Leitsatz (amtlich)
Zur Abgrenzung, wann im Arzthaftungsprozeß die Grundsätze über die Beweislastumkehr bei groben Behandlungsfehlern auf den Kausalitätsnachweis für Folgeschäden (Sekundärschäden) zu erstrecken sind (Ergänzung zum Senatsurteil vom 21. Oktober 1969 - VI ZR 82/68 = NJW 1970, 1230).
Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 25.11.1976) |
LG Gießen |
Tenor
Auf die Revision des beklagten Landes wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt/Main vom 25. November 1976 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Klägerin mußte am 3. März 1970 in der Universitätsfrauenklinik G. mittels abdominalen Schnittes (sog. Kaiserschnitt) entbunden werden, weil die Geburt zum Stillstand gekommen war und sich Fieber eingestellt hatte. Alsbald nach der Entbindung zeigte die Haut der Klägerin im Bereich der Brustdrüsen, im Operationsbereich und am gesamten Rücken starke Rötung und Blasenbildung, die auf Verunreinigungen des zur Desinfektion verwandten Alkohols beruhten. Die Körpertemperatur, die vor der Operation 38,8 Grad betragen hatte und während der Entbindung auf 39,9 Grad angestiegen war, erreichte bis Mitternacht 41 Grad. Es kam zu akutem Nierenversagen (Anurie), das eine Verlegung der Klägerin auf die Intensivstation erforderlich machte. Die Komplikation wurde mit Medikamenten, unter anderem mit dem Antibiotikum "Gentamycin" bekämpft. Einige Tage danach stellten sich bei der Klägerin Hör-, später auch Sehstörungen ein. Ein Ohr ertaubte völlig, das andere zu 75 % ein Auge erblindete. Bis heute leidet die Klägerin außerdem an Schwindelanfällen; sie ist voll erwerbsunfähig.
Die Klägerin führt sämtliche Beeinträchtigungen auf die erlittene Hautschädigung zurück und macht für sie das beklagte Land als Träger der Klinik verantwortlich. Mit ihrer Klage hat sie Schadensersatz für Heilbehandlungskosten, Verdienstausfall und für den Ausfall als Hausfrau geltend gemacht und beantragt, das Land zur Zahlung von 24.923,04 DM sowie einer monatlichen Rente von 733,26 DM ab 1. Januar 1973 zu verurteilen.
Das Landgericht hat der Klage dem Grunde nach stattgegeben. Die Berufung des beklagten Landes ist erfolglos geblieben. Mit der Revision erstrebt es die Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts haftet das beklagte Land aus dem Krankenhausvertrag ("totaler" Krankenhausvertrag) für die Vermögensschaden, die der Klägerin aus der Hautentzündung, dem Nierenversagen und der Hörschädigung entstanden sind.
Das Berufungsgericht erwägt dazu: Die Verunreinigung des Alkohols, die die Hautentzündung unstreitig hervorgerufen hat, müsse im Krankenhausbereich - sei es auf Grund eines Organisationsfehlers bei der Auswahl des Personals oder der Kennzeichnung der im Operationssaal verwendeten Flaschen, sei es durch ein Versehen der Pflegekräfte - geschehen sein. Dafür habe das beklagte Land einzustehen. Da nach dem Ergebnis der Sachverständigengutachten jedenfalls nicht ausgeschlossen werden könne, daß die Hautverletzung zu dem Nierenversagen geführt habe, müsse sich das beklagte Land auch diese Schädigung zurechnen lassen. Der Hörschaden beruhe darauf, daß das Nierenversagen mit dem Antibiotikum "Gentamycin" habe behandelt werden müssen; auch er stehe somit im Haftungszusammenhang mit der von dem beklagten Land zu verantwortenden Hautentzündung.
II.
Diese Ausführungen haben gegenüber den Angriffen der Revision keinen Bestand.
1.
Zutreffend hat das Berufungsgericht die Verantwortlichkeit des beklagten Landes für die Hautschädigung bejaht.
Gegen die tatrichterliche Feststellung, daß die schädliche Beimengung, deren Zusammensetzung nicht mehr ermittelt werden konnte, erst im Klinikbereich in das Desinfektionsmittel gelangt sein kann, erhebt auch die Revision keine Einwände. Sie meint aber, das Berufungsgericht habe nicht davon ausgehen können, daß das beklagte Land dies zu verantworten habe, solange nicht die Möglichkeit eines unglücklichen Zufalls ausgeschlossen werden könne. Mit dieser Rüge kann die Revision jedoch nicht durchdringen. Daß zur Krankenbehandlung bestimmte Chemikalien "zufällig" mit anderen, sie zersetzenden Stoffen vermischt werden, darf im Krankenhaus nicht vorkommen; dem muß sein Träger durch geeignete organisatorische Maßnahmen vorbeugen. Das Berufungsgericht durfte die Möglichkeit eines "unglücklichen Zufalls" zudem als nur theoretisch außer Betracht lassen. Hier kam ernsthaft nur in Frage, daß beim Umfüllen des aus der Klinikapotheke bezogenen Alkohols in die im Operationssaal verwendeten kleineren Gefäße, die durchweg nie gereinigt wurden, ein Gefäß gewählt worden ist, in dem sich Reste einer anderen Chemikalie, vermutlich ein Oxydationsmittel wie Wasserstoffsuperoxyd, befunden haben. Ist zugunsten des Krankenhauses davon auszugehen, daß alle Flaschen, die im Operationssaal verwendet wurden, sich nach dem regelmäßig für sie vorgesehenen Inhalt deutlich durch Form oder Farbe unterschieden, so kann der Vorfall nur dadurch erklärt werden, daß Gefäße verwechselt worden sind, ohne daß dies von den zuständigen Pflegekräften bemerkt oder verhindert worden ist. Die Verantwortlichkeit des beklagten Landes (§§ 31, 89, 278 BGB) kann deshalb nicht zweifelhaft sein. Im übrigen war es Sache des beklagten Landes, sich zu entlasten, nachdem feststeht, daß die Schädigung aus dem von ihm beherrschbaren Bereich der technischen Vorbereitungen für eine sachgemäße und gefahrlose Behandlung hervorgegangen ist (vgl. Senatsurteil vom 11. Oktober 1977 - VI ZR 110/75 = VersR 1978, 82 m.Nachw.).
2.
Demgegenüber wird die Auffassung des Berufungsgerichts, das beklagte Land habe wegen dieses Versehens auch für das Nierenversagen und den Hörschaden einzustehen, von der dafür gegebenen Begründung nicht getragen.
a)
Der Ansicht des Berufungsgerichts wäre zuzustimmen, wenn sie sich auf die Feststellung stützen würde, daß das Nierenversagen und damit auch der Hörschaden Folgen der Hautentzündung gewesen sind. An solcher Feststellung fehlt es jedoch bisher.
Das Berufungsgericht hält zwar auf Grund der eingeholten Sachverständigengutachten die Möglichkeit einer toxischen Nierenschädigung durch Resorption zerfallenden Eiweißes als Folge der allergischen Hautreaktion, die einer echten Hautverbrennung gleichzusetzen sei, für gesichert. Jedoch führt es, den Sachverständigen hierin folgend, als weitere mögliche Ursachen für die Anurie neben einem rezidivierenden Harnwegsinfekt - der von den Sachverständigen allerdings als weniger wahrscheinlich bezeichnet worden ist - einen durch die Schnittentbindung selbst hervorgerufenen, durch die ungünstigen Umstände im Befinden der Klägerin (Fieber schon vor der Operation, hoher Austragungsgrad des Kindes) beeinflußten septischen Schock mit plötzlicher Verschlechterung der Kreislaufverhältnisse an. Diese letztgenannte Möglichkeit wird, wie auch das Berufungsgericht hervorhebt, von den Sachverständigen "als alleinige Ursache weit höher wahrscheinlich" bewertet als der "entfernt" mögliche Zusammenhang des Nierenversagens mit der Allergie.
b)
Ob bei dieser Sachlage noch Raum für die Feststellung wenigstens einer Mitursächlichkeit der Allergie für das Nierenversagen sein kann, wie dies das Landgericht angenommen hatte, wird von dem Berufungsgericht nicht abschließend beantwortet. Nach seiner Auffassung reicht es für die Haftung des beklagten Landes aus, daß sich ein solcher Zusammenhang nicht ausschließen lasse. Das Berufungsgericht führt dazu aus: Nach den Grundsätzen, nach denen die Rechtsprechung die Beweislast dem Arzt bzw. dem Krankenhausträger auferlege, wenn es um Folgen eines groben Behandlungsfehlers gehe, müßten Un- klarheiten hinsichtlich des Kausalverlaufs hier zum Nachteil des beklagten Landes ausschlagen. Nach dem Urteil der Sachverständigen gehöre nämlich ein Nierenversagen bei Verbrennung 2. Grades, wenn mehr als 10 % der Körperoberfläche betroffen sei, zu den typischen Geschehensabläufen. Zwar hätten die Sachverständigen mangels entsprechender Erkenntnisgrundlage Gleiches nicht für Hautallergien der vorliegenden Art annehmen wollen. Was jedoch für eine Gleichbehandlung solcher Entzündung mit Verbrennungen spreche, reiche, so meint das Berufungsgericht, aus, die Beweislastumkehr auch für den hier in Frage stehenden Kausalzusammenhang in Anspruch zu nehmen.
Zu Recht rügt die Revision diese Beweislastverteilung.
aa)
Der erkennende Senat hat schon in seinem Urteil vom 21. Oktober 1969 - VI ZR 82/68 = NJW 1970, 1230, 1231 ausgesprochen, daß selbst grobe Behandlungsfehler eine Belastung des dafür Verantwortlichen mit dem Beweis, daß sie den Schaden nicht verursacht haben, grundsätzlich nur rechtfertigen können, soweit durch sein Versehen unmittelbar verursachte haftungsbegründende Gesundheitsbeschädigungen in Frage stehen. In diesem engeren Bereich entspricht es der Billigkeit und einer gerechten Interessenabwägung (RGZ 171, 168, 171), den Patienten von den Beweisschwierigkeiten zu befreien, die der Nachweis für die Ursachen eines Krankheitsverlaufs fast immer bereitet. Sind demgegenüber wie im Streitfall die weiteren Folgen der haftungsbegründenden "Primärverletzung" zu beurteilen, ergeben sich im allgemeinen keine zusätzlichen Beweisschwierigkeiten, die im Hinblick auf die besondere Schwere des Versehens billigerweise dem Verantwortlichen angelastet werden müßten. Worauf die "Primär- verletzung" zurückzuführen ist, ist für die Feststellung ihrer weiteren Auswirkungen regelmäßig ohne Bedeutung. Es fehlt daher im allgemeinen an einem Grund, den Patienten durch Anwendung der erwähnten Grundsätze der Rechtsprechung auch von diesem Beweisrisiko zu entlasten. Ausnahmsweise kann eine andere Betrachtung geboten sein, wenn die Interessenabwägung, auf der jene Grundsätze beruhen, die Einbeziehung auch von "Sekundär"-Schäden in die Beweislastumkehr als billig erscheinen läßt, weil das besondere Beweisrisiko, das das grobe Versehen geschaffen hat, auch sie betrifft. Das kann z.B. gelten, wenn die außer acht gelassene elementare Verhaltensregel gerade auch ihnen vorbeugen sollte, weil sie typisch mit der "Primär"-Verletzung verbunden sind (vgl. BGH a.a.O.). Allerdings wird dann schon die Beweiserleichterung des § 287 ZPO, die den Tatrichter für die Feststellung der haftungsausfüllenden Kausalität zwischen "Primär"- und "Sekundär"-Schaden freier stellt, ein Zurückgehen auf die Beweislast weitgehend entbehrlich machen (Senatsurteil vom 13.November 1962 - VI ZR 214/61 = VersR 1963, 67, 69). Wann ein "Sekundär"-Schaden in diesem Sinn als typische Folge der "Primär"-Verletzung anzusehen ist, ist zwar in erster Linie, nicht aber ausschließlich nach den Erkenntnissen der Medizin zu beurteilen. Einzufließen hat auch eine rechtliche Wertung, die sich an den besprochenen Grundsätzen zur Beweislastumkehr orientiert. In Betracht kommen ferner Fälle, in denen der grobe Fehler nicht schon in der "Primär"-Verletzung manifest geworden ist, wie z.B. bei einer grob fehlerhaft gesetzten Injektion; sofern dabei schon der Einstich der Kanüle als "Primär"-Verletzung angesehen werden muß, steht das einer Umkehr der Beweislast für den Kausalzusammenhang der Injektion mit "sekundären" Schäden nicht entgegen.
bb)
Auch wenn im Streitfall mit dem Berufungsgericht davon ausgegangen wird, daß das Versehen, das zu der "Haut- verbrennung" geführt hat, eine Beweislastumkehr nach den vorstehenden Grundsätzen rechtfertigte, kann diese nicht auf die hier in Frage stehenden "sekundären" Schäden (Nierenversagen, Hörschaden) erstreckt werden. Die Annahme des Berufungsgerichts, das Nierenversagen sei eine typische Folge solcher Haut-Allergie, die einer Verbrennung gleichzusetzen sei, und damit der diese auslösenden Versäumnisse, entbehrt der Grundlage.
Die Sachverständigen haben der Allergie, die nach ihren Darlegungen, anders als eine echte Hautverbrennung, zu einem Eiweißzerfall "von nur geringer Bedeutung" geführt hat, als "allenfalls entfernt" mögliche Ursache für das Nierenversagen bezeichnet und erklärt, es lasse sich nicht sagen, daß eine Anurie typische Folge von Hautschädigungen der festgestellten Art sei. Das Berufungsgericht hat sich zwar zu Recht für verpflichtet gehalten, diese Ausführungen kritisch zu würdigen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Es durfte jedoch nicht, wie es das getan hat, den von ihm selbst als "von naturwissenschaftlicher Sicht her berechtigt" anerkannten Bedenken gegen die Annahme einer Folgentypik allein aus prozeßrechtlichen Überlegungen "Schweigen gebieten", und auf diese Weise "bei Verbrennungen gewonnene medizinische Erfahrungen auf die Hautverletzung der Klägerin übertragen". Damit hat es seine Sachkompetenz überschritten. Welche Folgen typisch mit solchen Allergien verbunden sind, kann der Richter nur gestützt auf die Erkenntnisse und Erfahrungen der Medizin beurteilen.
Andere Umstände, die ausnahmsweise eine Beweislastumkehr auch bei sekundären Schäden rechtfertigen könnten, sind hier nicht ersichtlich. Der Fehler, der zur Verunreinigung des Alkohols geführt hatte, war bereits in der Allergie manifest geworden. Die Billigkeit erfordert nicht, dem beklagten Land wegen seiner Verantwortlichkeit hierfür das Beweisrisiko auch für die weiteren Auswirkungen der Hautverletzung aufzuerlegen; insoweit war die Klägerin mit dem Kausalitätsnachweis nicht stärker belastet als jeder andere Patient, der wegen eines Behandlungsfehlers Haftungsansprüche geltend macht.
c)
Diese fehlerhafte Betrachtung in Bezug auf die Anurie wirkt sich offensichtlich auch auf die Feststellung eines Haftungszusammenhangs mit der Hörschädigung aus. Jedenfalls unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des Folgeschadens aus der Verunreinigung des Desinfektionsmittels läßt sich eine Verantwortlichkeit des beklagten Landes für diese Schädigung ebenfalls nur rechtfertigen, wenn die Klägerin den Kausalitätsnachweis erbringt, der hier allerdings durch § 287 ZPO erleichtert ist.
III.
Daraus ergibt sich, daß das Berufungsurteil mit der ihm gegebenen Begründung nicht bestehenbleiben kann.
1.
Eine Abweisung der Klage im gegenwärtigen Verfahrensstand kommt freilich nicht in Betracht, da das Berufungsgericht offensichtlich, auch wenn es auf die Beweislast abgehoben hat, nicht abschließend hat sagen wollen, daß Feststellungen wenigstens zu einer Mitursächlichkeit der Allergie für das Nierenversagen und damit für die Hörschädigung, die für eine Verantwortlichkeit der Beklagten ausreichen könnte, im Streitfall nicht möglich ist. Die Sache bedarf daher einer erneuten Beurteilung durch den Tatrichter, der im Rahmen der Erleichterungen des § 287 ZPO nicht gehindert ist, auch auf Überlegungen zurückzugehen, die ihn bereits bei seiner angefochtenen Entscheidung veranlaßt haben, den Ausführungen der Sachverständigen über die Gewichtung der in Betracht kommenden Möglichkeiten kritisch auf den Grund zu gehen. Es wird, falls es nochmals Sachverständige befragt, zweckmäßig nicht wieder einen Sachverständigen zuziehen, der ebenfalls der Universitätsklinik angehört, in deren gynäkologischer Abteilung die Klägerin zu Schaden gekommen ist.
Eine Auseinandersetzung mit dem weiteren Vorbringen der Revision bedarf es nicht, da das beklagte Land Gelegenheit erhält, seine Bedenken in der wiedereröffneten Tatsacheninstanz vorzubringen.
2.
Die Entscheidung über die Kosten der Revision war dem Berufungsgericht zu übertragen, da diese vom Ausgang des Rechtsstreits abhängt (§ 97 ZPO).
Fundstellen
Haufe-Index 3018737 |
NJW 1978, 1683 |
NJW 1978, 1683-1684 (Volltext mit amtl. LS) |
MDR 1978, 916-917 (Volltext mit amtl. LS) |
PharmaR 1979, 26 |
PharmaR 1979, 26-27 |