Entscheidungsstichwort (Thema)
versuchter Totschlag
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 22. Juni 1999 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe
I.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung und wegen versuchten Totschlags zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil richtet sich die zum Nachteil des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft, mit der die Verletzung materiellen Rechtes gerügt wird. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
II.
1. Am 30. September 1998 befanden sich der Angeklagte, sein Freund M. und das spätere Tatopfer E. in einer Gaststätte. M. und E. hatten eine Auseinandersetzung. Der erboste E. verließ das Lokal, drohte aber wiederzukommen. Er holte ein großes Brotmesser und lauerte M. auf. Als der Angeklagte und M. das Lokal verließen und sich gerade getrennt hatten, sprang E. hervor und brachte dem überraschten M. mit dem Messer am Kopf eine lange Schnittverletzung bei. M. schrie um Hilfe und rannte in Todesangst davon; E. verfolgte ihn. Der Angeklagte folgte den beiden, um seinem Freund zu helfen. E. unterbrach die Verfolgung M.'s und wandte sich, das Messer in der Hand haltend, nunmehr angriffsbereit dem Angeklagten zu. Dieser prallte in vollem Lauf auf E. und riß ihn zu Boden, wobei diesem das Messer aus der Hand fiel. Es kam zu einem Kampf am Boden, wobei es dem Angeklagten gelang, in den Besitz des Messers zu kommen, mit dem er nun auf seinen Gegner einstach. Die Reihenfolge der Stich- und Schnittverletzungen ließ sich nicht sicher feststellen. Die Kammer ging deshalb zugunsten des Angeklagten davon aus, daß er E. neben Abwehrverletzungen an Arm und Hand als erstes die drei tiefen Stichverletzungen an der Rückseite des rechten Oberschenkels zufügte, unter denen sich die später zum Tode führende Schlagaderverletzung befand. Während dieser Phase des Kampfes mußte der Angeklagte sich noch gegen den Angriff seines Gegners wehren und damit rechnen, daß dieser die Absicht hatte, ihm das Messer wieder zu entwinden und es dann gegen ihn (den Angeklagten) zu richten. Das änderte sich, nachdem der Angeklagte die ersten Stiche gesetzt hatte. Infolge der ihm zugefügten schweren Verletzung schwand die Angriffskraft E.'s und es gelang dem Angeklagten, seinen Gegner mit dem Rücken auf den Boden zu fixieren und sich – das Gesicht in Richtung von dessen Füßen, den Rücken zu E.'s Kopf – auf seinen Brustkorb zu setzen oder zu knien. Obwohl der Angeklagte erkannte, daß er seinen Angreifer überwältigt hatte und von diesem, seit er schwerverletzt auf dem Rücken lag, keine Gefahr mehr befürchten mußte, stach er wuchtig mindestens viermal weiter mit dem Messer auf E. ein, gezielt in den Bereich der Beine, wobei er E. nicht töten, sondern nur verletzen wollte. Er nahm bewußt davon Abstand, E. in den Oberkörper-Bauchbereich zu stechen, obwohl ihm dies möglich gewesen wäre. M., der zunächst weitergelaufen war, kam zurück und sah E. reglos und blutend am Boden liegen. Dem Angeklagten wurde bewußt, daß er „etwas Schlimmes getan” hatte. Er sprang auf, rief zu M. „Laß uns abhauen!”, und beide rannten zum Pkw des Angeklagten. Der Angeklagte glaubte in diesem Augenblick nicht, daß E. bereits im Sterben lag, aber es war ihm klar, daß er ihn durch die heftigen Stiche so schwer verletzt hatte, daß dieser ohne ärztliche Behandlung verbluten würde. Obwohl er nicht damit rechnete – was in Anbetracht der tiefen Nachtzeit, der menschenleeren Örtlichkeit und des Regenwetters auch nicht anzunehmen war –, daß dem Verletzten rechtzeitig Hilfe zuteil werden würde, fuhr er mit M. davon. Er tat dies, weil er wegen seiner Vorstrafen befürchtete, daß die Polizei ihm nicht glauben würde, und nahm den Tod des E. durch Verbluten dabei billigend in Kauf.
E. wurde ins Krankenhaus eingeliefert und verstarb infolge der erhaltenen Verletzungen.
„Der Tod trat ein infolge der Durchtrennung der rechten Oberschenkelschlagader und vielfältiger Verletzungen kleinerer Gefäße im Bereich der übrigen Wunden, die zu einem massiven Blutverlust führten, der auch durch intensivärztliche Maßnahmen mit Massenbluttransfusionen nicht mehr abzuwenden war, so daß schließlich unter den Zeichen der allgemeinen Blutgerinnungsstörung und Ausprägung von Schockorganen der Tod eintrat” (UA S. 14/15).
Das Landgericht ist davon ausgegangen, daß die tödlichen Stiche durch Notwehr gerechtfertigt waren. In den anschließenden weiteren vier Stichen hat es eine gefährliche Körperverletzung gesehen. In Tatmehrheit hierzu hat es versuchten Totschlag durch Unterlassen angenommen. Der Angeklagte habe durch sein vorangegangenes Tun eine Garantenpflicht gegenüber dem Opfer gehabt. Da die unterlassene Hilfeleistung aber – was der Angeklagte nicht habe wissen können – nicht kausal für den Tod des E. gewesen sei, sei „nur” wegen eines versuchten Totschlags zu verurteilen.
III.
Das Urteil war aufzuheben. Die Feststellungen zur Todesursache sind widersprüchlich.
Die Kammer ist an mehreren Stellen des Urteils zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen, daß dieser „als erstes die drei tiefen Stichverletzungen, unter anderem die später zum Tode führende Schlagaderverletzung”, zufügte. Andererseits hat das Tatgericht festgestellt, daß der Tod infolge der Durchtrennung der rechten Oberschenkelschlagader und vielfältiger Verletzungen kleinerer Gefäße im Bereich der übrigen Wunden … eingetreten ist. Er sei infolge der „erhaltenen Verletzungen” verstorben. Nach letzterer Feststellung waren die weiteren Stiche mitursächlich für den Tod des Opfers. Dies läßt sich nicht damit vereinbaren, daß nur die ersten (durch Notwehr gerechtfertigten) Stiche todesursächlich waren.
Eine eindeutige Feststellung der Todesursache ist für den Schuldspruch aber von entscheidender Bedeutung:
1. Waren nur die ersten (durch Notwehr gerechtfertigten) Stiche todesursächlich, wäre der Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung – im Hinblick auf die vier weiteren Stiche – zutreffend. Körperverletzung mit Todesfolge läge nicht vor, da durch diese Stiche der Tod nicht verursacht wurde.
Durch die ersten Stiche hatte der Angeklagte bei E. rechtmäßig den Tod herbeigeführt. Eine Verurteilung gleichwohl wegen (versuchten) Totschlags (durch Unterlassen) käme danach nicht ohne weiteres in Betracht. Wäre das Opfer sofort gestorben, läge dies auf der Hand. Die Rechtslage ändert sich aber insoweit nicht dadurch, daß der Tod mit einiger Verzögerung eintrat; denn er konnte nicht abgewendet werden. Da die ersten Stiche in Notwehr erfolgten, haben sie hier zu keiner Garantenstellung des Angeklagten geführt (vgl. BGHR StGB § 13 Abs. 1 Garantenstellung 2 = NJW 1987, 850). Denn das Bestehen einer Garantenstellung aus vorangegangenem Verhalten setzt jedenfalls eine Pflichtwidrigkeit voraus (vgl. u.a. BGH NStZ 1998, 83; vgl. auch BGHSt 37, 106, 115). Die Verletzung eines Angreifers in Notwehr macht daher in der Regel den Angegriffenen nicht zum Garanten für das Leben des Angreifers (vgl. BGH, Urt. v. 29. Juli 1970 - 2 StR 221/70, auszugsweise wiedergegeben in BGHSt 23, 327 und BGH MDR 1971, 59; vgl. auch Bringewat MDR 1971, 716, 717; insoweit auch zustimmend Maiwald JuS 1981, 473, 483). Ein Ausnahmefall, daß der Angreifer „zurechnungsunfähig oder sonst schuldlos ist” (vgl. BGHSt 23, 327, 328), liegt hier nicht vor.
Die weiteren – pflichtwidrigen und zur Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung führenden – Stiche haben hier ebenfalls keine Garantenstellung begründet. Pflichtwidriges Vorverhalten begründet nur dann eine Garantenstellung, wenn es die nahe Gefahr des Eintritts des konkret untersuchten tatbestandsmäßigen Erfolges verursacht (vgl. u.a. BGH NStZ 1998, 83; BGH StV 1998, 127, 128; BGH NJW 1992, 1246, 1247; BGHR StGB § 27 Abs. 1 Unterlassen 3).
Die gefährliche Körperverletzung hat hier nicht die nahe Gefahr des Todes verursacht. Eine Körperverletzung löst nur dann eine Garantenstellung aus, wenn sie einen gefahrerhöhenden Zustand bewirkt hat. Das ist hier nicht der Fall. Bei einem – unrettbar – tödlich Verletzten kann ein die Todesgefahr erhöhendes Tun nur darin gesehen werden, daß hierdurch der Tod beschleunigt werden konnte. Diese Gefahr ist im vorliegenden Fall durch die Unterstellung, daß die weiteren Stiche für den Tod nicht einmal mitursächlich waren, das heißt diesen auch nicht beschleunigt haben, ausgeräumt. Denn sie waren nicht nur nicht todesursächlich, was allein den Rückschluß nahelegt, daß auch eine diesbezügliche Gefahr nicht bestand, sondern sie konnten in der konkreten Situation auch keinen gefahrerhöhenden Zustand verursachen. Eine solche Gefahr ist vom Tatrichter auch nicht festgestellt worden. Er hat vielmehr die Verwirklichung des Tatbestandes der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) verneint, weil hier der Körperverletzung nicht die tatbestandsspezifische Gefahr des tödlichen Ausganges anhaftete. Er hat sogar – gestützt auf die Ausführungen des Sachverständigen Professor B. – noch nicht einmal eine abstrakte Gefahr für das Leben des bereits tödlich Verletzten angenommen und deshalb auch die Alternative „mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung” (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) ausdrücklich abgelehnt (UA S. 23).
Eine (gefährliche) Körperverletzung, die – hier fiktiv – keinerlei Gefahr für das Leben des Opfers bewirkt, löst keine Garantenstellung aus.
Es liegt daher zum einen kein pflichtwidriges, zum anderen kein gefahrerhöhendes vorausgehendes Tun vor; eine Garantenstellung bestand danach nicht.
In Betracht kommen kann insoweit aber unterlassene Hilfeleistung (§ 323 c StGB). Dem steht nicht entgegen, daß der Tod des Opfers letztlich nicht abgewendet werden konnte. Denn auf die Erfolgsaussichten der Hilfeleistung kommt es grundsätzlich nicht an (vgl. u.a. BGH NStZ 1985, 409, 410; BGH, Urt. v. 29. Juli 1970 - 2 StR 221/70, insoweit nicht in BGHSt 23, 327 abgedruckt). Regelmäßig schließt nur der sofortige Tod des Opfers die Erforderlichkeit der Hilfeleistung aus (vgl. u.a. BGH, Urt. v. 19. Januar 1984 - 4 StR 742/83, insoweit in NStZ 1984, 328 nicht abgedruckt; BGHSt 14, 213, 216; 16, 200, 203). Der Tod des Opfers ist hier nicht sofort eingetreten.
2. Waren die weiteren vier Stiche jedoch für den Tod des Opfers mitursächlich, ist die Rechtslage anders zu beurteilen.
Zutreffend weist die Staatsanwaltschaft darauf hin, daß dann statt gefährlicher Körperverletzung (§ 224 StGB) Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) anzunehmen wäre, da der Verwirklichung der Körperverletzung die tatbestandsspezifische Gefahr anhaftete, die sich im tödlichen Ausgang unmittelbar niedergeschlagen hat. Gerade die zahlreichen Verletzungen haben dann zum Tod durch Verbluten geführt.
Bei dieser Fallkonstellation käme weiter auch versuchter Totschlag durch Unterlassen in Betracht.
Die Garantenstellung wurde dann durch die weiteren – pflichtwidrigen – Stiche, die mitursächlich für den Tod und damit gefahrerhöhend waren, begründet. Daß der Tod unvermeidbar war, legt, da der Angeklagte seine Garantenpflicht erkannte, eine Rettung für möglich hielt und den Tod des Opfers gleichwohl billigend in Kauf nahm, die Annahme eines versuchten Tötungsdeliktes nahe.
Zwar verpflichtet das Recht auch denjenigen nicht zu sinnlosem Tun, der aufgrund einer Garantenstellung gehalten ist, einen bestimmten Erfolg abzuwenden; aber nur die sicher voraussehbare Erfolglosigkeit eines Rettungsbemühens läßt die Handlungspflicht entfallen (vgl. u.a. BGHR StGB § 13 Abs. 1 - Zumutbarkeit 1 = NStZ 1994, 29 = NJW 1994, 1357 = JR 1994, 510 mit Anm. Loos). Hier war die Erfolglosigkeit zumutbarer Hilfsmaßnahmen des Angeklagten (z.B. telefonische Benachrichtigung von Polizei/Notarzt) nicht sicher vorauszusehen; er selbst hielt demgemäß eine Rettung auch für möglich.
Das vorsätzliche Unterlassen von Hilfsmaßnahmen ist aber nur dann als vollendete Tat strafbar, wenn festgestellt wird, daß der Angeklagte durch das Ergreifen solcher Maßnahmen den Erfolg hätte verhindern können; denn nur dann kann das Unterlassen für den Erfolgseintritt ursächlich geworden sein (vgl. u.a. BGHR StGB § 13 Abs. 1 Brandstiftung 1; BGH StV 1984, 247 m.w.N.).
Deshalb kommt hier nur der Versuch eines Tötungsdeliktes (durch Unterlassen) in Betracht. Der Versuch eines unechten Unterlassungsdeliktes ist strafbar (vgl. BGHSt 38, 356, 358 m.w.N.). Ob in Fällen des Unterlassens der „untaugliche Versuch” strafbar ist, ist jedenfalls im Schrifttum für Einzelfälle umstritten (vgl. die Hinweise in BGHSt 38, 356, 359). Der Senat hat in seinem Beschluß vom 16. Juli 1993 - 2 StR 294/93 (= NStZ 1994, 29) bereits entschieden, daß in vergleichbaren Fällen ein strafbarer untauglicher Versuch gegeben sein kann. Hieran ist festzuhalten.
3. Da demgemäß der Schuldspruch auf den widersprüchlichen Feststellungen beruht, hat der Senat das angefochtene Urteil mit den Feststellungen aufgehoben.
Nach Sachlage ist nicht auszuschließen, daß in einer neuen Hauptverhandlung rechtsfehlerfrei festgestellt wird, daß auch die weiteren Stiche mitursächlich für den Tod des Opfers waren, zumal da es nahe liegt, daß die vier wuchtigen Stiche, die zu blutenden Verletzungen des Opfers führten, für einen Tod aufgrund massiven Blutverlustes mitursächlich waren.
Der Senat vermag weiter nicht auszuschließen, daß ein neuer Tatrichter andere Feststellungen über die Reihenfolge der Stiche treffen kann. Dies wäre für die Beurteilung der Notwehrlage von Bedeutung. Deshalb hat der Senat die Feststellungen insgesamt aufgehoben.
Unterschriften
Jähnke, Niemöller, Bode, Otten, Rothfuß
Fundstellen
Haufe-Index 540389 |
NStZ 2000, 414 |
JA 2001, 191 |
Kriminalistik 2001, 313 |
StV 2001, 616 |
LL 2000, 810 |