Leitsatz (amtlich)
Von Eltern in ihrer Freizeit für ihr in seiner Gesundheit geschädigtes Kind erbrachte Betreuungsleistungen sind nur dann als vermehrte Bedürfnisse des Verletzten gemäß § 843 Abs. 1 BGB ersatzpflichtig, wenn sie sich so weit aus dem selbstverständlichen, originären Aufgabengebiet der Eltern herausheben, daß der entgeltliche Einsatz einer fremden Pflegekraft nicht nur theoretisch, sondern bei vernünftiger Betrachtung als praktische Alternative ernsthaft in Frage gekommen wäre.
Normenkette
BGB § 843
Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main (Aktenzeichen 19 U 13/95) |
LG Frankfurt am Main (Aktenzeichen 2/22 O 380/94) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 19. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 24. Juni 1998 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die am 14. November 1989 geborene Klägerin hat die Beklagten – die Beklagte zu 1) als Herstellerin von Plastiksaugflaschen, die (früheren) Beklagten zu 2) und zu 3) als Produzenten von Kindertee – auf Ersatz der Schäden in Anspruch genommen, die sie durch Zerstörung ihres Milchzahngebisses infolge Dauernuckelns gesüßter Getränke erlitten habe, da die erforderlichen Warnhinweise unterblieben und die in den Verkehr gebrachten Flaschen fehlerhaft konstruiert gewesen seien. Sie hat – neben der Zahlung eines Schmerzensgeldes und der Feststellung der Schadensersatzpflicht der Beklagten – Ausgleich des zusätzlichen Betreuungsaufwandes ihrer Eltern in Höhe von 11.260 DM verlangt. Letzteres Begehren hat sie mit dem Einsatz der Eltern bei wegen ihrer erheblichen körperlichen und seelischen Schmerzen erforderlich gewordener Beruhigung, Ablenkung und Tröstung sowie bei Sprechübungen begründet. Sie ist hierbei von insgesamt 563 Stunden ausgegangen, die ihre Eltern in der Freizeit zwischen Juli 1992 und August 1994 eingesetzt hätten; ein „Stundenlohn” von 20,– DM erscheine angemessen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Im Berufungsrechtszug hat die Klägerin – nach Rücknahme ihres zunächst auch gegen die Beklagten zu 2) und zu 3) gerichteten Rechtsmittels – ihr Begehren nur noch gegenüber der Beklagten zu 1) verfolgt. Das Oberlandesgericht hat die Beklagte zu 1) zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 12.000 DM an die Klägerin verurteilt und die Schadensersatzpflicht der Beklagten zu 1) für künftige und weitere Schmerzen und Schäden festgestellt, die Klageabweisung hinsichtlich des geltend gemachten Betreuungsaufwands jedoch aufrecht erhalten. Mit ihrer (zugelassenen) Revision verlangt die Klägerin weiterhin den Ersatz dieses Betreuungsaufwands.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht hält die von der Klägerin als Betreuungsaufwand geltend gemachten, der elterlichen „Schmerzbetreuung” dienenden Zuwendungsleistungen für nicht ersatzfähig. Die aufgewandte Zeit habe nicht zu einem Verdienstausfall der Eltern geführt; beeinträchtigt sei lediglich die allgemeine Lebensgestaltungsmöglichkeit der Eltern gewesen, die infolge der Zahnschäden der Klägerin auf diese besondere Rücksicht hätten nehmen müssen und deshalb nicht in der Lage gewesen seien, ihre Zeit so einzuteilen, wie sie dies möglicherweise sonst getan hätten. Hierin liege jedoch kein ausgleichspflichtiger materieller Schadensposten.
Der Zweck der von den Eltern erbrachten zusätzlichen Betreuungsleistungen sei mit gewerblichem Betreuungspersonal nicht zu erreichen gewesen, dessen Einsatz möglicherweise zur Verunsicherung und weiteren Ängstigung der Klägerin geführt hätte. Es gehe daher hier nicht um „käufliche” Leistungen, sondern um nicht kommerzialisierbare elterliche Zuwendung.
Etwas anderes gelte auch nicht, soweit die Eltern der Klägerin, insbesondere ihre Mutter, mit ihr Sprechübungen unternommen hätten. Zwar könnten letztere durchaus von ausgebildeten Fachkräften durchgeführt werden; tatsächlich habe die Klägerin Übungsstunden bei ausgebildeten Logopäden absolviert. Die Leistung der Mutter der Klägerin sei derjenigen gewerblicher Logopäden aber gerade nicht vergleichbar, was sich daran zeige, daß die Sprechübungen der Mutter ohne Erfolg geblieben seien, während die Übungsstunden durch Fachkräfte erfolgreich gewesen seien.
II.
Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision stand. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Ersatz des geltend gemachten Betreuungsaufwands ihrer Eltern zu.
1. Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, daß auch der Betreuungsaufwand naher Angehöriger eines durch unerlaubte Handlung an Körper und Gesundheit Geschädigten im Rahmen des § 843 Abs. 1 BGB grundsätzlich ersatzpflichtig sein kann. So sind bei verletzungsbedingter Pflegebedürftigkeit als Teil des Anspruchs des Verletzten auf Ersatz eines Mehrbedarfs vom Schädiger die Pflegedienste auch dann angemessen abzugelten, wenn sie statt von fremden Pflegekräften von Angehörigen (dem Verletzten gegenüber unentgeltlich) erbracht werden, wobei nicht entscheidend ist, ob der Angehörige, der die Pflegeleistungen erbringt, seinerseits einen Verdienstausfall erleidet (vgl. BGHZ 106, 28, 30; Senatsurteil vom 8. November 1977 - VI ZR 117/75 - VersR 1978, 149, 150; BGH, Urteil vom 24. November 1995 - V ZR 88/95 - NJW 1996, 921, 922; siehe hierzu auch Senatsurteil vom 4. März 1997 - VI ZR 354/95 - VersR 1997, 698, 700). Denn eine solche Hilfeleistung naher Angehöriger darf dem Schädiger entsprechend dem Rechtsgedanken des § 843 Abs. 4 BGB nicht zugute kommen.
Eine derartige Ersatzpflicht hat jedoch zur Voraussetzung, daß sich der geltend gemachte Aufwand in der Vermögenssphäre als geldwerter Verlustposten konkret niedergeschlagen hat. Dies ist einerseits bei einem Verdienstausfall der unentgeltlich einspringenden Angehörigen gegeben, andererseits aber auch dort, wo der Vermögenswert der geleisteten Dienste im Sinne eines „Marktwerts” objektivierbar ist, da sie ihrer Art nach in vergleichbarer Weise ohne weiteres auch von einer fremden Hilfskraft übernommen werden könnten. Hingegen sind Aufwendungen an Zeit, die sich nicht in diesem Sinne konkret in der Vermögenssphäre niederschlagen, im Rahmen deliktischer Haftungsbeziehungen nicht ersatzfähig (vgl. BGHZ 106, 28, 31 m.w.N.).
2. Auf der Grundlage dieser Überlegungen kann eine zusätzliche Betreuung, die Eltern – wie hier in ihrer Freizeit – ihrem gesundheitlich geschädigten Kind zuteil werden lassen, nur dann als vermögenswerte Leistung im Rahmen der vermehrten Bedürfnisse des Kindes schadensersatzrechtlich ersatzpflichtig sein, wenn sie den Bereich der allein den Eltern als engsten Bezugspersonen zugänglichen „unvertretbaren” Zuwendung verläßt und sich so weit aus dem selbstverständlichen, originären Aufgabengebiet der Eltern heraushebt, daß nicht nur theoretisch, sondern als praktische Alternative ein vergleichbarer Einsatz fremder Hilfskräfte in Betracht kommt. Diese Voraussetzungen, die etwa dann erfüllt sind, wenn Eltern (oder auch andere nahe Angehörige) die Pflege eines schadensbedingt in seinen täglichen Verrichtungen erheblich eingeschränkten, pflegebedürftig gewordenen Kindes übernehmen, sind im vorliegenden Fall vom Berufungsgericht zu Recht als nicht gegeben erachtet worden.
a) Soweit die geltend gemachte Betreuung, die der Beruhigung, Ablenkung und seelischen Tröstung der unter körperlichen Schmerzen und psychischen Beeinträchtigungen leidenden Klägerin diente, in ihrem Schwerpunkt eine spezifisch den Eltern als nächsten Bezugspersonen zukommende individuelle und nicht austauschbare Zuwendung darstellte, kommt – wie im Berufungsurteil zutreffend dargelegt ist – eine Ersatzfähigkeit mangels einer die Vermögenssphäre betreffenden Leistung und entsprechenden Vermögenseinbuße nicht in Betracht. Vermehrte elterliche Zuwendung in diesem Sinne ist, auch wenn sie mit erheblichem Zeitaufwand verbunden ist, dem Begehren materiellen Schadensersatzes nicht zugänglich (vgl. BGHZ 106, 28, 31 f.).
Gerade auch auf solche seelische Zuwendung und ein „Für-das-Kind-da-sein” bezog sich der hier streitige Betreuungsaufwand (zu den von der Revision herausgestellten Sprechübungen unten 3). Soweit die Revision darüber hinaus in der schriftlichen Rechtsmittelbegründung auf pflegerische Leistungen wie zusätzliches Kochen und besondere Mühe beim Füttern etc. abstellen will, weist die Revisionserwiderung zutreffend auf den Vortrag der Klägerin in der Klageschrift hin, daß zusätzlicher Betreuungsaufwand beim Essen – anders als bei vielen vergleichbar geschädigten Kindern – hier gerade nicht angefallen sei; hiermit mußte sich das Berufungsgericht daher nicht weiter auseinandersetzen.
b) Eine Ersatzfähigkeit der hier in Rede stehenden Betreuung ergibt sich entgegen der Auffassung der Revision auch nicht unter dem Gesichtspunkt, daß es – wovon mit dem Klägervortrag ausgegangen werden kann – ausgebildetes, psychologisch und erzieherisch geschultes Fachpersonal gibt, das Kindern in vergleichbaren Leidenssituationen seelische und pädagogische (Fremd-) Betreuung zuteil werden lassen kann; von der Klägerin angetretenen Beweis hierfür mußte das Berufungsgericht aus Rechtsgründen nicht erheben.
aa) Zum einen kann angesichts der Individualität derartiger Betreuungsaufgaben und der Besonderheiten des Eltern-Kind-Verhältnisses keineswegs ohne weiteres von einer Vergleichbarkeit der elterlichen Zuwendung mit den Leistungen fremder Fachkräfte ausgegangen werden.
bb) Zum andern richtet sich der ersatzfähige Aufwand für vermehrte Bedürfnisse, insbesondere Pflegebedarf, nach den Dispositionen, die ein verständiger Geschädigter in seiner besonderen Lage treffen würde; ein finanzieller Ausgleich für Pflege und Betreuung durch nahe Angehörige ist daher dann zu gewähren, wenn für diese Leistungen die Einstellung einer fremden Pflegekraft bei vernünftiger Betrachtung als Alternative ernstlich in Frage gekommen wäre (vgl. dazu Senatsurteil vom 8. November 1977 - VI ZR 117/75 - aaO, 150 m.w.N.). Das ist bei der vorliegend geltend gemachten Betreuung und Zuwendung nicht der Fall.
Mag die vorgetragene Beruhigung, Ablenkung und Tröstung des Kindes theoretisch auch durch entsprechend geschultes Fachpersonal erfolgen können, so kann in einer Familienbeziehung im Hinblick auf die selbstverständlichen und originären Aufgaben der Eltern im Rahmen des Eltern-Kind-Verhältnisses die Heranziehung einer fremden Kraft für eine derartige, in der Freizeit und ohne Verdienstausfall (auf der Grundlage der Zahlen des Klagevortrags von beiden Elternteilen zusammen – einschließlich der vorgetragenen Sprechübungen – durchschnittlich täglich etwa eine Dreiviertelstunde) erbrachte Zuwendung und Betreuung keine ernst zu nehmende Alternative sein. Hierin unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt wesentlich von den Fällen, in denen Eltern ihrem schadensbedingt erheblich pflegebedürftigen Kind Pflegeleistungen erbringen, die nach Art und Umfang weit über die üblichen elterlichen Aufgaben in der Kinderbetreuung hinausgehen. Deshalb können – entgegen der Auffassung der Revision – auch die Überlegungen, die der Einführung eines Pflegegeldes für häusliche Familienpflege im Rahmen der Sozialversicherung zugrundeliegen, für die im Fall der Klägerin gegebene Situation nicht herangezogen werden.
3. Der Revision kann auch nicht darin gefolgt werden, daß die von den Eltern der Klägerin aufgewandte Zeit für Sprechübungen unter den hier gegebenen Umständen als ersatzfähiger Schaden zu betrachten sei.
a) Auch das Berufungsgericht bezweifelt nicht, daß die Klägerin im Hinblick auf ihre Gebißschäden einen schadensbedingten Bedarf an spracherzieherischen Leistungen, etwa Sprechübungen, hatte, die von entsprechend ausgebildetem Fachpersonal erbracht werden konnten. Dementsprechend hat die Klägerin auch mit Erfolg Leistungen einer Logopädin in Anspruch genommen.
b) Das Berufungsgericht konnte jedoch auf der Grundlage des Klägervortrags und der getroffenen Feststellungen im Ergebnis rechtsfehlerfrei zu der Beurteilung gelangen, daß die hier im Rahmen der elterlichen Zuwendung und Betreuung in der Freizeit unternommenen Sprechübungen mit derartigen, bei entsprechendem Fachpersonal „käuflichen” (und damit im schadensersatzrechtlichen Sinne die Vermögenssphäre betreffenden) Leistungen ihrer Art nach nicht als vergleichbar anzusehen sind.
Zwar ist der Revision zuzugeben, daß es insoweit nicht entscheidend darauf ankommen kann, ob und in welchem Umfang erbrachte Leistungen letztlich Erfolg haben oder nicht; ein ersatzfähiger Schaden wegen vermehrter Bedürfnisse kann grundsätzlich auch in einem erfolglos gebliebenen Aufwand liegen. In einem Fall wie dem vorliegenden konnte das Berufungsgericht aber der Tatsache, daß nur die seitens der Fachkraft erbrachten spracherzieherischen Leistungen das erwünschte Ergebnis zeitigten, ein gewichtiges Indiz dafür entnehmen, daß die Bemühungen, die im Rahmen der elterlichen Betreuung das Sprechvermögen der Klägerin fördern sollten, in Wahrheit ihrem Charakter nach schon im Ansatz nicht mit den gebotenen Leistungen einer fremden Fachkraft verglichen werden können. Es ist den getroffenen Feststellungen auch kein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, daß die von den Eltern unternommenen Sprechübungen eine ins Gewicht fallende, schadensrechtlich relevante Ergänzung der logopädischen Arbeit hätten darstellen können. Die Revision hat insoweit auch keinen übergangenen Vortrag der Klägerin aufgezeigt. Das Berufungsgericht hat daher beanstandungsfrei diese in den Rahmen der besonderen elterlichen Zuwendung eingebetteten Bemühungen, denen kein „Marktwert” zukam, für schadensersatzrechtlich nicht relevant erachtet, soweit es um den Ausgleich eines materiellen Schadens der Klägerin geht.
III.
Die Revision der Klägerin war daher mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
Unterschriften
Groß, Dr. Lepa, Dr. Müller, Dr. Dressler, Dr. Greiner
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 08.06.1999 durch Holmes, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 539002 |
NJW 1999, 2819 |
NWB 1999, 2817 |
FamRZ 1999, 1345 |
Nachschlagewerk BGH |
ZAP 1998, 707 |
DAR 1999, 542 |
MDR 1999, 1137 |
VersR 1999, 1156 |
LL 1999, 703 |