Leitsatz (amtlich)
Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil, das den (zulässigen) Einspruch des Schuldners gegen einen Vollstreckungsbefehl verwirft, kann auf die verfahrensrechtliche Unzulässigkeit des Vollstreckungsbefehls gestützt werden, wenn der Rechtspfleger ihn trotz rechtzeitigen Widerspruchs erlassen hatte.
Normenkette
ZPO §§ 345, 513, 700
Verfahrensgang
OLG Köln (Urteil vom 16.12.1976) |
LG Köln (Urteil vom 01.04.1976) |
Tenor
Auf die Rechtsmittel der Beklagten werden das zweite Versäumnisurteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 1. April 1976 und das Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 16. Dezember 1976, soweit es die Berufung als unzulässig verworfen hat, aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungs- und Revisionsrechtszuges, an das Landgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin hat bei dem Amtsgericht einen Zahlungsbefehl gegen die Beklagte und deren früheren Ehemann auf gesamtschuldnerische Rückzahlung eines Darlehensteilbetrages von 7.000 DM (nebst Zinsen und Kosten) erwirkt. Die Beklagte hat gegen den ihr am 3. Dezember 1975 zugestellten Zahlungsbefehl am 5. Dezember 1975 Widerspruch eingelegt. Nachdem am 10. Dezember 1975 Vollstreckungsbefehl gegen die Beklagte ergangen war, hat das Amtsgericht Termin zur Verhandlung über Einspruch und Hauptsache bestimmt. Auf Antrag der Beklagten hat das Amtsgericht den Rechtsstreit an das Landgericht verwiesen. Zu dem dort auf den 1. April 1976 bestimmten Verhandlungstermin hat das Landgericht die Beklagte zu Händen ihres Prozeßbevollmächtigten unter Hinweis auf den Zahlungsbefehl geladen. In diesem Termin ist für die Beklagte niemand erschienen. Das Landgericht hat auf Antrag der Klägerin den Einspruch durch zweites Versäumnisurteil verworfen.
Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten, soweit sie das Rechtsmittel auf eine Terminsversäumung wegen Büroversehens gestützt hatte, als unbegründet zurückgewiesen und sie im übrigen als unzulässig verworfen.
Mit der Revision begehrt die Beklagte Aufhebung des Berufungsurteils, soweit das Oberlandesgericht die Berufung als unzulässig verworfen hat, sowie Aufhebung des Versäumnisurteils des Landgerichts mit dem Ziel der Klageabweisung.
Entscheidungsgründe
Die Revision richtet sich gegen das Berufungsurteil, soweit das Oberlandesgericht die Berufung als unzulässig verworfen hat. Die Revision ist daher nach § 547 ZPO zulässig. Sie ist nach dieser Vorschrift zulassungsfrei. Ihre Zulässigkeit hängt nicht von dem Wert der Beschwer ab.
I.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist die Berufung zulässig.
Das Landgericht hat ein zweites Versäumnisurteil im Sinne des § 345 ZPO erlassen, obwohl ein Fall der Versäumung nicht vorlag, der den Erlaß dieses Urteils gerechtfertigt hätte.
1. Gegen ein zweites Versäumnisurteil im Sinne des § 345 ZPO, das das Verfahren des Rechtszuges abschließt, findet ein „weiterer Einspruch” nicht statt (§ 345 ZPO). Das Gesetz eröffnet der beschwerten Partei jedoch unter bestimmten Voraussetzungen das Rechtsmittel der Berufung (§ 513 Abs. 2 ZPO). Dieses Rechtsmittel steht der Beklagten als der beschwerten Partei nach der vom Landgericht gewählten Fassung der Entscheidung zu. Gegen eine gerichtliche Entscheidung ist (jedenfalls auch) das Rechtsmittel statthaft, das nach der Verfahrensordnung der Art der tatsächlich gefällten Entscheidung entspricht (vgl. BGHZ 40, 265, 267 und den zur Veröffentlichung bestimmten Beschluß des IV. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 4. Oktober 1978 – IV ZB 84/77 – m.w.Nachw.). Dem steht nicht entgegen, daß der beschwerten Partei der Rechtsbehelf des Einspruchs zustehen kann, wenn die vom Landgericht als zweites Versäumnisurteil bezeichnete Entscheidung als gewöhnliches Versäumnisurteil hätte ergehen müssen. Zum Schutz der betroffenen Partei gilt bei der Anfechtung verfahrenswidriger (unkorrekter) Entscheidungen der Grundsatz der sog. Meistbegünstigung des Rechtsmittelführers. Eine Partei darf durch ein unrichtiges Verfahren des Gerichts keinen Nachteil in ihren prozessualen Rechten erleiden (vgl. RGZ 110, 135, 138 und den o.a.Beschluß des IV. Zivilsenats). Bei verfahrensfehlerhaften (unkorrekten) Entscheidungen steht der beschwerten Partei der Rechtsbehelf zu, der gegen die verfahrensrechtlich gebotene, vom Richter aber nicht gewählte Entscheidung zulässig gewesen wäre, und der Rechtsbehelf, der der vom Richter gewählten Form der Entscheidung entspricht. Eine unzumutbare Erschwerung des Zugangs zur Rechtsmittelinstanz stellte es dar, wenn das Rechtsmittel, zu dessen Einlegung ein Verfahrensfehler des Gerichts die betroffene Partei veranlaßt hat, deshalb unzulässig wäre, weil die Partei nicht die gesetzlichen Vorschriften beachtet hat, die für den Rechtsbehelf gegen eine verfahrensgerechte (verfahrensrechtlich korrekte) Entscheidung gelten.
2. Die in § 513 Abs. 2 ZPO bestimmte Beschränkung der Berufungsmöglichkeit schließt die Zulässigkeit der Berufung in der zur Entscheidung stehenden Sache nicht aus. Danach kann die Berufung gegen ein Versäumnisurteil, gegen das der Einspruch an sich nicht stattfindet, also die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil im Sinne des § 345 ZPO, nur darauf gestützt werden, daß der Fall der Versäumung nicht vorgelegen habe.
a) Der zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts hat zwar entschieden, daß nach Wortlaut und Zweck der §§ 513 Abs. 2, 345 ZPO nur eine Kontrolle des Verfahrens beim Erlaß des angefochtenen zweiten Versäumnisurteils möglich sei; eine fehlende Säumnis im Verhandlungstermin vor Erlaß des ersten Versäumnisurteils könne deshalb das Rechtsmittel der Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil bei Säumnis im Einspruchstermin nach § 513 Abs. 2 ZPO nicht rechtfertigen (AP ZPO § 513 Nr. 6; ebenso LAG Nürnberg NJW 1976, 2231; Breetzke JZ 1952, 268; J. Lehmann JZ 1958, 691; Blunck NJW 1971, 2040; Rosenberg/Schwab ZPR 12. Aufl. § 136 I 1 Fn. 3; Grunsky in Stein/Jonas ZPO 20. Aufl. § 513 Rdn. 11; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann ZPO 35. Aufl. § 513 Anm. 2; Thomas/Putzo ZPO 10. Aufl. § 513 Anm. 2 c; a.A. Neumann/Duesberg JZ 1951, 140; Burckhardt JZ 1958, 471; Vollkommer Anm. AP ZPO § 513 Nr. 6; vgl. ferner OLG Stuttgart MDR 1976, 51; Erlanger LZ 1931, 492; Stoll DJZ 1934, 307 Nr. 2). Dieser Fall liegt aber nicht vor.
b) In der zur Entscheidung stehenden Sache ist dem zweiten Versäumnisurteil des Landgerichts ein verfahrenswidriger (verfahrensrechtlich unkorrekter) Vollstreckungsbefehl vorausgegangen. Der Rechtspfleger hatte ihn erlassen, obwohl die Beklagte schon Widerspruch eingelegt hatte, nachdem ihr der Zahlungsbefehl zwei Tage vor ihrem Widerspruch zugestellt worden war.
In einem solchen Falle kann der Einspruch gegen den Vollstreckungsbefehl nicht durch ein instanzabschließendes zweites Versäumnisurteil im Sinne des § 345 ZPO verworfen werden.
Vor Erlaß eines gewöhnlichen (ersten) Versäumnisurteils hat der Richter zu prüfen, ob alle verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für den Erlaß dieser Entscheidung vorliegen. Diese Prüfung erstreckt sich auch auf die Frage, ob die Partei, gegen die das Versäumnisurteil beantragt ist, säumig war, insbesondere ob sie ordnungsgemäß geladen war (§ 335 Abs. 1 Nr. 2 ZPO). Die richterliche Prüfung der Säumnis und aller sonstigen Voraussetzungen für den Erlaß eines Versäumnisurteils mag es auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten unbedenklich erscheinen lassen, der betroffenen Partei einen Rechtsbehelf gegen ein zweites Versäumnisurteil zu versagen, wenn dieser Rechtsbehelf das Ziel haben soll, die verfahrensrechtliche Zulässigkeit des ersten Versäumnisurteils zu überprüfen.
Etwas anderes gilt jedoch für die Verwerfung des Einspruchs gegen einen Vollstreckungsbefehl, den der Rechtspfleger trotz rechtzeitigen Widerspruchs des Schuldners erlassen hatte.
Das Mahnverfahren schließt weder eine Säumnisprüfung noch eine Schlüssigkeitsprüfung durch den Richter ein. Wenn bei Säumnis des Schuldners im ersten Verhandlungstermin die erstmals mögliche richterliche Prüfung dieser Voraussetzungen des Vollstreckungsbefehls unterbleiben müßte, wäre für den Schuldner ein effektiver Rechtsschutz nicht mehr gewährleistet. Rechtsstaatliche Grundsätze gebieten es aber, den Erstzugang zu einer richterlichen Überprüfung des Vollstreckungsbefehls und damit zu einer Sachprüfung des Vorbringens des Schuldners nicht übermäßig zu erschweren (vgl. auch BVerfGE 37, 100, 102; 37, 132, 148; 38, 35, 38; 40, 272, 274 f; 41, 23, 26 m.w.Nachw.; den o.a.Beschluß des IV. Zivilsenats; zur verfassungsrechtlichen Problematik ferner Löwe ZZP 83, 266, und Vollkommer a.a.O.).
c) Eine diesem rechtsstaatlichen Anliegen entsprechende Auslegung der gesetzlichen Vorschriften (§§ 345, 513, 700 ZPO) ist möglich und geboten.
Verfahrensvorschriften sind in Zweifelsfällen – wenn irgend vertretbar – so auszulegen, daß sie eine Entscheidung über die materielle Rechtslage ermöglichen und nicht verhindern (BFH – GS-NJW 1974, 1582, 1583 und BSG – GS – NJW 1975, 1380, 1383). Unter Berücksichtigung dieses verfahrensrechtlichen Grundsatzes und des Anspruchs auf einen wirksamen Rechtsschutz muß ein Vollstreckungsbefehl auf den zulässigen Einspruch des Schuldners auf seine verfahrensrechtliche Zulässigkeit richterlich überprüft werden können, wenn die beklagte Partei (der Schuldner) erstmals in dem zur Verhandlung über den Einspruch und über die Hauptsache bestimmten Termin säumig ist. Nur so kann die einschneidende, sonst erst nach richterlicher Prüfung der Voraussetzungen eines ersten Versäumnisurteils eintretende Rechtsfolge eines zweiten Versäumnisurteils vermieden werden, die, von der Berufungsmöglichkeit nach § 513 Abs. 2 ZPO abgesehen, einen endgültigen Rechtsverlust bedeutete.
Der Wortlaut der gesetzlichen Vorschriften (§§ 345, 513, 700 ZPO) schließt nicht aus, daß als Voraussetzung eines zweiten Versäumnisurteils, das auf Verwerfung des Einspruchs gegen einen Vollstreckungsbefehl lautet, geprüft werden kann, ob dieser verfahrensrechtlich zulässig war. Der Gesetzgeber hat durch die hier noch nicht maßgebliche, am 1. Juli 1977 in Kraft getretene Neufassung des § 700 ZPO (Gesetz vom 3. Dezember 1976 – BGBl I S. 3281 – Vereinfachungsnovelle) klargestellt, daß der Verwerfung des Einspruchs gegen einen Vollstreckungsbescheid eine richterliche Schlüssigkeitsprüfung vorausgehen muß; soweit das Vorbringen des Klägers (Gläubigers) das Klagebegehren nicht rechtfertigt, ist der Vollstreckungsbescheid aufzuheben (§ 700 Abs. 3 Satz 3 ZPO; vgl. BAG 23, 92, 96 ff = AP ZPO § 345 Nr. 3). Damit steht aber in Einklang, daß die verfahrensrechtliche Zulässigkeit eines Vollstreckungsbefehls eine Voraussetzung für die Verwerfung des gegen ihn eingelegten zulässigen Einspruchs durch zweites Versäumnisurteil bildet und daß insbesondere der zulässige Einspruch gegen einen Vollstreckungsbefehl trotz rechtzeitigen Widerspruchs schon gegen den Zahlungsbefehl nicht bei Säumnis des Schuldners im ersten Verhandlungstermin durch zweites Versäumnisurteil verworfen werden darf.
Diese Auslegung ist auch nach den Gesetzgebungsmaterialien mit Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung vereinbar. Der Ausschluß eines wiederholten Einspruchs bei aufeinanderfolgender richterlich festgestellter Säumnis soll einer Prozeßverschleppung entgegenwirken (vgl. BAG 25, 475, 478, 479 = AP ZPO § 345 Nr. 4; Hahn, Materialien zur ZPO II 1, S. 298, 350 f; 359, 708 f; ferner Vollkommer a.a.O.; Orlich NJW 1973, 1849). Der Gedanke, eine Prozeßverschleppung zu verhüten, tritt zurück, wenn der Schuldner rechtzeitig gegen den Zahlungsbefehl Widerspruch erhoben und im anschließenden Streitverfahren erstmals in einem Verhandlungstermin säumig ist.
Die Berufung gegen die als zweites Versäumnisurteil bezeichnete Entscheidung des Landgerichts kann auch darauf gestützt werden, wegen der verfahrensrechtlichen Unzulässigkeit des vorangehenden Vollstreckungsbefehls habe ein den Erlaß eines zweiten Versäumnisurteils rechtfertigender Fall der Versäumung nicht vorgelegen. Diese Berufungsmöglichkeit entspricht der rechtsstaatlich gebotenen Auslegung der Vorschriften über die Verwerfung des Einspruchs gegen einen trotz rechtzeitigen Widerspruchs erlassenen und daher verfahrensrechtlich unzulässigen Vollstreckungsbefehl. Sie wird ebenso dem Zweck des § 513 Abs. 2 ZPO gerecht, nur noch eine Kontrolle des Verfahrens beim Erlaß des zweiten, auf Verwerfung des Einspruchs lautenden Versäumnisurteils zu ermöglichen. Jedenfalls muß eine Beschränkung der Berufungsmöglichkeit auf den Fall, daß eine Säumnis im Einspruchstermin nicht vorgelegen habe, hier außer Betracht bleiben, weil sonst der Schuldner um die gebotene richterliche Überprüfung des Vollstreckungsbefehls gebracht würde. Der Fall, daß das Prozeßgericht den zulässigen Einspruch gegen einen trotz rechtzeitigen Widerspruchs erlassenen Vollstreckungsbefehl bei der erstmaligen Säumnis des Schuldners in einem Verhandlungstermin nach § 345 ZPO verwirft, kann dem vom 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts entschiedenen Fall nicht gleichgestellt werden; denn dort hatte der Richter das erste Versäumnisurteil erlassen. Daher ist auch eine Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes nicht geboten.
II.
Revision und Berufung sind auch begründet.
Im Verhandlungstermin vor dem Landgericht, an den das Amtsgericht den Rechtsstreit auf Antrag der Beklagten verwiesen hatte, war diese, wenn überhaupt, erstmals im Prozeß säumig. Im vorangehenden Mahnverfahren hatte sie, wie schon ausgeführt, rechtzeitig Widerspruch erhoben.
Der Senat hat im Rahmen der Nachprüfung des Berufungsurteils in den Grenzen des § 547 ZPO nicht darüber zu befinden, ob die Beklagte überhaupt ordnungsgemäß zur Verhandlung über den Einspruch gegen den Vollstreckungsbefehl geladen und damit im Verhandlungstermin vor dem Landgericht säumig war.
III.
Auf die Rechtsmittel der Beklagten hat der Senat die Sache daher anstelle des Berufungsgerichts nach § 538 Abs. 1 Nr. 5 ZPO zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittelzüge, an das Landgericht zurückzuverweisen. Im Rahmen der Kostenentscheidung wird dieses auch eine Anwendung des § 8 GKG bedenken können.
Unterschriften
Krohn, Tidow, Peetz, Kröner, Boujong
Fundstellen
Haufe-Index 1502440 |
BGHZ |
BGHZ, 87 |
Nachschlagewerk BGH |
JZ 1979, 269 |