Leitsatz (amtlich)
Als zumutbare Maßnahmen im Sinne von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO kommen nicht nur Ersatzbeförderungen in Betracht, mit denen die Verspätung am Endziel auf weniger als drei Stunden begrenzt werden kann.
Normenkette
EGV 261/2004 Art. 5 Abs. 3
Verfahrensgang
LG Landshut (Entscheidung vom 05.10.2022; Aktenzeichen 13 S 641/22) |
AG Erding (Entscheidung vom 24.01.2022; Aktenzeichen 105 C 3537/21) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Landshut vom 5. Oktober 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Klägerin nimmt die Beklagte aus abgetretenem Recht auf eine Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung in Anspruch.
Rz. 2
Die Zedenten verfügten über eine bestätigte Buchung für einen von der Beklagten durchzuführenden Flug, der planmäßig am 8. Januar 2020 um 7:20 Uhr (Ortszeit) in Reykjavik starten und um 12:05 Uhr (Ortszeit) in München landen sollte. Der Flug wurde aufgrund einer Blizzardwarnung annulliert.
Rz. 3
Der vorhergesagte Blizzard führte ab dem 7. Januar 2020 zu Beeinträchtigungen des Flugverkehrs im Bereich des Flughafens Reykjavik. Die Nutzung der Fluggastbrücken wurde für den Zeitraum vom 7. Januar 2020 um 20:38 Uhr bis 8. Januar 2020 um 10:50 Uhr aus Sicherheitsgründen eingestellt.
Rz. 4
Die Zedenten erreichten ihr Ziel mit einem Ersatzflug am 10. Januar 2020.
Rz. 5
Die Klägerin macht geltend, eine Ersatzbeförderungsmöglichkeit habe bereits am 9. Januar 2020 zur Verfügung gestanden.
Rz. 6
Das Amtsgericht hat die auf Ausgleichszahlung in Höhe von 800 Euro gerichtete Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben.
Rz. 7
Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.
Entscheidungsgründe
Rz. 8
Die zulässige Revision hat Erfolg und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Rz. 9
I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
Rz. 10
Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 Buchst. c FluggastrechteVO. Die Beklagte könne sich auf das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes gemäß Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO berufen.
Rz. 11
Die in Rede stehende Annullierung sei auf außergewöhnliche Umstände zurückgegangen, da für die Beklagte nicht beherrschbare, extreme Wetterbedingungen zu einer Schließung der Fluggastbrücken geführt hätten.
Rz. 12
Die Beklagte hätte die Annullierung des Fluges auch nicht vermeiden können, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Dies gelte auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, wonach bei der Beurteilung dieser Frage die früheste Umbuchungsmöglichkeit zu berücksichtigen sei. Solche Umbuchungsmöglichkeiten könnten keine Berücksichtigung mehr finden, wenn auch damit weder die Annullierung noch eine Verspätung von mindestens drei Stunden zu vermeiden sei. Aufgrund der im konkreten Fall herrschenden Umstände habe für die Beklagte offenkundig keine Möglichkeit bestanden, die Zedenten derart umzubuchen, dass sie ihr Endziel innerhalb einer höchstens dreistündigen Verspätung erreicht hätten.
Rz. 13
II. Dies hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Rz. 14
1. Zutreffend und von der Revision unbeanstandet ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die extremen Wetterbedingungen, die zu einer Sperrung der Fluggastbrücken und zur Annullierung des von den Zedenten gebuchten Flugs führten, außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO darstellen.
Rz. 15
2. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist die Beklagte gehalten, zu anderweitigen Möglichkeiten einer Ersatzbeförderung auch dann vorzutragen, wenn mit diesen eine Verspätung von mindestens drei Stunden gegenüber dem ursprünglichen Zeitplan ebenfalls nicht zu vermeiden gewesen wäre.
Rz. 16
a) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss das ausführende Luftfahrtunternehmen alles ihm Mögliche und Zumutbare tun, um zu vermeiden, dass es durch außergewöhnliche Umstände genötigt ist, einen Flug zu annullieren, oder dass der Flug nur mit einer großen Verspätung durchgeführt werden kann, deren Folgen für den Fluggast einer Annullierung gleichkommen (EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2008 - C-549/07, NJW 2009, 347 = RRa 2009, 35 Rn. 41 - Wallentin-Hermann/Alitalia; EuGH, Urteil vom 4. Mai 2017 - C-315/15, NJW 2017, 2665 = RRa 2017, 174 Rn. 34 - Pešková/Travel Service). Dieser Rechtsprechung hat sich der Senat angeschlossen (BGH, Urteil vom 6. April 2021 - X ZR 11/20, NJW-RR 2021, 926 = RRa 2021, 188 Rn. 41; Urteil vom 10. November 2022 - X ZR 97/21, NJW-RR 2023, 202 Rn. 15).
Rz. 17
Zu den danach gebotenen Maßnahmen gehört es, dem Fluggast eine mögliche anderweitige direkte oder indirekte Beförderung mit einem Flug anzubieten, den das betroffene oder ein anderes Luftfahrtunternehmen durchführt und der mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommt, es sei denn, die Durchführung einer solchen anderweitigen Beförderung stellt für das betreffende Unternehmen angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt ein nicht tragbares Opfer dar (EuGH, Urteil vom 11. Juni 2020 - C-74/19, NJW-RR 2020, 871 = RRa 2020, 185 Rn. 59, 61 - LE/TAP). Dem Luftfahrtunternehmen obliegt dabei der Nachweis, dass es ihm offensichtlich nicht möglich gewesen wäre, die betroffenen Fluggäste durch zumutbare Maßnahmen der genannten Art schnellstmöglich anderweitig zu befördern (EuGH, Beschluss vom 14. Januar 2021 - C-264/20, RRa 2021, 75 Rn. 33 - Airhelp/Austrian Airlines).
Rz. 18
b) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommen als zumutbare Maßnahmen im Sinne von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO nicht nur Ersatzbeförderungen in Betracht, mit denen die Verspätung am Endziel auf weniger als drei Stunden begrenzt werden kann.
Rz. 19
aa) Nach dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung - die in Art. 5 Abs. 1 einen Ausgleichsanspruch nur für den Fall der Annullierung und eines dadurch verursachten Zeitverlusts von mindestens drei Stunden vorsieht - ist allerdings nur maßgeblich, ob sich die Umstände, auf denen die Annullierung beruht, mit zumutbaren Maßnahmen hätten vermeiden lassen.
Rz. 20
bb) Nach der aufgezeigten Rechtsprechung des Gerichtshofs ist ein Luftfahrtunternehmen aber nicht nur im Fall einer der Annullierung gleichstehenden Ankunftsverspätung (vgl. den Sachverhalt in EuGH, Urteil vom 11. Juni 2020 - C-74/19, RRa 2020, 185 Rn. 25 f. - LE/TAP [insoweit nicht in NJW-RR 2020, 871]) sondern auch im Fall einer Annullierung (vgl. den Sachverhalt in EuGH, Beschluss vom 14. Januar 2021 - C-264/20, RRa 2021, 75 Rn. 7 f. - Airhelp/Austrian Airlines) gehalten, für eine zumutbare, zufriedenstellende und frühestmögliche anderweitige Beförderung der betroffenen Fluggäste zu sorgen. Dies gilt auch und gerade dann, wenn sich die Annullierung selbst mit zumutbaren Mitteln nicht verhindern lässt.
Rz. 21
cc) Hieraus ergibt sich entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts, dass die genannten Obliegenheiten auch dann bestehen, wenn sich eine Ankunftsverspätung von mindestens drei Stunden nicht vermeiden lässt.
Rz. 22
Wenn das Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen im oben dargestellten Sinne ergreift, ist es gemäß Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO von einer Verpflichtung zur Ausgleichszahlung befreit. Für diese Befreiung reicht es nach der aufgezeigten Rechtsprechung gerade nicht aus, dass der Grund für die Entstehung des Ausgleichsanspruchs - ein Zeitverlust von mindestens drei Stunden - durch zumutbare Maßnahmen nicht abwendbar war. Um sich von der Haftung zu entlasten, muss das Luftfahrtunternehmen vielmehr nachweisen, dass keine zumutbare Möglichkeit einer früheren Ankunftszeit bestand.
Rz. 23
dd) Aus den Schlussanträgen des Generalanwalts in der Rechtssache C-74/19 ergibt sich keine abweichende Schlussfolgerung.
Rz. 24
Der Generalanwalt hat in jenem Verfahren vorgeschlagen, die für den hiesigen Streitfall relevante dritte Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass die zumutbaren Maßnahmen darauf gerichtet sein müssen, die typischen Folgen außergewöhnlicher Umstände, d. h. Annullierungen und große Verspätungen bei der Ankunft, zu vermeiden (Schlussanträge Rn. 75 und 77 unter 3).
Rz. 25
Ob diese Ausführungen dahin zu verstehen sind, dass das Luftfahrtunternehmen schon dann entlastet sein soll, wenn sich einer der beiden Tatbestände mit zumutbaren Maßnahmen nicht vermeiden lässt, bedarf keiner abschließenden Beurteilung. Aus den oben aufgezeigten Entscheidungen ergibt sich jedenfalls, dass der Gerichtshof diesem Vorschlag nicht gefolgt ist.
Rz. 26
In diesen Entscheidungen hat der Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechung zwar dahin zusammengefasst, dass das Luftfahrtunternehmen bei Eintritt eines außergewöhnlichen Umstands alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel einsetzen muss, um zu vermeiden, dass dieser Umstand zur Annullierung oder zur großen Verspätung des betreffenden Fluges führt (EuGH, Urteil vom 11. Juni 2020 - C-74/19, NJW-RR 2020, 871 = RRa 2020, 185 Rn. 57 - LE/TAP; Beschluss vom 14. Januar 2021 - C-264/20, RRa 2021, 75 Rn. 28 - Airhelp/Austrian Airlines). Aus den daran anschließenden Ausführungen ergibt sich aber, dass die Obliegenheit, eine zumutbare, zufriedenstellende und frühestmögliche anderweitige Beförderung sicherzustellen, an den Eintritt eines außergewöhnlichen Umstands anknüpft und nicht allein deshalb wegfällt, weil eine Ankunftsverspätung von mindestens drei Stunden mit zumutbaren Maßnahmen nicht vermeidbar ist.
Rz. 27
Dieser Ansatz ist schon deshalb konsequent, weil die Unannehmlichkeiten, deren Ausgleich ein Anspruch nach Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 FluggastrechteVO dient, mit zunehmender Verspätung typischerweise nicht geringer werden oder entfallen, sondern zunehmen.
Rz. 28
ee) Dass das Luftfahrtunternehmen eine frühestmögliche Ersatzbeförderung schon nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1 Buchst. b FluggastrechteVO schuldet, führt ebenfalls nicht zu einer abweichenden Beurteilung.
Rz. 29
Wie der Senat bereits entschieden hat, führt die Verletzung dieser Pflicht für sich gesehen allerdings nicht zu einem Ausgleichsanspruch nach Art. 7 FluggastrechteVO. Dieser setzt vielmehr einen Zeitverlust von mindestens drei Stunden voraus (BGH, Beschluss vom 10. Januar 2023 - X ZR 106/21, Rn. 17).
Rz. 30
Wenn ein solcher Zeitverlust eingetreten ist, setzt die Befreiung von einem Ausgleichsanspruch nach Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO indes voraus, dass das Luftfahrtunternehmen diesen Pflichten nachgekommen ist.
Rz. 31
c) Der Umstand, dass die Flugbeförderung im Streitfall vor dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache C-74/19 stattgefunden hat, führt entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung nicht zu einer abweichenden Beurteilung.
Rz. 32
Durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, wird erläutert und verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre (vgl. nur EuGH, Urteil vom 23. Oktober 2012 - C-581/10, RRa 2012, 272 Rn. 88 - Nelson).
Rz. 33
3. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist im Streitfall deshalb die Beklagte gehalten, näher vorzutragen, welche Möglichkeiten einer Ersatzbeförderung bestanden und welche Maßnahmen die Beklagte ergriffen hat.
Rz. 34
III. Für ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV besteht kein Anlass.
Rz. 35
Wie oben aufgezeigt wurde, hat der Gerichtshof die für den Streitfall relevante Rechtsfrage, welche Maßnahmen für eine Befreiung nach Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO erforderlich sind, bereits entschieden. Der Umstand, dass die Vorinstanzen und andere Instanzgerichte diese Rechtsprechung in anderem Sinne verstanden haben, erfordert keine erneute Vorlage.
Rz. 36
IV. Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO).
Rz. 37
Den Feststellungen des Berufungsgerichts ist nicht zu entnehmen, ob die Beklagte die Möglichkeit hatte, mit zumutbaren Maßnahmen für eine frühere Ankunft der Zedenten am Endziel zu sorgen.
Rz. 38
Das Berufungsgericht wird den Sachverhalt nach der Zurückverweisung diesbezüglich aufzuklären haben. Hierbei wird es der Beklagten Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag geben müssen.
Bacher |
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Hoffmann |
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Marx |
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Rombach |
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Rensen |
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Fundstellen
Haufe-Index 16058381 |
JZ 2023, 713 |
VuR 2024, 6 |
ZLW 2024, 139 |