Leitsatz (amtlich)
Die in einer privaten Krankenversicherung enthaltene Tarifbedingung, nach der Leistungen des Versicherers für psychotherapeutische Behandlungen auf 30 Sitzungen (oder 30 stationäre Behandlungstage) während der Vertragsdauer beschränkt werden, ist unwirksam.
Normenkette
AGBG § 9
Verfahrensgang
KG Berlin (Aktenzeichen 6 U 8228/97) |
LG Berlin (Aktenzeichen 7 O 538/96) |
Tenor
Auf die Rechtsmittel des Klägers werden das Urteil des 6. Zivilsenats des Kammergerichts in Berlin vom 12. Mai 1998 aufgehoben und das Urteil der Zivilkammer 7 des Landgerichts Berlin vom 30. September 1997 geändert.
Es wird festgestellt, daß die im Krankenversicherungsvertrag des Klägers mit dem Beklagten vom 30. Dezember 1980 (Versicherungsnummer: 0680969013) durch die Tarifklausel NIB Nr. 9 bestimmte Beschränkung der Leistungen des Beklagten für psychotherapeutische Behandlungen auf höchstens 30 Sitzungen (bzw. wenn stationär erforderlich auf 30 Tage) während der Vertragsdauer unwirksam ist.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger ist Pfarrer der evangelischen Kirche in B.. Er ist seit dem 1. Januar 1981 bei dem Beklagten mit einer Beihilfeergänzungsversicherung zum Tarif NIB 50b (50%ige Erstattung für ambulante Behandlung, stationäre Krankenhausbehandlung und zahnärztliche Behandlung) krankenversichert. Dem Versicherungsvertrag liegen Bedingungen (AVB) zugrunde, die im wesentlichen den Musterbedingungen des Verbandes der privaten Krankenversicherung aus dem Jahre 1976 (MB/KK 76) - VerBAV 76, 437 - entsprechen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist in § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB – und damit insoweit ergänzend zu den MB/KK 76 – bestimmt:
„Leistungen für psychotherapeutische Behandlungen werden im tariflichen Rahmen erbracht, wenn der Versicherer diese vor Beginn der Behandlung schriftlich zugesagt hat.”
Die Bedingungen des Tarifs NIB enthalten hierzu folgende Regelung:
„9. Psychotherapeutische Behandlungen nach vorheriger Genehmigung (Genehmigung wird erteilt für höchstens 30 Sitzungen bzw. wenn stationär erforderlich 30 Tage während der Vertragsdauer.) Nach Erreichung der tariflichen Höchstleistung kann eine weitere Kostenbeteiligung vom Vorstand genehmigt werden. Voraussetzung für eine freiwillige Leistungszusage ist die Beibringung des Nachweises, daß durch die Psychotherapie eine Krankheit im Sinne der Musterbedingungen geheilt oder nachhaltig gebessert werden kann. Die Dauer der geplanten Behandlung sowie die entstehenden Kosten müssen angegeben sein.”
Der Kläger hatte sich bereits 1991 einer stationären psychotherapeutischen Behandlung mit 49 Behandlungstagen unterzogen; an diese schloß sich eine ambulante psychotherapeutische Behandlung mit 30 Sitzungen an. Die dafür entstandenen Aufwendungen erstattete der Beklagte zu 50%. Im November 1995 begehrte der Kläger eine Leistungszusage des Beklagten für eine weitere (medizinisch notwendige) psychotherapeutische Behandlung. Der Beklagte lehnte diese ab, weil die tariflich zugesagten Leistungen bereits durch die früheren Behandlungen ausgeschöpft worden seien.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die sich aus der Tarifbedingung NIB Nr. 9 ergebende Leistungsbeschränkung auf 30 Sitzungen/Behandlungstage während der gesamten Vertragsdauer sei unwirksam. Diese Klausel stelle sich als für den Versicherungsnehmer ungewöhnlich und überraschend dar; sie benachteilige ihn unangemessen.
Das Landgericht hat seine auf die Feststellung gerichtete Klage, die Beschränkung der Leistungen für psychotherapeutische Behandlungen auf 30 Sitzungen/Behandlungstage während der Vertragsdauer sei nicht Vertragsbestandteil geworden, abgewiesen. Die Berufung ist erfolglos geblieben. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Das Rechtsmittel des Klägers hat Erfolg. Seiner Feststellungsklage ist stattzugeben. Die durch die Tarifklausel NIB Nr. 9 bestimmte Beschränkung der Leistungen des Beklagten für psychotherapeutische Behandlungen ist unwirksam.
I.
Mit Recht ist bereits das Berufungsgericht von der Zulässigkeit der Feststellungsklage ausgegangen. Der Beklagte hat die nach den Vertragsbedingungen (§ 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB) erforderliche Leistungszusage für eine – unstreitig – medizinisch notwendige psychotherapeutische Behandlung unter Hinweis auf die Erschöpfung der tariflich nur eingeschränkt zugesagten Leistungen (NIB Nr. 9) abgelehnt. Damit steht weder in Frage, daß die Klage ein gegenwärtiges Rechtsverhältnis (dazu Senatsurteil vom 23. September 1987 - IVa ZR 59/86 - VersR 1987, 1107) betrifft, noch bestehen Zweifel am erforderlichen Feststellungsinteresse des Klägers. Denn bei Unwirksamkeit der tariflichen Leistungsbeschränkung – die der Kläger geltend macht – kann der Beklagte eine Leistungszusage nicht deshalb ablehnen, weil sich der Kläger bereits zuvor einer psychotherapeutischen Behandlung von mehr als 30 Sitzungen/Behandlungstagen unterzogen hat.
Der Feststellungsantrag ist dahin auszulegen, daß mit ihm die Feststellung der Unwirksamkeit der tariflichen Leistungsbeschränkung begehrt wird. Sein an einem Verstoß gegen § 3 AGBG ausgerichteter Wortlaut steht dem nicht entgegen, weil sich der Kläger zu seiner Begründung auch auf die Unwirksamkeit der Regelung nach § 9 AGBG gestützt hat.
II.
Der Feststellungsantrag ist auch begründet.
1. a) Der Umfang des dem Kläger in der hier vorliegenden Krankheitskostenversicherung zu gewährenden Versicherungsschutzes ergibt sich aus seinem mit dem Beklagten geschlossen Versicherungsvertrag, den zugrunde liegenden Versicherungsbedingungen, den diese ergänzenden Tarifen mit Tarifbedingungen sowie aus gesetzlichen Vorschriften (§ 1 Abs. 3 AVB). Daraus folgt hier: Nach § 1 Abs. 1 a AVB gewährt der Versicherer im Versicherungsfall („medizinisch notwendige Heilbehandlung einer versicherten Person wegen Krankheit oder Unfallfolgen” - § 1 Abs. 2 Satz 1 AVB) Ersatz von Aufwendungen für die Heilbehandlung und sonst vereinbarte Leistungen; Art und Höhe der Versicherungsleistungen ergeben sich nach § 4 Abs. 1 AVB aus dem vereinbarten Tarif – hier NIB 50b – mit seinen Tarifbedingungen. Was psychotherapeutische Behandlungen anlangt, bindet § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB Versicherungsleistungen zudem an eine schriftlich Zusage vor Beginn der Behandlung und schränkt mit der Regelung unter Nr. 9 des Tarifs NIB den Leistungsumfang für solche Behandlungen ein. Erst § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB und die Tarifbedingung NIB Nr. 9 geben demgemäß dem Anspruch des Versicherungsnehmers auf Ersatz von Aufwendungen für psychotherapeutische Behandlungen Gestalt; wegen dieses Zusammenhangs sind beide Klauseln in die Kontrolle anhand des AGB-Gesetzes einzubeziehen.
b) Der Bedingungskontrolle vorauszugehen hat eine Auslegung der jeweiligen Klausel, um Klarheit zu schaffen, welcher Inhalt der Klausel im einzelnen zu kontrollieren ist. Nach gefestigter Rechtsprechung des Senats sind allgemeine Versicherungsbedingungen – und dazu rechnen auch die Tarifbedingungen – so auszulegen, wie sie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer bei aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muß; dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit – auch – auf seine Interessen an (BGHZ 123, 83, 85).
aa) Wenn § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB Leistungen des Versicherers – also den Ersatz von Aufwendungen – für psychotherapeutische Behandlungen von einer Zusage vor Behandlungsbeginn abhängig macht, muß das der durchschnittliche Versicherungsnehmer dahin verstehen, daß es ohne Zusage keinen Versicherungsschutz für die genannten Behandlungen gibt. Der Anspruch auf Versicherungsschutz für die Behandlungen ist also zunächst ausgeschlossen, er wird erst durch die Zusage begründet. Die Klausel beschreibt damit eine Risikobegrenzung und schafft keine Obliegenheit des Versicherungsnehmers, denn die Regelung zielt nicht auf die Entziehung bereits zugesagten Versicherungsschutzes infolge eines Verhaltens des Versicherungsnehmers (vgl. zu § 4 Nr. 5 MB/KK 94: Prölss in Prölss/Martin, VVG 26. Aufl. MB/KK 94 § 4 Nr. 5 Rdn. 36; OLG Hamm VersR 1992, 687).
Unter welchen Voraussetzungen der Versicherer die Zusage erteilt, ist der Klausel zwar nicht unmittelbar zu entnehmen, jedoch aus ihrem Zusammenhang mit dem übrigen Regelungswerk und ihrem auch dem Versicherungsnehmer erkennbaren Sinn und Zweck zu erschließen. Das vom Versicherer mit § 1 Abs. 1 a AVB umfassend gegebene Leistungsversprechen („Ersatz von Aufwendungen für Heilbehandlung …”) setzt den Eintritt des Versicherungsfalles voraus, also eine medizinisch notwendige Heilbehandlung wegen Krankheit oder Unfallfolgen (§ 1 Abs. 2 Satz 1 AVB). Aus § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB ergibt sich für den Versicherungsnehmer nicht, daß es sich bei der von der Klausel erfaßten psychotherapeutischen Behandlung etwa nicht um eine Heilbehandlung im vorgenannten Sinne handeln und deshalb eine – sonst nicht erforderliche – Zusage des Versicherers zur Leistungsvoraussetzung gemacht worden sein könnte. Bleiben demnach die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen auch im Rahmen des § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB unangetastet, kann die dennoch erforderliche Zusage nur deshalb zur Voraussetzung der Gewährung von Versicherungsleistungen bestimmt worden sein, weil sich der Versicherer gerade hinsichtlich dieser allgemeinen Leistungsvoraussetzungen eine Prüfungsmöglichkeit vor Eintritt des Versicherungsfalles – also vor Beginn der Behandlung – sichern wollte, also etwa hinsichtlich des Vorliegens einer Krankheit oder der medizinischen Notwendigkeit der konkreten Art der Behandlung. Erschließt sich der Sinn der Vorabzusage aber in einer solchen Prüfung, sind die Voraussetzungen einer Zusage dann gegeben, wenn sich die beabsichtigte psychotherapeutische Behandlung im Zeitpunkt der Zusage als medizinisch notwendige Heilbehandlung wegen Krankheit oder Unfallfolgen darstellt (vgl. auch Prölss, aaO § 4 MB/KK 94 Rdn. 3).
bb) Die Tarifbedingung NIB Nr. 9 knüpft schon mit ihrer Überschrift an § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB an, denn sie betrifft danach psychotherapeutische Behandlungen „nach vorheriger Genehmigung”. Unbeschadet des hier verwendeten Begriffs „Genehmigung” wird der Versicherungsnehmer, der bereits § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB zur Kenntnis genommen hat, mit dem Zusatz „vorherige” wiederholend darauf hingewiesen, daß Leistungen des Versicherers für die genannten Behandlungen eine Zusage vor Behandlungsbeginn voraussetzen.
Der sich anschließende Klammerzusatz („Genehmigung wird erteilt für höchstens 30 Sitzungen bzw. wenn stationär erforderlich 30 Tage während der Vertragsdauer”) beschreibt eine dem Versicherungsnehmer ohne weiteres erkennbare Leistungshöchstgrenze für die gesamte Laufzeit des Versicherungsvertrages. Ein Anspruch auf Versicherungsleistungen besteht danach – auch nach einer Leistungszusage – nur bis zur Ausschöpfung von 30 Sitzungen/Behandlungstagen, selbst wenn es sich danach weiterhin oder erneut als notwendig erweisen sollte, zur Behandlung einer Krankheit oder von Unfallfolgen eine psychotherapeutische Behandlung fort- oder durchzuführen. Denn dem weiteren Inhalt der Klausel entnimmt der Versicherungsnehmer, daß eine darüber hinausgehende Kostenbeteiligung zwar genehmigt werden „kann”, es sich in diesem Falle aber lediglich um eine „freiwillige Leistungszusage” handelt, auf die der Versicherungsnehmer demgemäß keinen Anspruch hat. Das wird auch durch den Folgesatz nicht in Frage gestellt, wenngleich darin bestimmte Voraussetzungen einer freiwilligen Zusage benannt werden. Denn auch bei Erfüllung dieser Voraussetzungen bleibt es bei der Freiwilligkeit der Leistungszusage und damit der freien Entscheidung des Versicherer überlassen, ob er eine weitere Kostenbeteiligung bei psychotherapeutischen Behandlungen zusagt oder diese verweigert.
2. a) Das Berufungsgericht ist der Auffassung, die Tarifbedingung NIB Nr. 9 sei durch § 8 AGBG einer Prüfung an §§ 9-11 AGBG entzogen; als Kontrollmaßstab komme deshalb allein § 3 AGBG in Betracht. Mit der Klausel NIB Nr. 9 sei keine von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelung vereinbart worden. Sie lege vielmehr, indem sie bestimmte Risiken vom Versicherungsschutz ausnehme, die vertragliche Leistungspflicht des Beklagten fest. Dem ist nicht zu folgen.
b) Allerdings trifft es zu, daß § 8 AGBG die Inhaltskontrolle nach §§ 9-11 AGBG auf Klauseln beschränkt, die von Rechtsvorschriften abweichen oder diese ergänzen. Die Vorschrift soll, so die Begründung des Regierungsentwurfs, weder eine Kontrolle der Preise oder Leistungsangebote ermöglichen, noch sollen Vorschriften anderer Gesetze modifiziert werden (BT-Drucks. 7/3919, S. 22). Da das Gesetz den Vertragspartnern grundsätzlich freistellt, Leistung und Gegenleistung im Vertrag frei zu bestimmen, unterliegen bloße Abreden über den unmittelbaren Gegenstand der Hauptleistung (Leistungsbeschreibung) der gesetzlichen Inhaltskontrolle nach dem AGB-Gesetz ebensowenig wie Vereinbarungen über das von dem anderen Teil zu erbringende Entgelt (BGHZ 93, 358, 360 m.w.N.). Der gerichtlichen Inhaltskontrolle entzogene Leistungsbeschreibungen sind solche, die Art, Umfang und Güte der geschuldeten Leistung festlegen. Klauseln, die das Hauptleistungsversprechen einschränken, verändern, ausgestalten oder modifizieren, sind hingegen inhaltlich zu kontrollieren. Damit verbleibt für die der Überprüfung entzogene Leistungsbeschreibung nur der enge Bereich der Leistungsbezeichnungen, ohne deren Vorliegen mangels Bestimmtheit oder Bestimmbarkeit des wesentlichen Vertragsinhalts ein wirksamer Vertrag nicht mehr angenommen werden kann (ständige Rechtsprechung vgl. BGHZ 123, 83, 84; 127, 35, 41 m.w.N.). Zu diesem engen Bereich gehört die Tarifbedingung NIB Nr. 9 nicht; gleiches gilt für § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB.
c) Nach § 1 Abs. 1 a AVB bietet der Beklagte Versicherungsschutz für Krankheiten, Unfälle und andere im Vertrag genannte Ereignisse; er gewährt in der Krankheitskostenversicherung Ersatz von Aufwendungen für Heilbehandlung. Bereits damit hat der Beklagte das Hauptleistungsversprechen in der Krankheitskostenversicherung so beschrieben, daß der wesentliche Vertragsinhalt bestimmt werden kann (vgl. auch BGHZ 123, 83, 84); diese Leistungsbeschreibung reicht aus, um einen wirksamen Vertrag anzunehmen. Dagegen gehören weder § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB noch die Tarifbedingung NIB Nr. 9 zu jenem kontrollfreien Minimum, ohne das dem Vertrag ein so wesentlicher Bestandteil fehlte, daß ihm die Wirksamkeit zu versagen wäre. § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB modifiziert den Anspruch auf Versicherungsschutz in einschränkender Weise, indem der Ersatz von Aufwendungen für eine bestimmte Art der Heilbehandlung – die psychotherapeutische Behandlung – an eine Leistungszusage vor Behandlungsbeginn gebunden wird. Die Tarifbedingung NIB Nr. 9 schränkt das mit § 1 Abs. 1 a AVB gegebene Hauptleistungsversprechen in Anknüpfung an § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB weiter ein. Denn mit dieser Bestimmung wird zusätzlich eine Höchstleistungsgrenze für die Erstattung von Aufwendungen für psychotherapeutische Behandlungen geschaffen; die „Genehmigung” wird nur für 30 Sitzungen/Behandlungstage während der Vertragsdauer erteilt.
3. Die Bestimmung des § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB verstößt nicht gegen § 3 AGBG; sie hält auch einer Inhaltskontrolle nach § 9 AGBG stand.
a) Überraschende Klauseln i.S. von § 3 AGBG liegen dann vor, wenn ihnen ein Überrumpelungseffekt innewohnt. Sie müssen eine Regelung enthalten, die von den Erwartungen des Vertragspartners deutlich abweicht und mit der dieser den Umständen nach vernünftigerweise nicht zu rechnen braucht (BGHZ 109, 197, 201). § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB enthält eine solche Regelung nicht. Zwar umschreibt das mit § 1 Abs. 1 a AVB gegebene Hauptleistungsversprechen („… Ersatz von Aufwendungen für Heilbehandlung …”) einen weitgesteckten Leistungsrahmen. Gerade deshalb aber wird auch der Versicherungsnehmer davon ausgehen, daß dieses Leistungsversprechen der näheren Ausgestaltung bedarf, die auch Einschränkungen nicht ausschließt. Auf eine solche Ausgestaltung wird er zudem mit § 4 AVB („Umfang der Leistungspflicht”) ausdrücklich hingewiesen. Daß sich hierunter mit § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB auch eine Einschränkung findet, die Versicherungsleistungen für eine bestimmte Behandlungsart an die vorherige Zusage durch den Versicherer knüpft, ist weder überraschend noch weicht es so weit von den Erwartungen des Versicherungsnehmers ab, daß von einer Überrumpelung gesprochen werden könnte. Das gilt zumal deshalb, weil sich dem Versicherungsnehmer der Sinn und Zweck der erforderlichen Zusage dahin erschließt, dem Versicherer lediglich eine (Vorab-)Prüfung zu ermöglichen, ob sich die beabsichtigte psychotherapeutische Behandlung als zur Behandlung einer Krankheit oder Unfallfolge medizinisch notwendig darstellt.
b) Im Hinblick auf diesen Sinn und Zweck der Klausel ist auch ein Verstoß gegen § 9 AGBG nicht festzustellen. Der Versicherer hat sich mit ihr kein ungebundenes Entscheidungsrecht über die Zusage von Versicherungsleistungen ausbedungen (vgl. auch Prölss, aaO § 4 MB/KK 94 Rdn. 3). Die Voraussetzungen einer Zusage sind vielmehr – wie bereits unter II. 1. b) aa) ausgeführt – stets dann gegeben, wenn sich die psychotherapeutische Behandlung im Zeitpunkt der Entscheidung über die Zusage als medizinisch notwendige Heilbehandlung wegen Krankheit oder Unfallfolgen darstellt. Die dem Versicherer damit verschaffte, an die Kriterien des § 1 Abs. 2 Satz 1 AVB gebundene Vorprüfungsmöglichkeit führt zur keiner wesentlichen Beeinträchtigung der Rechte des Versicherungsnehmers. Sie ist vielmehr geeignet, Streitigkeiten vorzubeugen, die sich sonst erst beim vom Versicherungsnehmer zu führenden Beweis des Eintritts des Versicherungsfalles ergeben könnten. Die Klausel trägt damit der von ihr erfaßten besonderen Art der Heilbehandlung Rechnung, innerhalb derer es unterschiedliche Behandlungs- und Anwendungsformen je nach Art der Erkrankung gibt (vgl. etwa die Angaben in den „Psychotherapierichtlinien” vom 3. Juli 1987 - BAnz. Nr. 156 vom 25. August 1987, geändert durch Beschluß vom 17. Dezember 1992 - BAnz. Nr. 49 vom 12. März 1993) und die schon deshalb eine vorherige Abstimmung zwischen den Parteien des Versicherungsvertrages über die zu erbringenden Versicherungsleistungen nahelegt (vgl. auch Bach/Moser, Private Krankenversicherung, 2. Aufl. MB/KK § 4 Rdn. 11). Aus § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB ergibt sich daher weder eine Gefährdung des Vertragszwecks der hier vorliegenden Krankheitskostenversicherung (§ 9 Abs. 2 Nr. 2 AGBG) noch läßt die Klausel sonst eine unangemessene Benachteiligung des Versicherungsnehmers erkennen (§ 9 Abs. 1 AGBG).
4. a) Das Berufungsgericht nimmt an, die Tarifbedingung NIB Nr. 9 stelle keine überraschende Klausel i.S. des § 3 AGBG dar. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen.
In der Krankheitskostenversicherung, der – wie hier (abgesehen von § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB) der Fall – die Musterbedingung aus dem Jahre 1976 (MB/KK 1976) zugrunde liegen, führt bereits der Regelungszusammenhang der §§ 1 Abs. 1 a, Abs. 3, 4 Abs. 1 („Art und Höhe der Leistungen ergeben sich aus dem Tarif mit Tarifbedingungen”) dem Versicherungsnehmer deutlich vor Augen, daß sich zuverlässig erst aus den für das Versicherungsverhältnis maßgeblichen Tarifen mit Tarifbedingungen ersehen läßt, in welchen Fällen und in welchem Umfang Versicherungsschutz beansprucht werden kann. Der Versicherungsnehmer wird insoweit unmißverständlich auf die Bedeutung der Tarifbedingungen für seinen Versicherungsschutz hingewiesen (Senatsurteile vom 22. Mai 1991 - IV ZR 232/90 - VersR 1991, 911 unter 2 c; vom 14. Dezember 1994 - IV ZR 3/94 - VersR 1995, 328 unter II 3 a). Das gilt auch im vorliegenden Falle, soweit die Bedingung NIB Nr. 9 den Umfang des bei psychotherapeutischen Behandlungen versprochenen Versicherungsschutzes durch eine Höchstleistungsgrenze für die Vertragsdauer regelt. Auch der Umstand selbst, daß bei einer bestimmten Behandlungsart überhaupt eine Höchstgrenze für Versicherungsleistungen bestimmt worden ist, begründet noch keinen Verstoß gegen § 3 AGBG. Denn angesichts des durch § 1 Abs. 1 a AVB weitgesteckten Rahmens muß der Versicherungsnehmer vernünftigerweise ohnehin mit diesen modifizierenden, beschränkenden Einzelregelungen rechnen. Wenn dabei im Einzelfall auch eine deutlich beschriebene Höchstleistungsgrenze ausbedungen wird, ist das nicht so ungewöhnlich, daß darauf der Vorwurf einer „Überrumpelung” (BGHZ 109, 197, 201) gestützt werden könnte.
b) Die Tarifbedingung NIB Nr. 9 hält jedoch einer Inhaltskontrolle nach § 9 AGBG nicht stand, soweit sie eine Beschränkung der Leistungen des Beklagten für psychotherapeutische Behandlungen auf 30 Sitzungen/30 stationäre Behandlungstage während der Vertragsdauer bestimmt.
aa) In dieser Leistungsbeschränkung, nicht im lediglich wiederholenden Hinweis (vgl. § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB) auf die vor Behandlungsbeginn erforderliche Genehmigung des Beklagten, liegt der Regelungskern der Klausel. Sie schafft eine Leistungshöchstgrenze für die gesamte Laufzeit des Vertrages, nach deren Erreichen der Versicherungsnehmer auf freiwillige Leistungen des Versicherers angewiesen ist.
Ein Vertrag über eine Krankheitskostenversicherung ist regelmäßig auf lange Dauer angelegt. Das Recht des Versicherers zur Kündigung ist schon durch das Gesetz stark eingeschränkt (vgl. §§ 178 i, k VVG); die Möglichkeit des Versicherungsnehmers, den Versicherer zu wechseln, wird in zunehmendem Alter durch die damit regelmäßig verbundene höhere Prämienbelastung faktisch stark reduziert; der Versicherungsnehmer muß zudem damit rechnen, daß ihm der Abschluß eines neuen Versicherungsvertrages – wenn überhaupt – häufig nur unter Vereinbarung von Risikoausschlüssen für bereits bekannte gesundheitliche Risiken möglich sein wird. Deshalb kommt eine Beschränkung der Leistungspflicht, wie sie die Tarifbedingung NIB Nr. 9 bestimmt, in ihrer Auswirkung einem Leistungsausschluß nahe. Denn schon nach einer Behandlung, die zur Ausschöpfung der zugesagten Leistungen von 30 Sitzungen/Behandlungstagen führt, besteht ein Anspruch auf weitere Leistungen nicht mehr. Das gilt uneingeschränkt selbst in Fällen, in denen sich auch nach Erreichen der Leistungshöchstgrenze die Fortsetzung der Behandlung als zur Heilung einer Krankheit als medizinisch notwendig erweist; es gilt auch dann, wenn sich nach einer Behandlung – und sei es nach vielen Jahren – eine weitere Behandlung als medizinisch notwendig darstellt, etwa weil eine Erkrankung wieder auftritt oder der Versicherungsnehmer an einer anderen Krankheit oder einer Unfallfolge leidet. Eine solche Regelung führt zu einer so wesentlichen Beschränkung der Rechte des Versicherungsnehmers, daß die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist (§ 9 Abs. 2 Nr. 2 AGBG).
bb) Der Versicherungsnehmer bezweckt mit dem Abschluß eines Krankenversicherungsvertrages – soweit er Krankheitskosten betrifft – eine Abdeckung seines Kostenrisikos, das ihm durch die notwendige Behandlung von Krankheiten entsteht. Das schließt regelmäßig jede Art der Behandlung ein, wenn sie sich als zur Heilung oder Linderung einer Krankheit erforderlich erweist. Für die hier genommene Beihilfeergänzungsversicherung gilt nichts anderes; sie trägt lediglich der Besonderheit Rechnung, daß das genannte Kostenrisiko zu einem bestimmten Prozentsatz bereits anderweit abgedeckt ist. Der von dem Beklagten angebotene Krankenversicherungsvertrag trägt diesem Zweck auch Rechnung, denn er verspricht im Versicherungsfall („… medizinisch notwendige Heilbehandlung wegen Krankheit oder Unfallfolgen”) den Ersatz von Aufwendungen für Heilbehandlungen und sonst vereinbarte Leistungen (§ 1 Abs. 1 a AVB). Auch dieses Versprechen differenziert nicht nach der Art der Heilbehandlung; vom Zweck des Krankenversicherungsvertrages wird vielmehr die Erstattung der Kosten jeder Heilbehandlung – auch der psychotherapeutischen Behandlung – erfaßt, wenn sie sich als zur Behandlung einer Erkrankung als medizinisch notwendig erweist. § 4 Abs. 2 Nr. 4 d AVB ändert an dieser Einordnung nichts, er bestätigt sie vielmehr. Denn mit dieser Regelung nimmt der Versicherer den Ersatz von Aufwendungen für psychotherapeutische Behandlungen nicht grundsätzlich von seinem Leistungsversprechen aus; er bindet den Versicherungsschutz vielmehr lediglich an eine Leistungszusage vor Behandlungsbeginn.
Schließt der Vertragszweck der Krankheitskostenversicherung die Erstattung von Kosten der psychotherapeutischen Behandlung also grundsätzlich ein, hindert das zwar nicht jede auf eine solche Behandlung bezogene Einschränkung der Leistungen des Versicherers. Der Zweck des Vertrages wird aber in Frage gestellt, wenn der Versicherungsnehmer – wie hier – bereits deshalb von weiteren Leistungen für die gesamte Dauer des Vertrages – also möglicherweise für die Zeit seines Lebens – ausgeschlossen wird, weil er sich bereits einmal einer psychotherapeutischen Behandlung mit 30 Sitzungen/stationären Behandlungstagen unterzogen und dafür Leistungen des Versicherers erhalten hat. Eine solche Leistungsbegrenzung, die – anknüpfend an eine bestimmte Behandlungsart – trotz Eintritts des Versicherungsfalles jedwede Leistungen für die Folgezeit ausschließt, weil bei einem vorausgegangenen Versicherungsfall die genannte Höchstgrenze erreicht worden ist, greift in die durch § 1 Abs. 1 a AVB berechtigte Erwartung des Versicherungsnehmers auf Versicherungsschutz in erheblicher Weise ein. Sie löst sich zudem von dem durch § 1 AVB vorgegebenen Zusammenhang zwischen Eintritt des Versicherungsfalles und dem daran geknüpften Leistungsversprechen, das eine Kostenerstattung für psychotherapeutische Behandlungen grundsätzlich einschließt. Darin liegt ein so wesentlicher Eingriff in die Rechte des Versicherungsnehmers, daß der Vertragszweck gefährdet ist.
Die mit der Klausel geschaffene Möglichkeit, dem Versicherungsnehmer im Wege der freiwilligen Leistungszusage weitere Leistungen zukommen zu lassen, ändert an der den Vertragszweck gefährdenden Intensität der Einschränkung des Leistungsversprechens nichts. Sie gewährt dem Versicherungsnehmer keinen Rechtsanspruch auf weitere Leistungen. Die in der Klausel bezeichneten Voraussetzungen der weiteren Zusage beseitigen deren Freiwilligkeitscharakter nicht.
Unterschriften
Dr. Schmitz, Römer, Terno, Seiffert, Ambrosius
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 17.03.1999 durch Schick Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 538824 |
BB 1999, 1239 |
NWB 1999, 1428 |
EBE/BGH 1999, 165 |
EWiR 1999, 533 |
Nachschlagewerk BGH |
ZAP 1999, 549 |
ZBR 1999, 287 |
DÖD 1999, 210 |
MDR 1999, 1065 |
NVersZ 1999, 421 |
VersR 1999, 745 |
WRP 1999, 562 |
ZfJ 1999, 499 |
ZfS 1999, 393 |