Leitsatz (amtlich)
Durch Säuren oder Laugen hervorgerufene Verätzungen oder Verbrennungen stellen auch dann, wenn sie im Innern des Körpers eintreten, keine Vergiftung im Sinne von §2 Ziff II 2 a AUB dar.
Normenkette
Allgemeine Unfallversicherungsbedingungen § 2 Ziff. II
Verfahrensgang
OLG Karlsruhe (Entscheidung vom 04.11.1953) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts in Karlsruhe vom 4. November 1953 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger, der eine Bäckerei betreibt, ist bei der Beklagten gegen Unfall mit Versicherungssummen von 5.000 DM für den Todesfall und 20.000 DM für den Fall der Invalidität versichert. Am 29. März 1951 wollte er aus seinem Keller einen Krug Most holen. Als er aus einer der dort lagernden Korbflaschen mit Hilfe eines Schlauches den flüssigen Flascheninhalt ansaugte, ergab sich, dass er versehentlich an eine Flasche mit konzentrierter Brezellauge geraten war. Die angesaugte Lauge verursachte im Mund, Rachen, Kehlkopf, Magen und in der Luftröhre des Klägers so erhebliche Verätzungen, dass zur Abwendung der mit ihnen verbundenen Erstickungsgefahr eine sofortige Operation vorgenommen werden musste. Die infolge der Verletzungen eingetretene Invalidität hat die zuständige Berufsgenossenschaft ab 29. Juni 1951 in Höhe von 66 2/3 % und ab 21. Oktober 1952 in Höhe von 55 % anerkannt. Der Kläger verlangt nunmehr die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten, ihm aus der Unfallversicherung Versicherungsschutz zu gewähren. Die Beklagte bezweifelt, dass das versehentliche Schlucken der Lauge überhaupt als Unfall im Sinne von §2 Ziff I AUB anzusehen sei. Nach dieser Bestimmung liegt ein Unfall dann vor, wenn der Versicherte durch ein plötzlich von aussen auf seinen Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. Die Beklagte beruft sich weiter auf §2 Ziff II 2 a AUB, wonach "Vergiftungen" nicht als Unfall gelten sollen. Die Beklagte meint, dass sich die vom Kläger erlittenen Verletzungen als Vergiftungen darstellten. Beide Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der Revision, um deren Zurückweisung der Kläger bittet, erstrebt die Beklagte weiter die Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe
1.)
Wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt, kann nicht zweifelhaft sein, dass der Kläger die Verletzungen unfreiwillig durch ein plötzlich von aussen auf seinen Körper einwirkendes Ereignis erlitten hat, dass es sich also bei dem Vorgang um einen Unfall im Sinne von §2 Ziff I AUB handelt. Auch die Revision erhebt hiergegen keine Einwendungen mehr. Der Streit der Parteien geht jetzt nur noch darum, ob die Verletzungen eine vom Versicherungsschutz ausgeschlossene Vergiftung im Sinne von §2 Ziff II 2 a AUB darstellen.
2.)
Dies hat das Berufungsgericht mit Recht verneint. Nach seinen zutreffenden Ausführungen ist für die Auslegung des Begriffs der "Vergiftung" nicht die fachwissenschaftliche Ausdrucksweise der ärztlichen Wissenschaft, sondern, wie auch die Beklagte einräumt, der allgemeine Sprachgebrauch des täglichen Lebens massgebend (RGZ 97, 189 [190]; 120, 18 [20]; RG VA 1911 Nr. 624; Bruck-Möller VVG 8. Aufl. Einl. Anm. 56). Dieser wird entgegen der Auffassung der Revision nicht von den in den allgemein gebräuchlichen Konversationslexiken aufgeführten Definitionen bestimmt, sondern entwickelt sich, wie das Berufungsgericht mit Recht ausführt, in der Umgangssprache auf Grund von bestimmten Vorstellungsbildern, die der Durchschnittsmensch mit dem betreffenden Ausdruck verbindet. Es kann auch nicht, wie die Beklagte meint, allgemein gesagt werden, dass der Sprachgebrauch des täglichen Lebens grundsätzlich zu einer Vereinfachung und Verallgemeinerung der Begriffe neige und deshalb regelmässig weiter als die Fachsprache sei. Gerade im medizinischen Bereich ist nicht selten das Gegenteil der Fall (vgl. Bruck-Möller a.a.O.). So wird auch unter dem Wort "Vergiftung" im allgemeinen Sprachgebrauch nicht, wie in der medizinischen Fachsprache, jede Schädigung des Körpers oder eines inneren Körperorgans durch Stoffe verstanden, die vermittels chemischer oder chemischphysikalischer Einwirkung schon in kleinen Mengen Gesundheitsschädigungen hervorrufen können. Wie schon das Reichsgericht ausgeführt hat, grenzt vielmehr der Sprachgebrauch des täglichen Lebens z.B. die Gasvergiftung gegenüber der allgemeinen Vergiftung ab. Für sie hat sich beim Durchschnittsmenschen ein eigenes, mit dem besonderen Ausdruck "Gasvergiftung" bezeichnetes Vorstellungsbild entwickelt und deshalb kann sie auch bei der Auslegung der AVB nicht als von dem Begriff der "Vergiftung" mit erfasst angesehen werden (RGZ 120, 18 [20]). In noch stärkerem Maße gilt dies dann, wenn durch Säuren oder Laugen Verätzungen oder Verbrennungen hervorgerufen werden. Wie das Berufungsgericht mit Recht hervorhebt, weisen diese Fälle gegenüber den allgemeinen Vergiftungen die Besonderheit auf, dass sie örtlich begrenzte, sofort wirksam werdende Primärschäden hervorrufen, die sowohl auf der Aussenhaut als auch im Innern des Körpers eintreten können. Diese Besonderheit ist so augenfällig, dass der allgemeine Sprachgebrauch solche Schädigungen in beiden Fällen in gleicher Weise als Verätzungen oder Verbrennungen, nicht aber als Vergiftungen zu bezeichnen pflegt. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts in Düsseldorf (JR PrV 1937, 344), in der eine durch Essigessenz hervorgerufene Verätzung als Vergiftung angesehen worden ist, lässt diesen Gesichtspunkt ausser Betracht und kann deshalb nicht gebilligt werden. Die Auffassung, dass Verätzungen und Verbrennungen durch Säuren oder Laugen nicht unter den Begriff der Vergiftung fallen, ist auch in der Versicherungspraxis verbreitet (vgl. Neumanns Z 1940, 447; Prölss VVG 8. Aufl. §2 AUB Anm. 3) und ist nach der unstreitigen Behauptung des Klägers bei einer Umfrage des Bundesaufsichtsamts auch von einem Teil der Unfallversicherer selbst geteilt worden. Die Signal Versicherungsgesellschaft, bei der der Kläger zu den gleichen Versicherungsbedingungen ebenfalls gegen Unfall versichert ist, hat sogar in der vom Kläger vorgelegten Werbeschrift "Unfälle durch Vergiftungen durch Gase, Verbrennungen, Verbrühungen" ausdrücklich als vom Versicherungsschutz erfasst bezeichnet.
Da hiernach die Ausschlussklausel des §2 Ziff II 2 a AUB nicht eingreift, haben die Vorinstanzen der Klage mit Recht stattgegeben. Die Revision der Beklagten war deshalb mit der Kostenfolge aus §97 ZPO zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 3018526 |
DB 1955, 648 (Volltext mit amtl. LS) |