Verfahrensgang
OLG Koblenz (Entscheidung vom 20.04.2023; Aktenzeichen 7 U 1547/22) |
LG Koblenz (Entscheidung vom 02.09.2022; Aktenzeichen 16 O 214/21) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 20. April 2023 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Rz. 2
Er erwarb im August 2016 von einem Autohaus für 44.990 € einen von der Beklagten hergestellten gebrauchten Audi Q7, der mit einem ebenfalls von der Beklagten hergestellten 3,0 l V6-Dieselmotor der Baureihe EA 896 Gen2 (Schadstoffklasse Euro 5) ausgerüstet ist. Die Emissionskontrolle erfolgt unter Verwendung einer Abgasrückführung, welche innerhalb eines bestimmten Temperaturfensters reduziert wird ("Thermofenster").
Rz. 3
Der Kläger verlangt von der Beklagten die Erstattung des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung nebst Prozesszinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs, die Feststellung des Annahmeverzugs und die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Berufungsanträge weiter.
Entscheidungsgründe
Rz. 4
Die uneingeschränkt zugelassene Revision hat Erfolg. Die vom Kläger vorsorglich erhobene Nichtzulassungsbeschwerde ist gegenstandslos (BGH, Urteil vom 16. September 2021 - VII ZR 192/20, WM 2021, 2056 Rn. 15; Urteil vom 29. September 2020 - VI ZR 445/19, juris Rn. 12; Urteil vom 20. Juni 2023 - XI ZR 576/21, juris Rn. 5).
I.
Rz. 5
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:
Rz. 6
Ein Anspruch aus § 826 BGB bestehe nicht. Selbst wenn zugunsten des Klägers unterstellt werde, dass das implementierte "Thermofenster" als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizieren sei, wäre der darin liegende Gesetzesverstoß auch unter Berücksichtigung einer damit einhergehenden Gewinnerzielungsabsicht der Beklagten für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz dieser Steuerungssoftware durch die für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen zu lassen. Hierfür bedürfe es vielmehr weiterer Umstände, an denen es vorliegend ebenso fehle wie an dem erforderlichen Schädigungsvorsatz der Beklagten. Soweit der Kläger auf eine prüfstandsbezogene "Getriebemanipulation" abstelle, die angeblich zu einer höheren Abgasrückführungsrate auf dem Prüfstand durch veränderte Schaltpunkte führe, sei sein - in sich widersprüchlicher - Vortrag ebenfalls nicht ausreichend, um eine deliktische Haftung der Beklagten zu begründen. Mangels Grenzwertkausalität - das Vorhandensein zweier unterschiedlicher Schaltmodi des Automatikgetriebes im Fahrzeug des Klägers unterstellt - scheide eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung aus. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass das Warmlaufprogramm von der Beklagten in Manipulationsabsicht entwickelt worden sei, seien nicht dargetan. Die Verwendung weiterer unzulässiger Abschalteinrichtungen im klägerischen Fahrzeug habe der Kläger nicht substantiiert behauptet.
Rz. 7
Auch scheide ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit §§ 6, 27 EG-FGV aus, weil der Kläger nicht substantiiert dargelegt habe, dass die Beklagte gegen die Verbote zumindest fahrlässig verstoßen habe. Vielmehr sei von einem Verbotsirrtum auszugehen. Die Schutzgesetzeigenschaft der §§ 6, 27 EG-FGV sei deswegen nicht entscheidungserheblich. Selbst wenn die Voraussetzungen der hier allein in Betracht kommenden deliktischen Anspruchsgrundlagen angenommen würden, scheitere ein Schadensersatzanspruch des Klägers an einem fehlenden Schaden im Sinne des § 249 Abs. 1 BGB, da dem Fahrzeug weder die Stilllegung noch eine sonstige Betriebsbeschränkung drohe.
II.
Rz. 8
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
Rz. 9
1. Allerdings begegnet es keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat.
Rz. 10
a) Eine objektiv sittenwidrige arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde ist indiziert, wenn eine im Fahrzeug verbaute unzulässige Abschalteinrichtung ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung grenzwertkausal verstärkt aktiviert (BGH, Urteil vom 6. November 2023 - VIa ZR 535/21, WM 2024, 40 Rn. 11; Urteil vom 11. Dezember 2023 - VIa ZR 1012/22, juris Rn. 11). Funktioniert die unzulässige Abschalteinrichtung dagegen auf dem Prüfstand und im normalen Fahrbetrieb im Grundsatz in gleicher Weise oder ist sie nicht grenzwertkausal, kommt eine objektive Sittenwidrigkeit nur in Betracht, wenn die konkrete Ausgestaltung der Abschalteinrichtung angesichts der sonstigen Umstände die Annahme eines heimlichen und manipulativen Vorgehens oder einer Überlistung der Typgenehmigungsbehörde rechtfertigen kann. Diese Annahme setzt jedenfalls voraus, dass der Fahrzeughersteller bei der Entwicklung und/oder Verwendung der Abschalteinrichtung in dem Bewusstsein handelte, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahm(BGH, Urteil vom 6. November 2023, aaO, Rn. 12; Urteil vom 11. Dezember 2023, aaO).
Rz. 11
b) Das Berufungsgericht ist zutreffend von diesen Grundsätzen ausgegangen. Es hat anhand des Vortrags des Klägers keine prüfstandsbezogene Funktionsweise des in seinem Fahrzeug verwendeten "Thermofensters" festgestellt. Im Hinblick auf die behaupteten zwei unterschiedlichen Schaltprogramme des Automatikgetriebes hat das Berufungsgericht, wie sich aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ergibt, letztlich das Vorhandensein dieser Funktion, ihre Bewertung als eine nach Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 unzulässige Abschalteinrichtung und eine Abhängigkeit vom Prüfstand unterstellt, hat aber rechtsfehlerfrei mangels Grenzwertkausalität eine sittenwidrige Schädigung verneint. Soweit der Kläger weitere prüfstandsbezogene Abschalteinrichtungen behauptet hat, hat das Berufungsgericht diesen Vortrag ohne Rechtsfehler als nicht hinreichend angesehen. Die von der Revision dagegen erhobenen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
Rz. 12
2. Doch kann mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht verneint werden.
Rz. 13
a) Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32). Danach kann dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - VII ZR 412/21, juris Rn. 20).
Rz. 14
b) Die Annahme des Berufungsgerichts, ein Anspruch gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV scheitere unabhängig von der Schutzgesetzeigenschaft jedenfalls daran, dass die Beklagte kein Verschulden treffe, weil sie sich in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden habe, ist von Rechtsfehlern beeinflusst.
Rz. 15
aa) Der Senat hat insofern nach Erlass der hier angefochtenen Entscheidung entschieden, dass ein Verschulden des Fahrzeugherstellers vermutet wird (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 59 ff.). Der Fahrzeughersteller kann sich zwar durch einen von ihm darzulegenden und zu beweisenden unvermeidbaren Verbotsirrtum entlasten. Das setzt indessen zunächst die Darlegung und - erforderlichenfalls - den Nachweis eines entsprechenden Rechtsirrtums seitens des Fahrzeugherstellers voraus (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 63). Der Fahrzeughersteller muss dabei darlegen und beweisen, dass sich sämtliche seiner verfassungsmäßig berufenen Vertreter im Sinne des § 31 BGB über die Rechtmäßigkeit der vom Käufer dargelegten und erforderlichenfalls nachgewiesenen Abschalteinrichtung mit allen für die Prüfung nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 bedeutsamen Einzelheiten im maßgeblichen Zeitpunkt (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 62) im Irrtum befanden oder im Falle einer Ressortaufteilung den damit verbundenen Pflichten genügten (vgl. BGH, Urteil vom 6. November 2018 - II ZR 11/17, BGHZ 220, 162 Rn. 17 ff.; Urteil vom 25. September 2023 - VIa ZR 1/23, NJW 2023, 3796 Rn. 14). Nur in Bezug auf einen in diesen Einzelheiten konkret festgestellten Irrtum der maßgebenden Personen kann der Sorgfaltsmaßstab der Fahrlässigkeit sachgerecht geprüft und kann die Unvermeidbarkeit festgestellt werden. Die strengen Maßstäbe dafür hat der Senat in seiner Entscheidung vom 26. Juni 2023 ebenfalls ausgeführt (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 63 bis 70).
Rz. 16
bb) Diesen Maßstäben ist das Berufungsgericht, das seine Entscheidung vor dem Senatsurteil vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245) gefällt hat, nicht gerecht geworden. Feststellungen dazu, sämtliche Repräsentanten der Beklagten hätten sich im maßgeblichen Zeitpunkt in einem Rechtsirrtum befunden, fehlen. Erst im Anschluss an die Darlegung und den Nachweis dieser Umstände kann Bedeutung gewinnen, ob eine festgestellte Abschalteinrichtung entweder in all ihren für die Bewertung nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 maßgebenden Einzelheiten von der damit befassten nationalen Behörde genehmigt war oder genehmigt worden wäre. Bezogen auf ein "Thermofenster" oder die behauptete "Getriebemanipulation" hätte das Berufungsgericht berücksichtigen müssen, dass die Bedeutung der Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht höchstrichterlich und insbesondere nicht durch den Gerichtshof der Europäischen Union geklärt war (vgl. BGH, Urteil vom 25. September 2023 - VIa ZR 1/23, NJW 2023, 3796 Rn. 15). Eine Entlastung ohne Rücksicht hierauf und im Hinblick etwa auf den Umstand, dass der Verwendung von "Thermofenstern" ein allgemeiner Industriestandard zugrunde lag und dass jedes Dieselfahrzeug mit einer Abgasrückführung auch über ein "Thermofenster" verfügte, kommt dagegen nicht in Betracht (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 69 f.).
Rz. 17
c) Ebenso wenig kann die Haftung der Beklagten aus § 823 Abs. 2 BGB mangels Schadens mit der Begründung abgelehnt werden, für das vom Kläger erworbene Fahrzeug drohe weder eine Stilllegung noch eine sonstige Betriebsbeschränkung. Denn mit Rücksicht auf den geldwerten Vorteil der jederzeitigen Verfügbarkeit eines Kraftfahrzeugs genügt schon die rechtliche Möglichkeit einer Nutzungsbeschränkung wegen des Vorhandenseins einer unzulässigen Abschalteinrichtung und ohne Rücksicht auf die bisher seitens des Kraftfahrt-Bundesamts getroffenen oder nicht getroffenen Maßnahmen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 41 f. mwN).
III.
Rz. 18
Die angefochtene Entscheidung ist gemäß § 562 ZPO aufzuheben, weil sie sich nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Das Berufungsgericht hat keine tragfähigen Feststellungen getroffen, auf deren Grundlage eine deliktische Haftung der Beklagten wegen einer jedenfalls fahrlässigen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung verneint werden könnte. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Rz. 19
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245) und des Urteils vom 25. September 2023 (VIa ZR 1/23, NJW 2023, 3796 Rn. 13) die erforderlichen Feststellungen zu den Voraussetzungen und gegebenenfalls dem Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.
C. Fischer |
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Möhring |
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Götz |
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Rensen |
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Vogt-Beheim |
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Fundstellen
Dokument-Index HI16241337 |