Leitsatz (amtlich)
›Zum Begriff des Unfalls, insbes. des Plötzlichen in § 2 Nr. 1 AUB.‹
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Krankenhaustagegeld aus einer privaten Unfallversicherung:
Sie sei am 6. Februar 1981 an ihrem Arbeitsplatz zum Schließen eines Fensters auf eine etwa 50 cm hohe Bank gestiegen und anschließend heruntergesprungen. Bei dem überraschend heftigen Aufprall auf den Boden habe sie einen stechenden Schmerz in den Kniekehlen verspürt, anschließend einen starken Schmerz im Rücken. Der Aufprall habe einen Bandscheibenvorfall mit eingeklemmtem Nerv verursacht. Die Klägerin war nach diesem Ereignis wegen Bandscheibenvorfalls insgesamt 158 Tage lang in stationärer Behandlung in der Universitätsklinik G. und in einem Rehabilitationszentrum. Sie wurde zweimal operiert.
Die Beklagte sieht in dem Geschehen keinen Unfall. Sie bestreitet ferner den Ursachenzusammenhang zwischen Aufprall und Bandscheibenvorfall. Aus "Kulanzgründen" hat sie der Klägerin 1.000,- DM gezahlt.
Das Landgericht hat die auf Zahlung weiterer 4.350,- DM gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Mit der zugelassenen Revision verfolgt sie ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Oberlandesgericht.
I. Nach § 2 Nr. 1 AUB liegt ein Unfall vor, "wenn der Versicherte durch ein plötzlich von außen auf seinen Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsbeschädigung erleidet". Das Berufungsgericht ist - weitgehende übereinstimmend mit Wagner (Bruck/Möller/Wagner, VVG 8. Aufl. , Bd. VI 1 Anm. G44 ff., insbesondere G 48) - der Ansicht, die Klägerin habe schon nach ihrer eigenen Schilderung keine Unfall in diesem Sinne erlitten. Zwar sei in der stoßartigen Belastung beim Aufprall eine Einwirkung von außen zu sehen. Dabei spiele keine Rolle, daß die Klägerin selbst die erste Ursache für die Kollision ihres Körpers mit der Außenwelt gesetzt habe. Auch an der Unfreiwilligkeit der behaupteten Gesundheitsschäden könne nicht gezweifelt werden. Es fehle jedoch an dem Erfordernis der Plötzlichkeit; denn die Verletzungen seien die unvermeidbare Folge einer freiwilligen, gewollten und voll beherrschten eigenen Körperbewegung der Klägerin gewesen. Plötzlich sei ein Ereignis nur dann, wenn der Betroffene es nicht vorhergesehen habe und daher von ihm überrascht worden sei. Wer eine eigene Bewegung in voller Beherrschung so ausführe, wie er sich das vorgestellt habe, erfahre keine plötzliche Einwirkung. Unvermutet und nicht vorhergesehen sei dann lediglich die Verletzungsfolge. Hierdurch werde der Vorgang aber nicht zum Unfall.
Das behauptete Geschehen falle auch nicht nach § 2 Nr. 2 a AUB unter den Schutz der Unfallversicherung. Der Bandscheibenvorfall gehe nämlich nicht auf eine "Kraftanstrengung" der Klägerin zurück. Auch sei ein Bandscheibenvorfall weder eine Verrenkung, noch eine Zerrung oder Zerreißung der Wirbelsäule.
II. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Das vorgetragene Geschehen erfüllt alle Merkmale des Unfallbegriffs nach § 2 Nr. 1 AUB.
1. Der Aufprall der Klägerin stellt eine plötzliche Einwirkung im Sinne der genannten Klausel dar. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts spielt dabei keine rolle, daß der Absprung und der Aufprall auf den Fußboden vom Wille der Klägerin getragen war. Das Erfordernis des Plötzlichen dient der Abgrenzung der versicherten Risiken gegenüber solchen Ereignissen, die durch einen allmählichen, sich auf einen längeren Zeitraum erstreckenden Eintritt des schädigenden Umstandes gekennzeichnet sind. "Plötzlich" stellt in erster Linie ein zeitliches Element des Unfallbegriffs dar. Wenn sich das objektive Geschehen innerhalb eines kurzen Zeitraums verwirklicht hat, ist das Geschehen stets in diesem Sinne plötzlich. Wann daraus ein Schaden entsteht, spielt dabei keine Rolle. Der Begriff des "Plötzlichen" ist also insoweit objektiv zu verstehen. Auf die Erwartungen und Vorstellungen des Betroffenen kommt es dabei nicht an (BGH Urteil vom 5. Februar 1981 - IVa ZR 58/80 = NJW 1981, 1315 = VersR 1981, 450). Wer sich ein schädigendes Ereignis als möglich vorstellt, aber darauf vertraut, es werde nicht eintreten, kann sinnvollerweise vom Unfallversicherungsschutz nicht ausgeschlossen sein, wenn das Ereignis - unerwartet - doch eintritt. Anderenfalls wären wesentliche Lebensbereiche, die mit typischen Risiken behaftet sind, z.B. viele Sportarten, das Autofahren oder Arbeiten mit Maschinen, praktisch von vornherein von einem Unfallversicherungsschutz ausgenommen, obwohl häufig gerade diese Risiken durch die Versicherung abgedeckt werden sollen. Die Gewährung von Versicherungsschutz kann nicht davon abhängen, ob der Versicherungsnehmer die Vorstellungskraft hatte, ein schädigendes Ereignis vorherzusehen oder nicht, noch weniger davon, ob er es hätte vorhersehen können oder müssen; denn der Begriff des Unfalls ist - sofern nicht die in § 2 Nr. 1 AUB vorausgesetzte Unfreiwilligkeit fehlt - von der Frage eines eigenen Verschuldens des Betroffenen am Eintritt des Schadens unabhängig.
Allerdings ist in der Rechtsprechung wiederholt der Versicherungsschutz auch auf solche Ereignisse erstreckt worden, die zwar nicht innerhalb eines kurzen Zeitraums eingetreten sind, deren Eintritt für den Betroffenen jedoch unerwartet und unentrinnbar war (RGZ 97, 189, 190; RG VerAfP 1911, Nr. 624; BGH Urteil vom 6. Februar 1954 - II ZR 65/53 = NJW 1954, 596 = VersR 1954, 113, 114). Ein solcher Fall, bei dem für den Begriff "Plötzlich" auch subjektive Erwartungen von Bedeutung sind, liegt indessen hier nicht vor.
Das Berufungsgericht charakterisiert zu Recht das vorgetragene Geschehen als eine "stoßweise Überbelastung" der Bandscheiben und eine "schlagartige Übertragung" der Bewegungsenergie. Daß der Aufprall nach einem Sprung oder Sturz ein kurzfristiges Ereignis darstellt, steht außer Zweifel. Die zeitliche Komponente des Unfallbegriffs ist im vorliegenden Fall daher erfüllt. Bereits damit wird der Vorgang zu einem plötzlichen Ereignis im Sinne von § 2 Nr. 1 AUB.
2. Das Berufungsgericht stellt darauf ab, daß die Klägerin ihren Bewegungsvorgang völlig beherrscht habe, weil sie - wie geplant - mit beiden Füßen auf dem Boden gelandet und zum Stand gekommen sei. Richtig daran ist, daß als Unfall im sinne von § 2 Nr. 1 AUB nur ein nicht beherrschtes und damit unfreiwilliges Geschehen angesehen werden kann (BGH VersR 1981, 450). Der Handelnde kann einen Vorgang nach allgemeinem Sprachverständnis aber nur dann in vollem Umfang beherrschen, wenn er dessen Folgen kennt, sich zumindest der Gefährlichkeit seines Tuns hinreichend bewußt ist (Prölss/Martin, VVG 23. Aufl. § 182 Anm. 3 c; RGZ 55, 408, 411; RG VerAfP 1913 Nr. 738). Denn die Freiwilligkeit bezieht § 2 Nr. 1 AUB nicht auf das Unfallereignis, sondern auf die dadurch verursachte Gesundheitsbeschädigung (RG VerAfP 1922 Nr. 1244). Erwartete also die Klägerin, wie sie vorträgt, sie werde den Aufprall auf den Boden ohne nachteilige Folgen überstehen, und zog sie sich entgegen dieser Erwartung beim Aufprall einen körperlichen Schaden zu, so beherrschte sie den Vorgang nicht. Ihre Fehleinschätzung der Gefährlichkeit machte ihn zu einem unfreiwilligen Geschehen.
Der vom Berufungsgericht herangezogene, nach seiner Auffassung als Unfall zu wertende Vergleichsfall, in dem der Betroffene nach einem Sprung ungeschickt aufkommt und deshalb stürzt, ist wie der vorliegende Sachverhalt gekennzeichnet durch eine verhängnisvolle Fehleinschätzung des Versicherten. einmal wird erwartet, der Sprung könne bis zum Stand durchgestanden werden, im anderen Fall wird davon ausgegangen, die Wucht des Aufpralls könne ohne nachteilige Folgen aufgefangen werden. Bei solch schicksalhaftem Verlauf kommt den Unterschieden zwischen beiden Fallgestaltungen keine entscheidende Bedeutung zu.
III. Das Berufungsurteil kann danach keinen Bestand haben. Dem Senat ist eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits verwehrt. Das Berufungsgericht hat - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - zur Ursächlichkeit des Sprunges für den Bandscheibenschaden der Klägerin und zum Charakter der stationären Behandlung in dem Rehabilitationszentrum keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Das wird in der erneuten Verhandlung nachzuholen sein.
Fundstellen
Haufe-Index 2992761 |
NJW 1985, 1398 |
DRsp II(230)96b |
MDR 1985, 828 |