Leitsatz (amtlich)

Ein Verkehrsunfall auf einem abgeschlossenen Kasernengelände ist nur dann durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnissen i.S. des § 81 Abs. 1 SoldVG herbeigeführt, wenn er auf Lebensbedingungen beruht, die eng mit den besonderen Gegebenheiten des Dienstes verknüpft sind und sich deutlich von denjenigen des Zivillebens abheben. Das ist für eine Vorfahrtverletzung bei der Rückkehr von einem Diskothekenbesuch grundsätzlich zu verneinen (Abweichung vom BGH Urteil vom 8. Februar 1972 – VI ZR 173/70 – VersR 1972, 491).

 

Normenkette

Soldatenversorgungsgesetz §§ 91a, 81

 

Verfahrensgang

OLG München (Urteil vom 26.11.1991)

LG München II

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 26. November 1991 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 19. September 1985. Er sowie der Erstbeklagte hatten als Offiziersanwärter der Bundeswehr einen Lehrgang im Fliegerhorst F. besucht und waren dort aufgrund eines Angebotes der Bundeswehr freiwillig untergebracht. Als sie am Unfalltag gegen 23.05 Uhr nach einem Diskothekenbesuch in ihrer dienstfreien Zeit mit dem bei der Zweitbeklagten, haftpflichtversicherten PKW des Erstbeklagten in den Fliegerhorst zurückkehrten, mißachtete der Erstbeklagte innerhalb des umzäunten Kasernengeländes die Vorfahrt eines anderen Fahrzeugs. Es kam zu einem Zusammenstoß. Der Kläger wurde hierbei schwer verletzt und später wegen eines Dauerschadens aus der Bundeswehr entlassen.

Die Schmerzensgeldklage des Klägers gegen die Beklagten ist durch Urteil des Berufungsgerichts vom 26. April 1988 – 5 U 5971/87 – rechtskräftig abgewiesen worden, weil der Kläger eine Wehrdienstbeschädigung im Sinn des § 81 Soldatenversorgungsgesetz – SoldVG – in der hier maßgeblichen Fassung vom 21. April 1983 (BGBl. I S. 457) erlitten habe und infolgedessen die Haftungsfreistellung nach § 91 a SoldVG eingreife.

Vom Kläger ebenfalls geltend gemachte Versorgungsansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland sind abgelehnt worden. Seine hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht A. durch Urteil vom 17. November 1989 mit der Begründung abgewiesen, daß keine Wehrdienstbeschädigung vorliege. Berufung oder Sprungrevision sind nicht zugelassen worden.

Im vorliegenden Verfahren begehrt der Kläger unter Hinweis auf die Rechtsauffassung des Sozialgerichts A., von den Beklagten als Gesamtschuldnern Ersatz seines materiellen Schadens, nämlich Verdienstausfall bis einschließlich Juni 1989 in Höhe von 59.661,75 DM nebst Zinsen sowie die Feststellung, daß die Beklagten verpflichtet seien, ihm jeden weiteren materiellen Schaden aus dem Unfall zu ersetzen.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht hält an seiner bereits im Urteil vom 26. April 1988 – abgedruckt VersR 1989, 379, 380 m.abl. Anm. Rieker – dargelegten Rechtsauffassung fest, wonach die Voraussetzungen einer Haftungsfreistellung gemäß § 91 a SoldVG gegeben seien.

Eine Wehrdienstbeschädigung liege vor, weil die Schädigung des Klägers durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse verursacht worden sei, § 81 SoldVG. Der Unfall sei gerade Folge des wehrdiensttypischen Zusammenlebens in einer Kaserne. Daß die gemeinsame Unterbringung nicht aufgrund eines Befehls erfolgt sei, sondern Kläger und Erstbeklagter freiwillig von einem Angebot der Bundeswehr Gebrauch gemacht hätten, ändere ebenso wie die Tatsache, daß sich der Unfall außerhalb des Dienstes ereignet habe, nichts an dessen Wehrdienstüblichkeit.

Die auf Entscheidungen des Bundessozialgerichts gestützte Rechtsauffassung des Sozialgerichts, wonach Verkehrsunfälle auf einem Kasernengelände zwischen Soldaten grundsätzlich nicht als wehrdiensteigentümlich einzustufen seien, sei vom Wortlaut her nicht begründbar und führe zu einer dem Gesetzeszweck widersprechenden Einschränkung der Fürsorgepflicht des Dienstherrn. Gerade aus dem engen Zusammenleben in Kasernen erwüchsen besondere Gefahren für den Verkehr in diesem Bereich, weil in derartigen abgetrennten Bezirken oftmals mit einer nachlässigeren Einstellung als im öffentlichen Straßenverkehr gefahren werde und der Hinweis, daß die Straßenverkehrsordnung auch in diesem Bereich gelte, nicht die Wirkung des sich aus der Kasernierung ergebenden Gefühls eines heimatlichen Geschütztseins beeinträchtige. Hierdurch werde zusätzlich das Unfallrisiko erhöht; es sei daher geboten, Verkehrsunfälle in Kasernen grundsätzlich als wehrdiensteigentümlich einzustufen.

Die abweichende Beurteilung dieser Frage durch das Sozialgericht A. sei für den vorliegenden Rechtsstreit nicht bindend, da die Beklagten an jenem Verfahren nicht beteiligt gewesen seien. Die Klageabweisung durch das Sozialgericht könne auch nicht als Bestätigung eines gestaltenden Verwaltungsaktes angesehen werden, weil in der Verneinung des Vorliegens eines Tatbestandsmerkmals, welches Voraussetzung für die Gewährung von Versorgungsbezügen sei, keine die Beklagten bindende Rechtsgestaltung liege.

Die Sperrwirkung des § 91 a Abs. 1 SoldVG sei auch nicht durch Abs. 2 dieser Vorschrift in Verbindung mit § 1 des Gesetzes über die erweiterte Zulassung von Schadensersatzansprüchen bei Dienst- und Arbeitsunfällen vom 7. Dezember 1943 – Erweiterungsgesetz – aufgehoben, weil der Unfall entgegen dieser Vorschrift nicht bei der Teilnahme am öffentlichen Verkehr eingetreten sei. Zwar werde dieser Begriff nicht allein durch räumliche Kriterien, sondern funktional bestimmt. Hierfür sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs maßgeblich, ob es sich um einen innerbetrieblichen bzw. hier innerdienstlichen Vorgang handele, was für die Rückkehr in die Unterkunft auf dem Kasernengelände zu bejahen sei.

II.

Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision nicht stand.

1. Zutreffend ist allerdings der rechtliche Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, daß nach § 91 a Abs. 1 Satz 1 SoldVG die nach diesem Gesetz versorgungsberechtigten Personen aus Anlaß einer Wehrdienstbeschädigung gegen den Bund nur die auf diesem Gesetz beruhenden Ansprüche haben. Sie können Ansprüche nach allgemeinen gesetzlichen Vorschriften, die weitergehende Leistungen als nach diesem Gesetz begründen, gegen den Bund, einen anderen öffentlich-rechtlichen Dienstherrn oder die in deren Dienst stehenden Personen nur dann geltend machen, wenn die Wehrdienstbeschädigung durch eine vorsätzliche unerlaubte Handlung einer solchen Person verursacht worden ist. Weitergehende Ansprüche können nach dem Erweiterungsgesetz geltend gemacht werden, wenn sich der Unfall bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr ereignet hat.

Die Revision zieht nicht in Zweifel, daß der Kläger zu den nach dem SoldVG versorgungsberechtigten Personen gehört, und wendet sich auch nicht gegen die tatrichterliche Feststellung, wonach der Erstbeklagte nicht vorsätzlich gehandelt hat. Sie bekämpft jedoch mit Erfolg die Auffassung des Berufungsgerichts, daß es sich bei den vom Kläger erlittenen Verletzungen um eine Wehrdienstbeschädigung handele.

a) Als Wehrdienstbeschädigung ist nach § 81 Abs. 1 SoldVG eine gesundheitliche Schädigung anzusehen, die durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist. Da die beiden ersten Alternativen vom Sachverhalt her nicht in Betracht kommen, hat das Berufungsgericht im Ansatz zutreffend geprüft, ob der Unfall durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist.

b) Das kann entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts bei dem festgestellten Sachverhalt nicht bejaht werden. Der Unfall ist durch eine Vorfahrtverletzung entstanden, wie sie sich jederzeit im öffentlichen Straßenverkehr abspielen kann. Allein schon der Umstand, daß der Unfall sich auf einem umfriedeten Kasernengelände ereignet hat, kann nicht, wie das Berufungsgericht meint, die Beurteilung rechtfertigen, daß er durch dem Wehrdienst eigentümliche Verhältnisse verursacht worden sei. Vielmehr ist die Frage, ob eine Wehrdienstbeschädigung vorliegt, jeweils nach den Umständen des Einzelfalles zu beantworten. Ihre Bejahung würde voraussetzen, daß der Unfall auf Lebensbedingungen beruht, die eng mit den besonderen Gegebenheiten des Dienstes verknüpft sind, dessen typische Merkmale aufweisen und sich außerdem deutlich von den entsprechenden Verhältnissen des Zivillebens unterscheiden. Diese Auslegung des Begriffs der wehrdiensteigentümlichen Verhältnisse entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSGE 7, 75, 76 ff.; Urteile vom 15. November 1977 – Az 10 RV 97/76 – SozR 3200 SVG Nr. 11, vom 25. Mai 1985 Az 9/9 a RV 24/87 – SozR 3200 § 81 SVG Nr. 30 sowie vom 13. Juli 1988 – Az 9/9 a RV 4/86 – SozR 3200 § 81 Nr. 31, jeweils m.w.N.). Die Auslegung des Begriffs der wehrdiensteigentümlichen Verhältnisse durch die Sozialgerichte kann für die zivilrechtliche Beurteilung nicht außer Betracht bleiben, da nach § 88 Abs. 7 SoldVG die Sozialgerichte für die Auslegung des § 81 SoldVG federführend sind. Schon von daher liegt eine übereinstimmende Auslegung des Begriffs der wehrdiensteigentümlichen Verhältnisse durch die zivilrechtliche und sozialgerichtliche Rechtsprechung nahe, damit divergierende Ergebnisse wie im vorliegenden Fall vermieden werden. Im übrigen ist eine enge Auslegung jenes Begriffs auch unter dem Blickpunkt angezeigt, daß es sich bei der dritten Alternative des § 81 SoldVG um einen Auffangtatbestand handelt, welcher Fallgruppen abdecken soll, die von den beiden ersten Alternativen nicht erfaßt werden, jedoch in engem und typischem Zusammenhang mit der besonderen Situation des Wehrdienstes stehen und von daher versorgungswürdig sind (Sailer in Wilke, Soziales Entscheidungsrecht 7. Aufl., 1992, § 81 SoldVG Rn. 27). Im übrigen entspricht die Auslegung des Begriffs der wehrdiensteigentümlichen Verhältnisse durch das Bundessozialgericht auch der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Wehrdienstbeschädigung (vgl. BGH, Urteile vom 25. April 1991 – III ZR 175/90 – VersR 1991, 811 f. sowie vom 12. November 1992 – III ZR 19/92 – noch nicht veröffentlicht).

Soweit dem vom Berufungsgericht herangezogenen Senatsurteil vom 8. Februar 1972 – VI ZR 173/70 – VersR 1972, 491, 492 eine andere Auslegung dieses Begriffs entnommen werden kann, hält der Senat nach erneuter Überprüfung aus den oben dargelegten Gründen hieran nicht fest. Zum einen konnte seinerzeit noch nicht von einer gefestigten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Begriff der wehrdiensteigentümlichen Verhältnisse ausgegangen werden. Im übrigen war der damalige Fall auch anders gelagert, weil sich sowohl der Geschädigte aus dienstlichen Gründen auf der Fahrbahn aufhielt als auch die Fahrt des Schädigers (Rückkehr von einem bei der Familie verbrachten Heimaturlaub) gemäß § 81 Abs. 4 Nr. 2 SoldVG als zum Wehrdienst gehörig angesehen werden konnte.

c) Demgegenüber ist jedenfalls die Fahrt, welche vorliegend zum Unfall geführt hat, nicht von Besonderheiten des Wehrdienstes geprägt. Das Berufungsgericht will seine entgegengesetzte Auffassung damit begründen, daß der Unfall Folge des wehrdiensttypischen Zusammenlebens in einem Kasernengelände und der dortigen gemeinsamen Unterbringung sei, weil im Kasernenbereich durch eine nachlässigere Einstellung als im öffentlichen Straßenverkehr infolge eines Gefühls heimatlichen Geschütztseins trotz Hinweises auf die Vorschriften der Straßenverkehrsordnung ein erhöhtes Unfallrisiko bestehe.

Diese Erwägungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Auch wenn sich die Parteien bei der Rückkehr auf das Kasernengelände wieder in den militärischen Pflichtenkreis begeben haben – ohne daß es insoweit darauf ankommt, ob sie dort freiwillig oder aufgrund eines Befehls untergebracht waren –, ist der Unfall nicht infolge einer sich aus ihrer Zugehörigkeit zur militärischen Organisation ergebenden Gefahr verursacht worden, so daß er von daher kein wehrdiensteigentümliches Gepräge erhalten hat. Die Handlungsfreiheit des Klägers und des Erstbeklagten war im Unfallzeitpunkt nicht durch das militärische Befehls- und Gehorsamssystem eingeschränkt. Vielmehr ereignete sich der Unfall in ihrer dienstfreien Zeit auf der Rückfahrt in die Kaserne nach einem privaten Diskothekenbesuch infolge einer Vorfahrtverletzung durch den Erstbeklagten. Wehrdiensttypische Besonderheiten, die sich von entsprechenden Verhältnissen des Zivillebens unterscheiden könnten (etwa einen militärischen Alarm, der zur Einschränkung oder Aufhebung allgemeiner Verkehrsregeln geführt und den Unfall beeinflußt haben könnte), stellt das Berufungsgericht nicht fest. Ohne derartige Besonderheiten unterscheidet sich das Fahren eines Fahrzeugs in einer militärischen Anlage nicht so deutlich von den Gegebenheiten des Zivillebens, daß schon aus diesem Grund Wehrdiensteigentümlichkeit im Sinn der dritten Fallalternative des § 81 Abs. 1 SoldVG bejaht werden könnte. Das hat das Bundessozialgericht im Urteil vom 25. Mai 1988 – a.a.O. zutreffend dargelegt. Bei der Auffassung des Berufungsgerichts, im Kasernenbereich bestehe eine erhöhte Unfallgefahr infolge von Nachlässigkeiten, die sich aus einem Gefühl heimatlichen Geschütztseins ergaben, handelt es sich lediglich um eine Vermutung, die nicht durch Tatsachen belegt ist; zudem fehlt es an der Feststellung, daß derartige Umstände sich bei dem vorliegenden Unfall ausgewirkt haben. Vor allem reichte selbst eine vom Berufungsgericht angenommene Gefahrerhöhung im Kasernengelände nicht aus; die dafür zugrundegelegten Faktoren müßten gerade für den Wehrdienst typisch sein und sich insoweit deutlich von den Verhältnissen des zivilen Verkehrs unterscheiden. Dafür fehlt jeder Anhalt.

2. Kann mithin der Unfall vom 19. September 1985 nicht als Wehrdienstbeschädigung aufgefaßt werden, so kommt es auf die zusätzlichen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des § 91 a SoldVG nicht an, insbesondere nicht auf die vom Berufungsgericht nur knapp erörterte Frage, ob der Erstbeklagte den Unfall gerade in seiner Eigenschaft als eine im Dienst des Bundes stehende Person, also als Soldat, und nicht etwa als Privatmann verursacht hat (Senatsurteile vom 8. Februar 1972 – a.a.O. und vom 29. März 1977 – VersR 1977, 649, 650). Da die Sperrwirkung des § 91 a SoldVG nicht eingetreten ist, bedarf es auch keines Eingehens auf die Überlegungen, mit welchen das Berufungsgericht eine Teilnahme am allgemeinen Verkehr verneint hat.

III.

Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben, weil die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, wonach eine Wehrdienstbeschädigung vorliege und deshalb Ersatzansprüche gegen die Beklagten ausgeschlossen seien, aus den dargelegten Gründen nicht zutrifft. Es war deshalb aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung über die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

 

Unterschriften

Dr. Steffen, Dr. Kullmann, Dr. Lepa, Dr. Müller, Dr. Dressler

 

Fundstellen

Haufe-Index 1683285

NVwZ-RR 1993, 637

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