mit der Frage, ob die auf einen konkreten Dauerschaden bezogene ärztliche Feststellung der Unfallbedingtheit richtig sein muss, um den Anforderungen des § 7 I (1) Abs. 2 AUB 95 zu genügen. Aus ihr folgt nicht, dass die betreffende Anspruchsvoraussetzung auch gewahrt ist, wenn die ärztliche Feststellung unvollständig ist, weil sie einen (weiteren) Dauerschaden nicht benennt, oder ihr deshalb die inhaltliche "Richtigkeit" fehlt, weil an die Stelle des dort angeführten Dauerschadens später ein anderer Dauerschaden tritt, der von dem feststellenden Arzt als solcher nicht erkannt worden ist.
[14] 3. Diesen Anforderungen genügen die beiden ärztlichen Stellungnahmen vom 26.6.1998 nicht. Sie enthalten keine auf eine Depression als Dauerschaden bezogene und auf objektiven Befunden beruhende ärztliche Prognose, dass als Unfallfolge eine dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit gegeben ist. Die Stellungnahme des Zeugen D. beschränkt sich auf die Darstellung der von ihm erhobenen psychischen Befunde und die Diagnose einer depressiven Störung. Sie beschreibt aber keinen Dauerschaden und zieht nicht den wertenden und für die ärztliche Feststellung zwingend erforderlichen Schluss auf Invalidität. Die Invaliditätsbescheinigung des Zeugen Dr. I. besagt nichts über eine Depression als unfallbedingten Dauerschaden. Dem Kläger werden lediglich eine Cephalgie (Kopfschmerz) und Gedächtnisreduzierung bescheinigt, was entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts mit einer Depression nicht gleichzusetzen ist und auch keinen Rückschluss auf das Vorliegen eines solchen Dauerschadens zulässt.
[15] Die Depression als Invalidität begründender Dauerschaden ist somit nicht ärztlich festgestellt. Die Bescheinigungen haben der Beklagten als Versicherer keinen Anlass gegeben, über die körperlichen Unfallfolgen hinaus eine Beeinträchtigung auch der geistigen Leistungsfähigkeit abzuklären. Sie sind daher zur Ausgrenzung von - dem Versicherungsschutz nicht unterfallenden - Spätschäden nicht geeignet.
[16] Schon daran scheitert der Anspruch des Klägers auf die begehrten Versicherungsleistungen; auf weiteres kommt es nicht an.
Fundstellen