Leitsatz (amtlich)

Zur Erkennbarkeit des Willens des Berufungsklägers zur Fortsetzung des Verfahrens als Voraussetzung für die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ohne Antrag gem. § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ZPO.

 

Normenkette

ZPO § 236 Abs. 2 S. 2 Hs. 2

 

Verfahrensgang

OLG Stuttgart (Urteil vom 24.04.2012; Aktenzeichen 12 U 113/11)

LG Stuttgart (Urteil vom 15.06.2011; Aktenzeichen 9 O 244/10)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 12. Zivilsenats des OLG Stuttgart vom 24.4.2012 aufgehoben.

Dem Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Rz. 1

Die Klägerin nimmt den beklagten Rechtsanwalt auf Rückzahlung von Treuhandgeld in Anspruch, das dieser im Rahmen eines Vergleichsverfahrens erhalten hatte.

Rz. 2

Das LG hat den Beklagten zur Zahlung von 9.848,23 EUR verurteilt. Gegen das ihm am 28.6.2011 zugestellte Urteil hat der Beklagte, der sich vor dem LG selbst vertreten hat, am 8.7.2011 Berufung eingelegt. Das Berufungsgericht hat den Beklagten mit Beschluss vom 5.8.2011 wegen eines gegen ihn am 31.7.2010 verhängten Vertretungsverbotes nach § 156 Abs. 2 BRAO als Prozessbevollmächtigten zurückgewiesen. Zugleich hat es festgestellt, dass der Rechtsstreit durch die Zurückweisung gem. § 244 Abs. 1 ZPO unterbrochen sei. Mit Verfügung vom 25.8.2011 hat es dem Beklagten gem. § 244 Abs. 2 ZPO aufgegeben, einen neuen Anwalt zu bestellen. Nach Ablauf der - antragsgemäß einmal verlängerten - hierfür gesetzten Frist hat das Berufungsgericht mit Verfügung vom 28.9.2011 darauf hingewiesen, dass das Verfahren mit dem Ablauf der Frist gem. § 244 Abs. 2 Satz 2 ZPO als aufgenommen anzusehen sei. Auf Antrag des neuen Verfahrensbevollmächtigten des Beklagten vom 28.11.2011 hat das Berufungsgericht mit Verfügung vom 30.11.2011 die Berufungsbegründungsfrist bis zum 28.12.2011 verlängert. An diesem Tag ist die Berufungsbegründung beim Berufungsgericht eingegangen. Mit dem Beklagten am 24.1.2012 zugegangener Verfügung vom 18.1.2012 hat das Berufungsgericht den Beklagten darauf hingewiesen, dass noch geprüft werden müsse, ob die Berufung zulässig sei. Da ein amtlich bestellter Vertreter des Beklagten vorhanden gewesen sei, könne es an den Voraussetzungen von § 244 ZPO fehlen. Der Beklagte hat auf diesen Hinweis nicht reagiert. Das Berufungsgericht hat daraufhin nach mündlicher Verhandlung die Berufung durch Urteil als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die vom Senat zugelassene Revision des Beklagten.

 

Entscheidungsgründe

Rz. 3

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und - unter Wiedereinsetzung des Beklagten in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist - zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

Rz. 4

Über das Rechtsmittel ist antragsgemäß durch Versäumnisurteil zu entscheiden. Das Urteil beruht aber inhaltlich nicht auf der Säumnis der Klägerin, sondern auf der Berücksichtigung des gesamten Sach- und Streitstands (vgl. z.B. BGH, Urt. v. 18.1.2007 - III ZR 44/06, NJW-RR 2007, 621 Rz. 6; BGH, Urt. v. 4.4.1962 - V ZR 110/60, BGHZ 37, 79 [81 ff.]).

I.

Rz. 5

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die erst am 28.12.2011 erfolgte Begründung der Berufung sei verfristet, da die Berufungsbegründungsfrist mit Ablauf des 28.8.2011 geendet habe. Der Rechtsstreit sei nicht am 5.8.2011 durch die Zurückweisung des Beklagten als Prozessbevollmächtigten gem. § 244 ZPO unterbrochen worden, da für den Beklagten ab 17.3.2011 ein allgemeiner Vertreter bestellt gewesen sei. Der Antrag des Beklagten auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist sei erst am 28.11.2011 gestellt und bewilligt worden. Nach Ablauf der Begründungsfrist habe diese aber nicht mehr wirksam verlängert werden können.

Rz. 6

Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist lägen nicht vor. Zwar sei die Versäumung der Begründungsfrist angesichts der Hinweise des Berufungsgerichts entschuldbar gewesen. Der Beklagte habe jedoch nicht innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO Wiedereinsetzung beantragt. Diese Frist habe mit dem Hinweis des Berufungsgerichts vom 18.1.2012 zu laufen begonnen, weil der Beklagte ab diesem Zeitpunkt habe erkennen können, dass die Voraussetzungen einer Unterbrechung möglicherweise nicht gegeben gewesen sein könnten und die Berufung daher unzulässig sein könne. Auf den Hinweis vom 18.1.2012 habe der Beklagte nicht reagiert. Er habe auch nicht konkludent Wiedereinsetzung beantragt.

Rz. 7

Für eine Wiedereinsetzung ohne Antrag nach pflichtgemäßem Ermessen gem. § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO sei kein Raum. Voraussetzung hierfür sei, dass das Gericht erkennen könne, dass das Verfahren trotz der Fristversäumnis fortgesetzt werden solle. Daran fehle es, wenn - wie hier - die Partei nach Mitteilung der Tatsachen, aus denen die Fristversäumnis erkenntlich sei, innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 ZPO untätig bleibe.

II.

Rz. 8

Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die versäumte Berufungsbegründungsfrist ohne Antrag gem. § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ZPO verneint:

Rz. 9

1. Der Beklagte hat die Berufungsbegründungsfrist nach § 520 Abs. 2 ZPO versäumt.

Rz. 10

Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass - abweichend von seinem Hinweis vom 5.8.2011 - das Berufungsverfahren nicht gem. § 244 ZPO unterbrochen war.

Rz. 11

Ebenfalls zutreffend hat es angenommen, dass - entgegen seinem weiteren Hinweis vom 28.9.2011 und der von ihm mit Verfügung vom 30.11.2011 bis zum 28.12.2011 gewährten Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist - die am 28.12.2011 eingegangene Berufungsbegründung nicht mehr fristgerecht erfolgte, da das Verfahren nicht gem. § 244 ZPO unterbrochen war, die Begründungsfrist somit am 28.8.2011 abgelaufen war und eine wirksame Verlängerung nicht erfolgen konnte, weil der entsprechende Antrag des Beklagten erst nach Fristablauf, nämlich am 28.11.2011 bei Gericht einging (vgl. BGH, Beschl. v. 18.3.1982 - GSZ 1/81, BGHZ 83, 217 [221]; v. 17.12.1991 - VI ZB 26/91, BGHZ 116, 377 ff.).

Rz. 12

2. Dem Beklagten war jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gem. § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ZPO zu gewähren.

Rz. 13

a) Zutreffend ist die Annahme des Berufungsgerichts, dass die Versäumung der Begründungsfrist durch den Beklagten entschuldbar i.S.v. § 233 ZPO ist, weil sie durch die fehlerhaften Hinweise des Berufungsgerichts auf die Unterbrechung des Verfahrens gem. § 244 ZPO verursacht wurde (vgl. zum Gerichtsfehler als Ursache für die Fristversäumung BGH, Beschl. v. 16.10.2003 - IX ZB 36/03, WM 2003, 2478 [2479]; Gehrlein in MünchKomm/ZPO, 4. Aufl., § 233 Rz. 48). Hierauf konnte der Beklagte ohne weitere Nachprüfung vertrauen.

Rz. 14

b) Nicht zu beanstanden ist schließlich die Feststellung des Berufungsgerichts, dass der Beklagte keinen Wiedereinsetzungsantrag gestellt hat.

Rz. 15

c) Dem Beklagten war jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die versäumte Berufungsbegründungsfrist von Amts wegen gem. § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ZPO zu gewähren.

Rz. 16

aa) Eine Nachholung der versäumten Prozesshandlung gem. § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 ZPO war vorliegend entbehrlich, weil diese, wenn auch verspätet, bereits vor Beginn der Wiedereinsetzungsfrist vorgenommen worden war (vgl. hierzu BGH, Urt. v. 26.1.1978 - VII ZB 20/77, VersR 1978, 449; Gehrlein in MünchKomm/ZPO, a.a.O., § 236 Rz. 14; Musielak/Grandel, ZPO, 9. Aufl., § 236 Rz. 6).

Rz. 17

bb) Das Berufungsgericht hat dennoch eine Wiedereinsetzung gem. § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ZPO abgelehnt, weil der Beklagte innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist des § 234 Abs. 1 ZPO untätig geblieben sei und damit für das Gericht nicht - wie erforderlich - erkennbar geworden sei, ob das Verfahren fortgesetzt werden solle. Diese Bewertung hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand:

Rz. 18

(1) Es kann dahinstehen, ob und in welchem Umfang die Entscheidung, ob Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ZPO zu gewähren ist, im - nur einer beschränkten Nachprüfung des Revisionsgerichts unterliegenden - Ermessen des Gerichts liegt (vgl. BGH, Beschl. v. 29.9.1986 - AnwZ (B) 26/86, BRAK 1987, 90, 91; BAG NJW 1989, 2708; s. demgegenüber etwa Musielak/Grandel, a.a.O., § 236 Rz. 8; Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 236 Rz. 5). Nachprüfbar ist in jedem Fall, ob das Berufungsgericht im Rahmen seines Ermessens alle wesentlichen festgestellten Tatsachen berücksichtigt hat (vgl. BGH, Beschl. v. 15.1.1992 - XII ZB 135/91, NJW 1992, 1513 für die Ermessensvorschrift des § 3 ZPO; allgemein: Krüger in MünchKomm/ZPO, 4. Aufl., § 546 Rz. 14).

Rz. 19

(2) Letzteres ist vorliegend nicht der Fall. Das vom Berufungsgericht zur Begründung seiner Entscheidung herangezogene Erfordernis der Erkennbarkeit des Fortsetzungswillens der Partei, die die Frist versäumt hat, entspricht zwar der Rechtsprechung des BGH und des BAG (BGH, Beschl. v. 29.9.1986, a.a.O.; BAG, a.a.O., S. 2709; Gehrlein in MünchKomm/ZPO, a.a.O., § 236 Rz. 16; Musielak/Grandel, a.a.O., Rz. 8). Der Fortsetzungswille des Beklagten war jedoch aufgrund der besonderen Umstände des Falles auch ohne seine erneute Bekräftigung für das Berufungsgericht ohne Weiteres erkennbar. Eine Gefahr, dem Säumigen die Wiedereinsetzung aufzudrängen (vgl. BAG, a.a.O.), bestand nicht. Vielmehr ließen sämtliche Handlungen des Beklagten, insb. die vermeintlich fristgerecht am letzten Tag der verlängerten Begründungsfrist eingereichte Berufungsbegründung, auf den erforderlichen Fortsetzungswillen schließen. Da ein Wiedereinsetzungsgrund offensichtlich gegeben war, konnte die Versäumung der Begründungsfrist allein an dem Fortsetzungswillen keine vernünftigen Zweifel wecken. Angesichts der sehr zurückhaltenden Formulierung des Berufungsgerichts in seinem Hinweis vom 18.1.2012 war eine Reaktion des Beklagten hierauf nicht geboten. Aus ihrem Fehlen konnte nicht auf seinen mangelnden Fortsetzungswillen geschlossen werden. Eher konnte der Beklagte darauf vertrauen, zunächst eine weitere Mitteilung des Berufungsgerichts über das Ergebnis der angekündigten Prüfung zu erhalten, bevor ernsthaft von einer Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auszugehen war.

Rz. 20

Es war mithin ermessensfehlerhaft, zur Feststellung des Fortsetzungswillens noch ein erkennbares Zeichen und Tätigwerden des Beklagten zu erwarten. Die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung gem. § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ZPO lagen vielmehr auch ohne eine solche Bekräftigung seines Fortsetzungswillens vor.

Rz. 21

3. Dem Beklagten ist somit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu gewähren. Diese Entscheidung kann das Revisionsgericht selbst treffen (BGH, Beschl. v. 8.10.1992 - V ZB 6/92, VersR 1993, 713 [714]). Die Wiedereinsetzung hat zur Folge, dass das angefochtene Urteil, durch das die Berufung als unzulässig verworfen worden ist, gegenstandslos wird (BGH, Beschl. v. 8.10.1986 - VIII ZB 41/84, BGHZ 98, 325 [328 m.w.N.] und vom 8.10.1992, a.a.O.). Zur Klarstellung ist das Berufungsurteil dennoch aufzuheben (BGH, Beschl. v. 8.10.1992, juris Rz. 6, insoweit in VersR 1993, 713 nicht abgedruckt).

Zugleich ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 3657342

EBE/BGH 2013

NJW-RR 2013, 692

JZ 2013, 231

MDR 2013, 672

GuT 2013, 138

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