Leitsatz (amtlich)

›Die Vorschrift des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB ist nicht anwendbar, wenn ein Amtsträger durch eine Verletzung der ihm als hoheitliche Aufgabe obliegenden Straßenverkehrssicherungspflicht einen Verkehrsunfall schuldhaft verursacht (Ergänzung von BGHZ 68, 217).‹

 

Verfahrensgang

OLG Celle (Urteil vom 10.05.1978)

LG Hannover

 

Tatbestand

In der Nacht vom 3. zum 4. Oktober 1976 befuhr die Ehefrau des Klägers mit dessen VW-Porsche-PKW den M.-Weg in M., einem Ortsteil der beklagten Gemeinde. Sie und der Kläger, der als Beifahrer mitfuhr, befanden sich auf der Heimfahrt nach einem Besuch bei Bekannten, die im M.-Weg wohnten. Dieser Weg liegt in einem Neubaugebiet; er war damals nur teilweise fertiggestellt. Auf dem noch unfertigen Teilstück war die Kanalisation bereits verlegt; da die Fahrbahndecke noch fehlte, ragten die Kanaldeckel aus dem Straßenniveau heraus. Gegen einen solchen Kanaldeckel stieß das Fahrzeug des Klägers, das dabei beschädigt wurde.

Der Kläger hat von der Beklagten wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht Ersatz des ihm entstandenen Schadens in Höhe von 4.179,35 DM verlangt. Auf andere Weise könne er, so hat er vorgetragen, einen Ersatz nicht erlangen. Mit seiner Ehefrau, die das Fahrzeug gelenkt habe, habe er die Vereinbarung getroffen, dass bei Kraftfahrzeugunfällen nur derjenige von ihnen dem anderen hafte, der Halter des Unfallfahrzeugs sei. Auch vertrage es sich nicht mit dem Wesen der Ehe, wenn er darauf verwiesen werde, seine Frau auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht in Abrede gestellt. Zudem habe die Ehefrau des Klägers durch ihre unvorsichtige Fahrweise den Unfall allein verschuldet; sie müsse daher für den Schaden des Klägers einstehen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.

Mit der Berufung hat der Kläger nur noch 3/4 seines Schadens (3.134,92 DM) geltend gemacht.

Das Berufungsgericht hat auf der Grundlage einer Haftung zu 1/2 dem Klagebegehren in Höhe von 2.088,67 DM nebst Zinsen entsprochen (Urteil veröffentlicht in NJW 1978, 2036).

Mit der zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils. Der Kläger bittet um Zurückweisung des Rechtsmittels.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat keinen Erfolg.

I.

Der Beklagten ist nach den rechtsfehlerfreien Ausführungen des Berufungsgerichts eine Verletzung der nach den Vorschriften über die Amtshaftung (§ 839 BGB, Art. 34 GG) zu beurteilenden Straßenverkehrssicherungspflicht gegenüber dem Kläger anzulasten.

1. Nach § 10 Abs. 1 des Niedersächsischen Straßengesetzes i.d.F. vom 30. Dezember 1965 (NdsGVBl S. 280) obliegen der Bau und die Unterhaltung der öffentlichen Straßen einschließlich der Bundesfernstraßen sowie die Überwachung ihrer Verkehrssicherheit den Organen und Bediensteten der damit befassten Körperschaften als Amtspflicht in Ausübung hoheitlicher Tätigkeit. Diese landesgesetzliche öffentlich-rechtliche Ausgestaltung der Pflichten der Amtsträger einer Gemeinde zur Sorge für die Verkehrssicherheit auf den öffentlichen Gemeindestraßen ist - wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 18. Dezember 1972 (- III ZR 121/70 -, BGHZ 60, 54) entschieden hat - nach der Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeit zwischen Bund und Ländern zulässig und begegnet auch sonst keinen aus dem Grundgesetz abzuleitenden verfassungsrechtlichen Bedenken.

2. a) Die öffentlich-rechtlich gestaltete Amtspflicht zur Sorge für die Verkehrssicherheit entspricht inhaltlich der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht (vgl. das o.a. Senatsurteil; Kodal, Straßenrecht, 3. Aufl., S. 999). Ihr Umfang wird dabei von der Art und der Häufigkeit der Benutzung des Verkehrsweges und seiner Bedeutung maßgebend bestimmt. Sie umfast die notwendigen Maßnahmen zur Herbeiführung und Erhaltung eines für den Straßenbenutzer hinreichend sicheren Straßenzustandes. Grundsätzlich muss sich der Straßenbenutzer allerdings den gegebenen Straßenverhältnissen anpassen und die Straße so hinnehmen, wie sie sich ihm erkennbar darbietet. Der Verkehrssicherungspflichtige muss in geeigneter und objektiv zumutbarer Weise alle, aber auch nur diejenigen Gefahren ausräumen und erforderlichenfalls, vor ihnen warnen, die für den Benutzer, der die erforderliche Sorgfalt walten lässt, nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag.

b) Die zuständigen Amtsträger der Beklagten sind nach den bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts den Anforderungen nicht nachgekommen, die nach den Umständen des Einzelfalles an die Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht zu stellen waren.

Von dem Kanaldeckel, gegen den das Fahrzeug des Klägers gestoßen ist, ging - wie das Berufungsgericht dargelegt hat - für den ortsunkundigen Straßenbenutzer eine besondere Gefahr aus. Er befand sich an einer unübersichtlichen Stelle in einer Kurve; zudem war an dieser Stelle der Untergrund des Seitenstreifens durch die die Kurve oft schneidenden Baufahrzeuge derart ausgefahren, dass sich für denjenigen, der diese Spur mit seinem Fahrzeug benutzte, der Niveauunterschied zu der Oberfläche des Kanaldeckels noch erhöhte.

Die Beklagte hätte daher - mochte der M.-Weg auch überwiegend dem örtlichen Verkehr dienen - die beschriebene gefährliche Stelle, solange eine ordentliche Befestigung des Seitenstreifens nicht möglich war, zumindest in der Weise sichern müssen, dass sie dort ein Balkengerüst oder Flatterband anbrachte und so den Verkehr an der Gefahrenstelle vorbeiführte.

3. a) Das Berufungsgericht ist der Ansicht, die Ehefrau des Klägers habe den Unfall mitverschuldet. Sei sie nämlich - so hat es erwogen - nicht schneller als 10 km/h gefahren, wie in erster Instanz behauptet, so hätte sie bei der nach den ihr erkennbaren Umständen gebotenen Aufmerksamkeit die Gefahr erkennen und ihr begegnen können. Sie sei dann ungeschickt gefahren und habe nicht die geringe Bodenfreiheit des VW-Porsche bedacht. Sei sie aber schneller in die Kurve gefahren, so liege darin ihr Verschulden.

Das Verschulden der Ehefrau des Klägers, so hat das Berufungsgericht dargelegt, erhöhe die Betriebsgefahr des PKW, die sich der Kläger anrechnen lassen müsse. Es wiege gegenüber der "fahrlässigen und nicht gerade besonders groben Amtspflichtverletzung der Beklagten" so schwer, dass eine Schadensteilung geboten sei.

b) Diese Abwägung wird zu Unrecht von der Revision angegriffen. Das Berufungsgericht hat ersichtlich das Verschulden der Ehefrau und die sich nachteilig auswirkende geringe Bodenfreiheit des VW-Porsche in seine Erwägungen einbezogen. Dass es diesen Umständen rechtsfehlerhaft nicht das ihnen zukommende Gewicht beigemessen hat, lässt sich nicht sagen. Die Revision übersieht das nach den Feststellungen des Berufungsgerichts erhebliche Verschulden der Beklagten. Die Gefahrenstelle war für ihre Bediensteten unschwer zu erkennen und leicht zu sichern.

II.

Das Berufungsgericht ist der Ansicht, dass die Beklagte den Kläger nicht auf einen Schadensersatzanspruch gegen seine Ehefrau als andere Ersatzmöglichkeit im Sinne des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB verweisen kann.

Dazu hat es ausgeführt: Der Kläger habe zwar einen mit seiner Frau vereinbarten Haftungsausschluss des Inhalts, dass bei Kraftfahrzeugunfällen nur derjenige von ihnen dem anderen hafte, der Halter des Unfallfahrzeugs sei, nicht zu beweisen vermocht. Auch schließe die Tatsache, dass die Eheleute in einer ungestörten Gemeinschaft lebten, für sich allein Schadensersatzansprüche des einen gegen den anderen aus unerlaubter Handlung nicht aus. Besondere Umstände, die eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten, lägen nicht vor.

Trotzdem führe § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB hier nicht zur Abweisung der Klage, weil es dem Kläger nicht zugemutet werden könne, seine Ehefrau über das Maß hinaus auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen, dass bei Berücksichtigung der der Beklagten anzulastenden Verursachung und Schuld an dem Unfall auf sie selbst entfalle. Hier decke sich die Mithaftungsquote des Geschädigten gegenüber der öffentlichen Hand mit derjenigen des Zweitschädigers (Ehefrau) im Verhältnis zu dieser. Der Kläger habe daher von vornherein gegen die öffentliche Hand einen Ersatzanspruch in Höhe der Quote, die auf sie nach dem Maß der beiderseitigen Verursachung entfalle.

Die Revision wendet sich gegen die Nichtanwendung der Verweisungsklausel des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB. Diese Rüge muss im Ergebnis erfolglos bleiben.

III.

1. Der Kläger kann - wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat - seine Ehefrau auf Schadensersatz in Anspruch nehmen. Denn auf schuldhafte Pflichtverletzung gestützte Schadensersatzansprüche des einen Ehegatten gegen den anderen sind nicht ohne weiteres ausgeschlossen. Die familienrechtliche Beziehung allein bildet für einen solchen Haftungsausschluss keinen zureichenden Grund. Weitere Umstände, die bei Berücksichtigung der sich aus der Ehe ergebenden Pflichten und Wirkungen ein Schadensersatzverlangen des Klägers gegen seine Ehefrau als unangemessen erscheinen lassen (vgl. BGHZ 61, 101, 105), hat das Berufungsgericht nicht festgestellt.

2. Ob den Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht die Nichtanwendung des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB begründet hat, zuzustimmen ist, bedarf keiner Entscheidung. Das Ergebnis des Berufungsgerichts erweist sich aus anderen Gründen als richtig.

Der Schadensersatzanspruch des Klägers gegen die Beklagte hängt nicht davon ab, dass er "nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag" (§ 839 Abs. 1 Satz 2 BGB; sogenannte Subsidiaritäts- oder Verweisungsklausel). Die Vorschrift des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB ist nicht anwendbar, wenn ein Amtsträger durch eine Verletzung der ihm als hoheitliche Aufgabe obliegenden Straßenverkehrssicherungspflicht einen Verkehrsunfall schuldhaft verursacht. An seiner früheren Rechtsprechung zur Anwendung der Verweisungsklausel in diesem Bereich (vgl. u.a. BGHZ 60, 54; NJW 1973, 463) hält der Senat nicht fest.

a) Der Senat hat in seinem Urteil vom 27. Januar 1977 (- III ZR 173/74 -, BGHZ 68, 217) ausgesprochen, das nach der Entwicklung des Straßenverkehrsrechts zu einem Ordnungsbereich mit eigenständigem Haftungssystem und eigenen haftungsrechtlichen Grundsätzen § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht mehr anwendbar ist, wenn ein Amtsträger bei der dienstlichen Teilnahme am allgemeinen Straßenverkehr - jedenfalls soweit er Sonderrechte nach § 35 StVO nicht in Anspruch nimmt - schuldhaft einen Verkehrsunfall verursacht.

Der Grundsatz der weitest möglichen haftungsrechtlichen Gleichbehandlung im Straßenverkehrsrecht verhindert nach den Grundsätzen des Senatsurteils vom 27. Januar 1977 (aaO.), dass der Verletzte vorrangig einen Zweitschädiger anstelle der nach Art. 34 GG verantwortlichen Körperschaft in Anspruch nehmen muss. Eine nach den Amtshaftungsregeln haftende Körperschaft kann den Verletzten und den Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, der Aufwendungen für den Verletzten erbringt und auf den dessen Schadensersatzansprüche aus dem Unfall übergehen (§ 1542 RVO), bei einer dienstlichen Teilnahme des Amtsträgers am allgemeinen Straßenverkehr nicht darauf verweisen, die Leistungen des Unfallversicherers bildeten eine andere Ersatzmöglichkeit für den Verletzten. Die Gleichheit der Rechte und Pflichten im Straßenverkehr, das Fehlen eines weitergehenden Rechtsgüterschutzes und einer erweiterten Haftung für alle Vermögensschäden bei der Amtshaftung in diesem Bereich und das Zurücktreten des ursprünglichen gesetzgeberischen Zwecke der Vorschrift des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB (Stärkung der Entschlusskraft des Beamten; Begrenzung des persönlichen Haftungsrisikos des Beamten in seiner besonderen amtlichen Beziehung zum Bürger) erfordern auf Grund der Entwicklung eines eigenständigen Haftungssystems des Straßenverkehrsrechts, dass sich die haftende Körperschaft auch in anderen Fällen nicht (nicht mehr) auf die dem Grundsatz der haftungsrechtlichen Gleichbehandlung widersprechende Vorschrift des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB berufen darf, wenn sie durch ihren Amtsträger am allgemeinen Straßenverkehr (ohne die Inanspruchnahme von Sonderrechten) teilnimmt. Der haftungsrechtliche Schutz des Geschädigten, den die nach Art. 34 GG haftende Körperschaft bei einer dienstlichen Teilnahme ihres Amtsträgers am allgemeinen Straßenverkehr zu gewähren hat, entspricht - jedenfalls wenn der Amtsträger Sonderrechte nach 35 StVO nicht in Anspruch nimmt - allgemein dem Haftungssystem im Ordnungsbereich des Straßenverkehrs.

b) Die Grundsätze dieser Entscheidung führen hier nicht ohne weiteres zu einer Einschränkung des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB. Die zuständigen Amtsträger der Beklagten nehmen mit dem Bau und der Unterhaltung sowie der Überwachung der Verkehrssicherheit eines öffentlichen Verkehrswegs nicht am allgemeinen Straßenverkehr teil, für den - wie dargelegt - der Grundsatz einer weitest möglichen haftungsrechtlichen Gleichbehandlung der Straßenverkehrsteilnehmer gilt. Der Senat hat in seinem Urteil vom 18. Dezember 1972 (BGHZ 60, 54) ausgesprochen, dass der Grundsatz der subsidiären Haftung bei einer nur fahrlässigen Verletzung einer öffentlichrechtlichen Verkehrssicherungspflicht nicht allgemein zu sachfremden und unerträglichen Ergebnissen führen muss. Er hat dabei berücksichtigt, dass die Interessenlage jeweils verschieden ist, wenn ein Eigentümer Grundflächen privatnützig dem allgemeinen Verkehr zugänglich macht oder wenn eine öffentlich-rechtliche Körperschaft im öffentlichen Interesse Straßen und Wege dem Gemeingebrauch eröffnet.

Gleichwohl hält es der Senat für gerechtfertigt, die aufgezeigten Grundsätze der Entscheidung vom 27. Januar 1977 (aaO.) auch hier anzuwenden. Die öffentlich-rechtlich gestaltete Amtspflicht zur Sorge für die Verkehrssicherheit entspricht inhaltlich der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht. Zudem steht die Pflicht zur Sorge für die Sicherheit einer öffentlichen Straße in einem engen Zusammenhang mit den Pflichten die einem Amtsträger als Teilnehmer am allgemeinen Straßenverkehr obliegen. Zum reibungslosen Ablauf des Straßenverkehrs ist eine verkehrssichere Straße ebenso notwendig wie die Beachtung der Verkehrsvorschriften durch die Verkehrsteilnehmer und die Benutzung technisch einwandfreier Fahrzeuge. Diese Umstände hält der Senat für so gewichtig, dass es geboten ist, auch dann dem Grundsatz der haftungsrechtlichen Gleichbehandlung den Vorrang vor der Verweisungsklausel des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB einzuräumen, wenn - wie hier - ein Amtsträger durch eine Verletzung der ihm als hoheitliche Aufgabe obliegenden Straßenverkehrssicherungspflicht einen Verkehrsunfall schuldhaft verursacht.

3. Demnach erweist sich die Revision im Ergebnis als unbegründet. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.

 

Fundstellen

Haufe-Index 3017212

BGHZ 75, 134

BGHZ, 134

NJW 1979, 2043

DRiZ 1979, 317

DAR 1980, 84

JZ 1979, 812

MDR 1979, 1004

VRS 57, 245

VersR 1979, 1009

DVBl. 1980, 89

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