Leitsatz (amtlich)
a) Das Fehlen eines Neubemessungsvorbehalts im Sinne von Ziff. 9.4 Satz 3 AUB in der Erklärung des Unfallversicherers über die Leistungspflicht zur Erstbemessung der Invalidität nach Ziff. 9.1 Satz 1 AUB führt nicht zu seiner Bindung an diese Erklärung im Verfahren der Erstbemessung.
b) Der Rückforderung einer Invaliditätsleistung aufgrund geänderter Erstbemessung der Invalidität kann aber der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegenstehen, wenn der Versicherer in der vorgenannten Erklärung nach Ziff. 9.1 Satz 1 AUB den Eindruck erweckt, die Höhe der vertraglich geschuldeten Leistung endgültig klären zu wollen.
Normenkette
AUB 1999 Ziff. 9.1; AUB 1999 Ziff. 9.4; BGB § 242
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen den Beschluss des 3. Zivilsenats des OLG Frankfurt vom 20.12.2017 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Parteien streiten - soweit für das Revisionsverfahren noch von Interesse - über einen von der Beklagten im Wege der Widerklage geltend gemachten Anspruch auf teilweise Rückzahlung einer Invaliditätsleistung.
Rz. 2
Zwischen den Parteien besteht ein Vertrag über eine private Unfallversicherung. Diesem liegen die Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen 1999 (im Folgenden: AUB 1999; abgedruckt bei Grimm, Unfallversicherung 5. Aufl. Teil 1 B) zugrunde, die auszugsweise wie folgt lauten:
"9 Wann sind die Leistungen fällig? 9.1 Wir sind verpflichtet, innerhalb eines Monats - beim Invaliditätsanspruch innerhalb von drei Monaten - zu erklären, ob und in welcher Höhe wir einen Anspruch anerkennen. Die Fristen beginnen mit dem Eingang folgender Unterlagen: ... ... 9.2 Erkennen wir den Anspruch an oder haben wir uns mit Ihnen über Grund und Höhe geeinigt, leisten wir innerhalb von zwei Wochen. 9.3 Steht die Leistungspflicht zunächst nur dem Grunde nach fest, zahlen wir - auf Ihren Wunsch - angemessene Vorschüsse. ... 9.4 Sie und wir sind berechtigt, den Grad der Invalidität jährlich, längstens bis zu drei Jahren nach dem Unfall, erneut ärztlich bemessen zu lassen. ... Dieses Recht muss - von uns zusammen mit unserer Erklärung über unsere Leistungspflicht nach Ziff. 9.1, - von Ihnen spätestens drei Monate vor Ablauf der Frist ausgeübt werden. ..."
Rz. 3
Der Kläger erlitt im Jahr 2006 eine subdurale Gehirnblutung, die er auf ein Unfallereignis am 5.10.2006 zurückführt und wegen der er eine Invaliditätsleistung bei der Beklagten beanspruchte. Nachdem ärztliche Gutachten eingeholt worden waren, übersandte die Beklagte ihm ein Schreiben vom 22.10.2009 mit folgendem Inhalt:
"Sehr geehrter [Kläger], in diesem Unfallschaden liegt uns nunmehr das Abschlussgutachten ... vor. Eine Kopie fügen wir bei. Ihren Unfallschaden rechnen wir abschließend wie folgt ab: Invalidität Invaliditätssumme 51.000,00 EUR (500 %-Progression) Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit laut Gutachten 50 % Vertraglich vereinbart wurde eine Unfallversicherung mit progressiver Invaliditätsstaffel in Höhe von 500 %. Bei einer Invaliditätssumme von 51.000,00 EUR und einem Invaliditätsgrad (IVG) von 50 % leisten wir: - IVG bis 25 % (einfache Invaliditätssumme) 12.750,00 EUR - IVG bis 50 % (dreifache Invaliditätssumme) 38.250,00 EUR Unsere Leistung 51.000,00 EUR Diesen Betrag haben wir überwiesen. Wir waren gerne für Sie tätig und wünschen Ihnen für die Zukunft alles Gute. ..."
Rz. 4
Die Beklagte zahlte die im Schreiben angegebene Leistung an den Kläger aus.
Rz. 5
Mit der Klage hat er eine weitergehende Invaliditätsleistung gefordert mit der Begründung, dass die Invalidität in Anbetracht seines Gesundheitszustandes, wie er in dem der Abrechnung der Beklagten zugrunde gelegten Gutachten festgehalten wurde, nicht mit 50 %, sondern mit 75 % zu bemessen sei. Das LG hat hierzu Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens erhoben, nach dessen Vorlage die Beklagte im Wege der Widerklage Rückerstattung der gezahlten Invaliditätssumme begehrt hat.
Rz. 6
Das LG hat die Klage und die Widerklage abgewiesen. Hiergegen hat nur die Beklagte Berufung eingelegt, die das OLG zurückgewiesen hat. Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte das Widerklagebegehren noch i.H.v. 49.215 EUR weiter und macht geltend, dass zum Stichtag, am 5.10.2007, eine Invalidität von nur 3,5 % bestanden habe.
Entscheidungsgründe
Rz. 7
Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
Rz. 8
I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts hat die Beklagte keinen Anspruch auf Rückzahlung der Invaliditätsleistung aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB. Die Regulierung der Beklagten aufgrund ihres Schreibens vom 22.10.2009 erweise sich für sie als bindend. Zwar stelle die in Ziff. 9.1 AUB 1999 vorgesehene Erklärung, ob und in welcher Höhe der Versicherer einen Anspruch anerkenne, kein Anerkenntnis der Leistungspflicht dar. Das Recht, die geleistete Entschädigung wegen ungerechtfertigter Bereicherung zurückzuverlangen, verbleibe dem Versicherer aber nur, wenn er sich die Neubemessung mit der Abgabe seiner Erklärung entsprechend Ziff. 9.1 AUB 1999 in Verbindung mit Ziff. 9.4 AUB 1999 vorbehalten habe. Dabei komme es nicht darauf an, ob die Parteien über eine Erst- oder Neufestsetzung der Invaliditätsentschädigung stritten. Das ergebe sich aus der Auslegung der Versicherungsbedingungen. Jedenfalls greife die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB.
Rz. 9
II. Das hält rechtlicher Nachprüfung im Ergebnis stand. Allerdings ist der geltend gemachte Rückforderungsanspruch - anders als das Berufungsgericht meint - nicht deswegen ausgeschlossen, weil sich die Beklagte im Schreiben vom 22.10.2009 das Recht auf Neubemessung der Invalidität nicht gem. Ziff. 9.4 Satz 3 AUB 1999 vorbehalten hat (hierzu unter 2). Die angefochtene Entscheidung stellt sich jedoch aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Dem Rückforderungsverlangen der Beklagten steht der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) entgegen (hierzu unter 3).
Rz. 10
1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Erklärung des Unfallversicherers, ob und in welcher Höhe er einen Anspruch anerkennt, nach den Versicherungsbedingungen nur eine einseitige Meinungsäußerung des Versicherers und Information an den Anspruchsberechtigten ist, welche die Fälligkeit der anerkannten Entschädigung herbeiführt, im Übrigen aber keine rechtsgeschäftliche, potentiell schuldbegründende oder schuldabändernde Regelung bewirken soll. Das hat der Senat zu den §§ 11, 13 der Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen 1961 (im Folgenden: AUB 1961; abgedruckt bei Grimm, Unfallversicherung 5. Aufl. Teil 1 E) im Urteil vom 24.3.1976 im Einzelnen ausgeführt (IV ZR 222/74, BGHZ 66, 250 unter II 2b aa [juris Rz. 23]). Diese Entscheidung hat, nicht beschränkt auf die AUB 1961, auch im Hinblick auf spätere Fassungen der Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen und die - im Streitfall gem. Art. 1 Abs. 2 EGVVG nicht anwendbare - Bestimmung des § 187 VVG, breite Zustimmung gefunden (vgl. OLG Frankfurt r+s 2018, 434 Rz. 43; OLG Saarbrücken VersR 2014, 456 [juris Rz. 44, 48]; OLG Köln r+s 2014, 362 [juris Rz. 24]; OLG Hamm VersR 2005, 346 [juris Rz. 42]; BeckOK VVG/Jacob, § 187 Rz. 11 [Stand: 28.2.2019]; Leverenz in Bruck/Möller, VVG 9. Aufl., § 187 Rz. 7 ff.; Grimm, Unfallversicherung 5. Aufl. AUB 2010 Ziff. 9 Rz. 2; Jacob, Unfallversicherung AUB 2014 2. Aufl. Ziff. 9 Rz. 19; Rixecker in Langheid/Rixecker, VVG 6. Aufl., § 187 Rz. 1; Götz in Looschelders/Pohlmann, VVG 3. Aufl., § 187 Rz. 6; Dörner in MünchKomm/VVG, 2. Aufl., § 187 Rz. 4; Knappmann in Prölss/Martin, VVG 30. Aufl., § 187 Rz. 6; Kloth, Private Unfallversicherung 2. Aufl. Teil P Rz. 3; Marlow/Tschersich, r+s 2011, 453, 458 f.). Sie ist auch auf die AUB 1999 übertragbar (vgl. Grimm, Unfallversicherung 4. Aufl. AUB 1999 Ziff. 9 Rz. 2; Knappmann in Prölss/Martin, VVG 27. Aufl. AUB 1994 § 11 Rz. 4), da diese als Rechtsfolge einer für den Versicherungsnehmer positiven Erklärung des Versicherers nach Ziff. 9.1 Satz 1 AUB 1999 ebenfalls nur anordnen, dass der Anspruch gem. Ziff. 9.2 AUB 1999 innerhalb von zwei Wochen fällig wird.
Rz. 11
Rechtsgrund der Invaliditätsleistung ist danach nicht die Erklärung des Unfallversicherers, dass er den Anspruch in einer bestimmten Höhe anerkennt, sondern weiterhin der Versicherungsvertrag (vgl. Jacob, r+s 2018, 436; ders., jurisPR-VersR 4/2017 Anm. 2 unter C). Ist die ausgezahlte Invaliditätsleistung vertraglich nicht oder nicht in voller Höhe geschuldet, steht dem Unfallversicherer daher grundsätzlich ein Herausgabeanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB zu, wobei es ihm obliegt, dessen Voraussetzungen darzulegen und zu beweisen (vgl. OLG Brandenburg VersR 2018, 89 unter A [juris Rz. 15 ff.]; OLG Hamm VersR 2006, 1674 unter 2c aa [juris Rz. 27]; Jacob, Unfallversicherung AUB 2014 2. Aufl. Ziff. 2.1 Rz. 180; Götz in Looschelders/Pohlmann, VVG 3. Aufl., § 187 Rz. 6; Dörner in MünchKomm/VVG, 2. Aufl., § 187 Rz. 5; Knappmann in Prölss/Martin, VVG 30. Aufl., § 187 Rz. 6; Kloth, Private Unfallversicherung 2. Aufl. Teil P Rz. 13; Marlow/Tschersich, r+s 2011, 453, 459).
Rz. 12
2. Anders als das Berufungsgericht meint, ist dieser Rückforderungsanspruch im Streitfall nicht deswegen ausgeschlossen, weil die Beklagte im Schreiben vom 22.10.2009 das Recht auf Neubemessung der Invalidität nicht gem. Ziff. 9.4 Satz 3 AUB 1999 ausgeübt bzw. sich vorbehalten hat. Das ergibt die Auslegung von Ziff. 9.1 und 9.4 AUB 1999.
Rz. 13
a) Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (BGH, Urt. v. 6.3.2019 - IV ZR 72/18, VersR 2019, 542 Rz. 15; st.Rspr.).
Rz. 14
b) Nach diesen Maßgaben führt das Fehlen eines Neubemessungsvorbehalts im Sinne von Ziff. 9.4 Satz 3 AUB 1999 nicht zu einer Bindung des Unfallversicherers an die streitgegenständliche Erstbemessung der Invalidität.
Rz. 15
Der durchschnittliche Versicherungsnehmer kann den Regelungen in Ziff. 9.1 und 9.4 AUB 1999 zunächst entnehmen, dass im Recht der Unfallversicherung zwischen der Erstbemessung der Invalidität und ihrer Neubemessung zu unterscheiden ist (vgl. BGH, Urt. v. 18.10.2017 - VersR 2017, 1386 Rz. 18; v. 18.11.2015 - IV ZR 124/15, BGHZ 208, 9 Rz. 10; BGH, Beschl. v. 16.1.2008 - IV ZR 271/06, VersR 2008, 527 Rz. 10 f.). Er wird erkennen, dass der Versicherer gem. Ziff. 9.1 Satz 1 AUB 1999 verpflichtet ist, bei einem geltend gemachten Invaliditätsanspruch innerhalb von drei Monaten ab dem Eingang bestimmter Unterlagen zu erklären, ob und in welcher Höhe er einen Anspruch anerkennt. Aus Ziff. 9.4 Satz 1 AUB 1999 wird er entnehmen, dass beide Vertragsparteien berechtigt sind, den Grad der Invalidität jährlich, längstens bis zu drei Jahren nach dem Unfall, erneut ärztlich bemessen zu lassen, eine derartige Neubemessung der Invalidität in der Regel mithin erst nach vorangegangener Erstbemessung in Betracht kommt (vgl. Senatsurteil vom 18.11.2015, a.a.O.; Senatsbeschluss vom 16.1.2008, a.a.O.).
Rz. 16
Der durchschnittliche Versicherungsnehmer wird ferner erkennen, dass das in Ziff. 9.4 Satz 3 AUB 1999 geregelte Vorbehaltserfordernis allein auf die Neubemessung der Invalidität bezogen ist. Das ergibt sich für ihn aus dem klaren Wortlaut der Regelung. Nach diesem muss der Versicherer "dieses Recht" zusammen mit seiner Erklärung über die Leistungspflicht nach Ziff. 9.1 Satz 1 AUB 1999 ausüben. Mit "diesem Recht" ist erkennbar allein das in Satz 1 der Ziff. 9.4 AUB 1999 geregelte Neubemessungsrecht gemeint.
Rz. 17
Er wird hieraus sodann folgern, dass der Unfallversicherer nicht deswegen an seine Erstbemessung der Invalidität gebunden ist, weil er das Recht zur Neubemessung nicht zusammen mit seiner Erklärung über die Leistungspflicht gem. Ziff. 9.4 Satz 3 AUB 1999 ausgeübt hat. Denn nach dem Gesagten erkennt er, dass das Vorbehaltserfordernis nicht die Erst-, sondern allein die Neubemessung der Invalidität betrifft. Hieraus wird er ohne Weiteres schließen, dass sich aus dem Vorbehaltserfordernis keine Folgen für die von der Neubemessung gerade zu unterscheidende Erstbemessung ableiten lassen. Auslegungszweifel i.S.d. § 305c Abs. 2 BGB bestehen insofern nicht.
Rz. 18
c) Die weitere, kontrovers diskutierte Frage, ob der Unfallversicherer bei Nichtausübung des Neubemessungsrechts nach den Versicherungsbedingungen an einer Rückforderung der Invaliditätsleistung gehindert ist, wenn sich aufgrund eines allein vom Versicherungsnehmer initiierten Neubemessungsverfahrens ergibt, dass sich sein Gesundheitszustand im Vergleich zur Erstbemessung verbessert hat (bejahend: OLG Düsseldorf VersR 2019, 87 [juris Rz. 26 ff.] m.w.N.; OLG Frankfurt VersR 2009, 1653 [juris Rz. 15]; verneinend: OLG Brandenburg VersR 2018, 89 unter A 1 [juris Rz. 14 f.] m.w.N.), kann im Streitfall offenbleiben. Grundlage jeder Neubemessung der Invalidität sind Veränderungen im Gesundheitszustand des Versicherungsnehmers gegenüber demjenigen Zustand, der der Erstbemessung zugrunde liegt (BGH, Beschl. v. 22.4.2009 - IV ZR 328/07, VersR 2009, 920 Rz. 19; vgl. ferner OLG Saarbrücken VersR 2014, 456 unter 2b aa (2) [juris Rz. 46]). Um solche Veränderungen geht es hier nicht.
Rz. 19
3. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich jedoch aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Dem auf eine von ihrem Schreiben vom 22.10.2009 abweichende Beurteilung des Invaliditätsgrades gestützten Rückforderungsverlangen der Beklagten steht der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) entgegen.
Rz. 20
Eine Rechtsausübung kann unzulässig sein, wenn sich objektiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens ergibt, weil das frühere Verhalten mit dem späteren sachlich unvereinbar ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick hierauf vorrangig schutzwürdig erscheinen (BGH, Urt. v. 16.7.2014 - IV ZR 73/13, BGHZ 202, 102 Rz. 33; BGH, Urt. v. 10.1.2019 - IX ZR 89/18, ZIP 2019, 423 Rz. 25; jeweils m.w.N.). So liegt es hier.
Rz. 21
a) Das Rückforderungsverlangen der Beklagten ist mit dem Inhalt ihres Schreibens vom 22.10.2009 sachlich unvereinbar.
Rz. 22
Die Beklagte hat mit diesem Schreiben beim Kläger den Eindruck erweckt, dass sie damit gut drei Jahre nach dem Unfallereignis die Höhe ihrer vertraglich geschuldeten Leistung endgültig klären wollte. In dem Schreiben heißt es, das ausdrücklich als solches bezeichnete "Abschlussgutachten" liege nunmehr vor und die Beklagte rechne den Unfallschaden in der im Schreiben angegebenen Höhe "abschließend" ab; die Invaliditätssumme von 51.000 EUR bezeichnet die Beklagte als ihre "Leistung". Der insb. durch die Verwendung der Begriffe "abschließend" und "Abschlussgutachten" hervorgerufene Eindruck, dass es endgültig bei der im Schreiben enthaltenen Abrechnung bleiben und die Beklagte zukünftig nicht mehr auf die Invaliditätsleistung zurückkommen werde, wird noch dadurch verstärkt, dass das Schreiben damit endet, dass sie dem Kläger "für die Zukunft alles Gute" wünscht.
Rz. 23
Durch die genannten Formulierungen hat die Beklagte aktiv einen Vertrauenstatbestand geschaffen, die im Rahmen der Erstbemessung ermittelte Invaliditätsleistung nicht später aufgrund einer anderweitigen Erstbemessung zurückzufordern. Dieser Vertrauenstatbestand ist von besonderem Gewicht, weil der Unfallversicherer - insofern ähnlich wie der Berufsunfähigkeitsversicherer hinsichtlich der von ihm versprochenen Versicherungsleistung (vgl. BGH, Beschl. v. 15.2.2017 - IV ZR 280/15, VersR 2017, 868 Rz. 16 m.w.N.) - regelmäßig über überlegene Sach- und Rechtskunde im Hinblick auf die spezielle Ausgestaltung der Invaliditätsleistung durch die Versicherungsbedingungen mit der Unterscheidung zwischen der Erst- und der Neubemessung des Grades der Invalidität und dem Erfordernis der Einhaltung bestimmter Fristen (vgl. zu letzterem BT-Drucks. 16/3945, 109 li. Sp.) sowie die Möglichkeit ihrer Rückforderung verfügt. Unabhängig davon, dass das Versicherungsvertragsverhältnis generell in besonderer Weise vom Grundsatz von Treu und Glauben beherrscht wird (vgl. BGH, Urt. v. 14.1.2015 - IV ZR 43/14, VersR 2015, 230 Rz. 11; BGH, Urt. v. 8.7.1991 - II ZR 65/90, VersR 1991, 1129 unter 2b [juris Rz. 15] m.w.N.; vgl. zur Problematik fehlerhafter Erstbemessung auch Jungermann, r+s 2019, 369 ff.), muss sich der Versicherungsnehmer aufgrund der überlegenen Sach- und Rechtskunde des Unfallversicherers in gesteigerter Weise auf dessen die Invaliditätsleistung betreffenden Erklärungen verlassen können.
Rz. 24
b) Das Vertrauen des Klägers, nicht entgegen dem Schreiben der Beklagten vom 22.10.2009 auf Rückzahlung der Invaliditätsleistung in Anspruch genommen zu werden, ist vorrangig schutzwürdig. Wie ausgeführt erweckt dieses den Eindruck, dass die Beklagte nunmehr nach Ablauf von mehr als drei Jahren die Höhe ihrer vertraglich geschuldeten Leistung endgültig klären wollte. Die besondere Schutzwürdigkeit des von der Beklagten durch das Schreiben hervorgerufenen Vertrauens des Klägers in den Bestand der Invaliditätsleistung wird nicht dadurch abgeschwächt, dass ihm eine einfache Möglichkeit zur Verfügung gestanden hätte, selbst Klarheit darüber zu gewinnen, ob er einem Rückforderungsanspruch ausgesetzt sein kann, wenn sich die Erstbemessung des Invaliditätsgrades als zu hoch erweist. Selbst wenn er das Schreiben zum Anlass genommen hätte, anhand der vereinbarten Unfallversicherungs-Bedingungen der Frage des Bestehens eines solchen Anspruchs nachzugehen, hätte er auf diese Weise keine vom Schreiben abweichenden Informationen gewonnen. Die die Erstbemessung betreffende Bestimmung in Ziff. 9.1 AUB 1999 schweigt zu einem Rückforderungsanspruch bei einer fehlerhaften Erstbemessung; der Anspruch ergibt sich nur aus dem Gesetz (§ 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB).
Rz. 25
c) Anders als die Revision meint, steht dieses Ergebnis nicht in Widerspruch zu dem Senatsurteil vom 24.3.1976. Zwar hat der Senat dort ausgeführt, dass der notwendige Vertrauensschutz des gutgläubigen Empfängers der Versicherungssumme im Wesentlichen durch die spezielle Regelung des § 818 Abs. 3 BGB gewährleistet werde (IV ZR 222/74, VersR 1977, 471 unter III 3a [juris Rz. 36], insoweit in BGHZ 66, 250 nicht abgedruckt). Aber der spezifische Einwand der unzulässigen Rechtsausübung, dessen Voraussetzungen im Streitfall erfüllt sind, war nicht Gegenstand der Entscheidung.
Fundstellen
Haufe-Index 13416370 |
NJW 2019, 3790 |
NJW 2019, 9 |
NJW-RR 2019, 1369 |
WM 2020, 1837 |
ZAP 2019, 1111 |
JZ 2019, 754 |
MDR 2019, 1383 |
VuR 2019, 479 |
ZfS 2019, 640 |
VK 2020, 3 |
r+s 2019, 647 |
r+s 2022, 426 |