Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Mißbrauch von Kindern
Leitsatz (amtlich)
Zur Unterbrechungswirkung der Anordnung der ersten Vernehmung des Beschuldigten in einem Ermittlungsverfahren wegen serienmäßig begangenen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes.
Normenkette
StGB § 78c Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
LG Verden (Aller) (Beschluss vom 18.10.1999; Aktenzeichen 3 - 36/98 - KLs 10 Js 14030/97) |
Tenor
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Verden vom 18. Oktober 1999 wird verworfen.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen in vier Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Beischlaf zwischen Verwandten, sowie wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg. Die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben, insbesondere ist keine der abgeurteilten Taten verjährt.
Nach den Feststellungen hat der Angeklagte an seiner am 22. September 1979 geborenen Tochter Monika in der Zeit von ihrem 7. oder 8. Lebensjahr bis zu ihrem Auszug aus seiner Wohnung am 19. Juni 1995 in sieben Fällen sexuelle Handlungen vorgenommen, von denen drei vor Vollendung des 14. Lebensjahres (Fälle II. 1, 2 und 7 der Urteilsgründe) und vier nach dieser Altersgrenze (Fälle II. 3 – 6 der Urteilsgründe) begangen worden sind.
Strafverfolgungsverjährung ist entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts auch hinsichtlich der Fälle II. 4 bis 6 der Urteilsgründe nicht eingetreten. Diese Taten, die zwischen dem 14. Geburtstag des Opfers (22. September 1993) und dem 19. Juni 1995 begangen worden sind, waren während des Ermittlungsverfahrens noch nicht im einzelnen bekannt, da sie die Geschädigte bei ihrer polizeilichen Vernehmung am 21. Februar 1997 noch nicht geschildert, sondern erst der im Strafverfahren hinzugezogenen Sachverständigen gegenüber offenbart hatte. Sie konnten demzufolge noch nicht in die Anklage vom 26. September 1997 aufgenommen werden, sondern mußten zusammen mit dem Fall II. 7 der Urteilsgründe, der bereits im Ermittlungsverfahren von der Mutter der Geschädigten berichtet worden war, zum Gegenstand der weiteren Anklage vom 3. Februar 1999 gemacht werden.
Die fünfjährige Verjährungsfrist des § 78 Abs. 2 Nr. 4 StGB, die frühestens am 22. September 1993 zu laufen begonnen hatte, ist durch die Ladung des Angeklagten vom 21. Mai 1997 zu seiner ersten Vernehmung als Beschuldigter auch hinsichtlich dieser Taten unterbrochen worden. Die Wirkung einer Unterbrechungshandlung nach § 78 Abs. 1, § 78 c Abs. 1 StGB erstreckt sich grundsätzlich auf die Tat als ein „historisches” oder „konkretes” Vorkommnis (BGHSt 22, 105, 106; 22, 375, 385). Dabei braucht dieses Geschehen zwar noch nicht in allen Einzelheiten, die zu Beginn eines Ermittlungsverfahrens oft erst noch geklärt werden müssen, festzustehen. Es sind jedoch Anhaltspunkte nötig, die es von denkbaren anderen ähnlichen oder gleichartigen Lebenssachverhalten unterscheiden (BGH aaO). Wird wegen mehrerer Taten ermittelt, so bezieht sich die Unterbrechungswirkung grundsätzlich auf alle verfahrensgegenständliche Taten, sofern nicht der Verfolgungswille des tätig werdenden Strafverfolgungsorgans erkennbar auf eine oder mehrere Taten beschränkt ist (BGHR StGB § 78 c I Handlung 4; § 78 c I Nr. 1 Bekanntgabe 2). Dabei kann bei einer Vielzahl von Taten zu Beginn der Ermittlungen eine zusammenfassende Kennzeichnung des Tatkomplexes ausreichend sein, wobei die Aufführung aller zugehörigen Einzelfälle häufig noch gar nicht möglich, aber auch nicht erforderlich ist (G. Schäfer, Festschrift für Dünnebier 1982, S. 548, 549). So hat der Bundesgerichtshof in einem Fall, in dem der Verdacht der Veruntreuung von Mandantengeldern durch einen Rechtsanwalt in einer erheblichen Zahl von Fällen bestand, die Durchsuchungsanordnung zur „Ermittlung weiterer Veruntreuungen” auf alle in dieser Anwaltspraxis begangenen Veruntreuungen von Mandantengeldern bezogen erachtet (BGH, Urt. vom 25. Juli 1978 – 5 StR 130/78, zit. bei G. Schäfer aaO Fn. 34). Dagegen hat er in einem anderen Fall, in dem sich die Strafverfolgung nur auf eine kleine Anzahl bekannter Fälle (veruntreute Gelder bestimmter Mandanten) bezogen hatte, die Erstreckung auf andere „unbestimmte Sachen bei unbestimmten Mandanten” abgelehnt (BGH bei Dallinger, MDR 1956, 395, 396). In einem weiteren Fall eines Tatkomplexes, in dem der Durchsuchungsbeschluß damit begründet war, bei einem bestimmten Bauvorhaben seien zum Teil erhebliche Handwerkerforderungen unbezahlt geblieben, hat er die Unterbrechungswirkung auf alle Fälle der an diesem Vorhaben beteiligten Handwerker und Lieferanten bezogen, gleich ob bereits eine Strafanzeige oder die Äußerung eines Geschädigten vorlag. Auch soweit in dem gleichen Fall der Angeklagte Zahlungen von Kaufinteressenten für sich abgezweigt haben soll, war es nicht erforderlich, daß die einzelnen Geschädigten bereits bekannt waren. Die genau umschriebene Begehungsweise habe dem Bedürfnis genügt, die von der Unterbrechung betroffenen Taten von denkbar ähnlichen oder gleichartigen Vorkommnissen, auf die sich die Verfolgung nicht bezog, zu unterscheiden (BGH, Urt. vom 17. Februar 1981 – 1 StR 546/80, zit. bei G. Schäfer aaO; z.T. zit. bei Holtz MDR 1981, 453).
Danach hängt es von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab, welche Taten innerhalb eines bestimmten Geschehenskomplexes Gegenstand einer Untersuchungshandlung sind. Für die Bestimmung des Verfolgungswillens der Strafverfolgungsorgane ist neben dem Wortlaut der Verfügung auch der Sach- und Verfahrenszusammenhang entscheidend, wobei der Akteninhalt zur Auslegung heranzuziehen ist (vgl. BGH, Beschl. vom 5. April 2000 – 5 StR 226/99).
Hier ergeben die konkreten Umstände des Ermittlungsverfahrens, daß im Zeitpunkt der Anordnung der ersten Vernehmung des Beschuldigten am 21. Mai 1997 Gegenstand der Strafverfolgung alle sexuellen Mißbrauchshandlungen des Beschuldigten gegenüber seiner Tochter Monika in der Zeit von 1986 bis zum 19. Juni 1995 waren. Wie sich aus den Akten ergibt, hat die Geschädigte gegenüber der Betreuerin V. in einem Berufsbildungswerk für behinderte junge Menschen nähere Angaben über den Mißbrauch durch ihren Vater gemacht, die die Zeugin V. in einem schriftlichen Vermerk (Bd. I Bl. 9 – 10 d. SA) festgehalten hat, den schließlich ein Sozialpädagoge dieser Einrichtung der Kriminalpolizei übergeben hat. Danach fand „ca. seit dem 10. Lebensjahr Belästigung” durch den Vater statt, der dann beispielhaft („z.B. Hand auf Penis legen”) geschildert wird. Die Schilderung der Gelegenheiten, bei denen Vater und Tochter allein waren, deutet ebenfalls auf eine Vielzahl von Vorgängen hin („Mutter und Bruder in der Küche oder aus dem Haus, oder wurden zum Einkaufen, Essen holen, in den Keller geschickt”), wobei dieser Abschnitt der Mißbrauchsschilderung mit der Anmerkung „Bis ca. 11 – 12 Jahren ging das so” abgeschlossen worden ist. Der nächste Abschnitt betraf das Einsetzen der weiblichen Entwicklung, insbesondere das Wachsen der Brust des Mädchens. Auch hierzu wurde ein „Beispiel” des veränderten Mißbrauchsverhaltens geschildert (sie muß sich auf seinen Schoß setzen, er berührt sie an der nackten Brust). Schließlich wird für den Altersabschnitt „ca. 14 – 15 Jahre alt” wiederum ein „Beispiel” mit Geschlechtsverkehr dargestellt. Bereits aus diesem Vermerk ergibt sich der Verdacht einer Vielzahl von Mißbrauchsfällen, die sich im Laufe der Zeit und entsprechend der Entwicklung des Mädchens in ihrer Intensität steigerten.
Dem entspricht, daß die Mutter der Geschädigten als gesetzliche Vertreterin am 27. Februar 1997 einen schriftlichen Strafantrag wegen „sexuellen Mißbrauchs ab ca. 1986 bis 1995” durch ihren Ehemann an der gemeinsamen Tochter Monika gestellt hat (Bd. I Bl. 3 d. SA). Auch wenn die Geschädigte selbst bei ihrer Vernehmung durch die Kriminalpolizei am 21. Februar 1997 (Bd. I Bl. 12-21 d. SA) lediglich drei Mißbrauchsfälle geschildert hat, die den drei für die jeweiligen Altersabschnitte dargestellten Beispielsfällen in dem Vermerk der Betreuerin V. entsprechen, rechtfertigt dies eine Beschränkung des Verfahrensgegenstandes auf diese drei Fälle nicht. Nach dem Vermerk der vernehmenden Kriminalbeamtin (Bd. I Bl. 4 d. SA) machte die damals 17jährige Geschädigte den Eindruck eines erst 15jährigen Mädchens, wobei sich die Vernehmung wegen ihrer Zurückhaltung als schwierig erwies. Zudem ergibt bereits die am 27. Februar 1997 erfolgte Vernehmung der Mutter der Geschädigten (Bd. I Bl. 23 – 29 d. SA), daß diese ihr erzählt hat, der Angeklagte habe sie bis zum Einsetzen der ersten Periode zunächst „häufiger” am Busen gestreichelt, er hätte sie auch „häufiger” aufgefordert, mit der Hand an sein Geschlechtsteil zu fassen. Schließlich hat sie ihrer Mutter noch eine konkrete Tat in einem LKW geschildert (= Fall II. 7 der Urteilsgründe), den sie der Kriminalbeamtin gegenüber verschwiegen hat.
Diese Umstände belegen, daß nicht davon ausgegangen werden konnte, die Geschädigte habe bei der polizeilichen Vernehmung umfassend das gesamte Mißbrauchsgeschehen geschildert, und daß somit nur noch diese drei Taten Gegenstand des Verfahrens waren. Vielmehr bestand weiterhin der konkrete Verdacht, daß es über die drei genannten Einzelfälle hinaus noch zu mehreren Mißbrauchsfällen im fraglichen Zeitraum gekommen ist, zumal es bei – insbesondere jungen – Mißbrauchsopfern nicht selten vorkommt, daß sie nur einen Teil des sie belastenden Geschehens offenbaren, sei es aus Scham oder weil sie die unangenehmen Erlebnisse verdrängen wollen, sei es, um den nahen Angehörigen nicht allzu sehr zu belasten. Danach bezog sich die Vorladung des Angeklagten zur ersten Beschuldigtenvenehmung vom 21. Mai 1997 auf alle von ihm im Tatzeitraum gegenüber seiner Tochter begangenen Mißbrauchstaten. Dem steht nicht entgegen, daß die Anklage vom 26. September 1997 nach Einstellung des Verfahrens wegen weiterer in Betracht kommender sexueller Übergriffe gemäß § 154 Abs. 1 StPO sich zunächst auf die genannten drei im Sinne des § 200 StPO hinreichend konkretisierten Einzelfälle beschränkt hat, nachdem der Angeklagte keine Angaben zur Sache gemacht hatte und die Geschädigte als Zeugin damals nur diese Fälle zu schildern bereit war.
Unterschriften
VRiBGH Kutzer ist erkrankt und kann daher nicht unterschreiben. Winkler, Ri'inBGH Rissing-van Saan befindet sich in Urlaub und kann daher nicht unterschreiben. Winkler, Winkler, Pfister, von Lienen
Fundstellen
Haufe-Index 540669 |
NJW 2000, 2829 |
NStZ 2001, 191 |
Nachschlagewerk BGH |
wistra 2000, 383 |
StraFo 2000, 391 |